„Das Kind braucht Luftveränderung“ (1) – über das Elend in deutschen Kinderkurheimen

Einsame Muschel (Skitterphoto/pixabay)

Der Fernsehbeitrag

Ich habe ein gutes Gedächtnis für alles, was sich in meiner Kindheit ereignet hat, und kann auch problemlos über meine Erlebnisse sprechen und schreiben. Trotzdem hat mich der Bericht in „Report Mainz“, den ich am 10. September zufällig sah, arg mitgenommen. Seitdem überflutet es mich, läßt mir keine Ruhe. Ja, es war furchtbar damals im Kindererholungsheim an der Ostsee. Aber offenbar längst nicht so furchtbar wie bei vielen anderen Betroffenen, wie ich inzwischen weiß. Bis zu dem Fernsehbeitrag habe ich mich tatsächlich für einen Einzelfall gehalten. Dieses Einzelschicksal war Teil meiner persönlichen Biografie. Nur ich musste in Kur, weil ich so kränklich und untergewichtig war und mir der Arzt frische Seeluft verordnet hatte. Dabei ging es damals tausenden anderen Kindern genauso! Ich war nur eine von vielen! Ich bin nicht allein mit diesen Erinnerungen!

Der Titel des Filmbeitrags faßt es gut zusammen: „Erniedrigung statt Erholung. Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden.“ Auf meinen fb Post melden sich spontan mehrere Freundinnen, die ganz ähnliche, größtenteils noch viel verstörendere Erfahrungen gemacht haben. Zumindest wurden wir in meiner Gruppe nicht geschlagen, uns wurde nicht der Mund zugeklebt, wir wurden nicht allein in dunkle Räume gesperrt, und ich habe während meines Aufenthalts auch nicht erlebt, dass jemand zwangsgefüttert wurde oder seine eigene Kotze essen musste (nachdem er oder sie sich aus mir sehr verständlichem Ekel vor dem Essen übergeben hatte). Auch andere Betroffene werden, sofern sie dies möchten, hier auf meiner Seite zu Wort kommen.

Spätsommer 1965 – meine „Kur“ an der Ostsee

Bei den Steinen am Strand (privat)

In meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“ (über (m)eine Kindheit in den 1960er Jahren) gibt es ein langes Kapitel über die endlosen sechs Wochen in der Lübecker Bucht. Seedorf heißt der Ort hier, und das Haus „Franziskushaus“, und ich habe der kleinen Marlies im Buch auch nicht all die Drangsalierungen zugemutet, die wir erdulden mussten. Zwei Leserinnen haben den wahren Schauplatz jedoch zu meiner Verwunderung schon vor Jahren korrekt identifiziert. „Das war das Antoniushaus in Niendorf, oder?“ Stimmt.

Ich hatte bei meinem Aufenthalt großes Glück, denn wir wurden nicht wie viele andere Kinder von den berüchtigten „Tanten“ betreut, sondern zumindest tagsüber von zwei jungen „Fräuleins“. An beide habe ich gute Erinnerungen. Sie waren freundlich und zugewandt. Es war Spätsommer, wir konnten viel draußen sein, auch wenn das Wasser zum Baden zu kalt war, wir fuhren mit dem Kutter aufs Meer und mit dem Bus nach Lübeck, machten Strandwanderungen, sammelten Muscheln und Schneckenhäuser, sangen Lieder aus der Mundorgel (die stressigen Kniebeugen bis zum Umfallen zu „Laurentia, liebe Laurentia mein“ gab es bei uns auch), saßen am letzten Abend am Lagerfeuer, sangen die deutsche Version von „Auld Langsyne“ (Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr….) und hielten uns an den Händen. Draußen war es schön. Die Ostsee und Lübeck liebe ich bis heute. Ich war vor einigen Jahren wieder in Niendorf und suchte das Heim. Ich war sehr aufgeregt, und beim Anblick des Gebäudes war mir äußerst mulmig. Es sieht heute so anders aus, dass ich es fast nicht erkannt hätte.

Die große Angst

Seesternerinnerungen (BFL)

Am Meer war ich gern, aber wir waren ja nicht die ganze Zeit draußen. Der Horror begann, sobald wir im Heim waren. Schon beim Betreten des Gebäudes packte mich die Angst. Riesenangst vor den Mahlzeiten (sogar vor den Tellern und den Blechkannen), schiere Panik vor den Nächten. Angst auch vor den Erwachsenen, vor allem vor den Nachtwachen. Angst zu sterben, meine Eltern nie wiederzusehen, schwer krank zu werden. Angst vor dem Aufenthaltsraum, in dem wir täglich eine Stunde schweigend still sitzen mussten, „Silentium“ nannte man das, Angst vor dem kalten Waschraum mit den vielen Becken, vor dem Ausziehen und Nacktsein vor anderen, besonders vor den gefühlt täglichen langen vor Scham frierenden Reihen im Flur (alle Mädchen mussten sich bis auf den Schlüpfer ausziehen, um dann fast nackt einem Arzt vorgeführt zu werden, der einem sogar gelegentlich in die Unterhose schaute, ob man vielleicht Blinddarmnarben hätte….), vor dem dauernden Wiegen (es wurde immer genau notiert, ob und wie viel wir zu- oder abgenommen hatten), Angst vor dem großen kahlen Schlafsaal mit den ungemütlichen Betten. Wir wurden früh ins Bett geschickt und durften kein Wort mehr sprechen, nachdem das Licht gelöscht war. Auch nicht flüstern. Erst recht nicht weinen. Das kam gar nicht gut. Durch die Reihen schritten nämlich strenge Frauen, die genau hinhörten. Die auch genau kontrollierten, ob man Daumen lutschte oder Nägel knabberte. Wieder hatten wir Glück: Die Hände haben sie uns nicht festgebunden, und geschlagen haben sie uns auch nicht.

Gefangen im Schlafsaal

Nach dem Zubettgehen durften wir nicht mehr auf Toilette, was keine von uns begreifen konnte. Das war das Schlimmste. Jeden Abend. Jede Nacht. Sechs endlose Wochen lang. Schon nach einer halben Stunde mussten die ersten von uns dringend aufs Klo, was nicht zuletzt an den vielen schauderhaften Getränken lag, die wir dauernd trinken mussten. Was auf dem Tisch stand, musste getrunken werden. Für meine Nase unangenehm riechender Kinderkaffee, Hagebuttentee, Wasserkakao. Doch der Toilettengang war verboten. Wir waren wehrlos, hatten keine Chance. Beim Schreiben meines Romans habe ich diesen Kinderkaffee als Erinnerungstrigger genutzt. Schon der Geruch beamt mich sofort zurück ins  „Kindererholungsheim“.

Ich lag hinten rechts, am letzten hohen Bogenfenster und hatte dort wenigstens das Gefühl, etwas mehr Raum und Luft zu haben. Der dünne Vorhang war manchmal  nicht ganz zugezogen, so dass eine schmale Schlange aus Mondlicht über den Boden kroch. So erinnere ich es jedenfalls. Indianer und große Mädchen weinen nicht. Auch nicht, wenn sie versuchen, ein Gebet nachzusprechen, bei dem ihnen nur so die Tränen in die Augen schießen. Wenigstens war es so dämmrig, dass mich keiner sah. Weinen durfte man ja nicht, das hatte die Frau vorn verboten.

Lautlos weinen

Ich weiß nicht, wie viele Nachtstunden ich in den endlosen Wochen schlaflos und lautlos weinend zugebracht habe. Es war ein hervorragendes Training fürs Leben. Ich kann bis heute lautlos weinen. Wenigstens hatte ich meinen gelben Steiff-Fisch Flossie in der einen und meinen geliebten kleinen Hund Stroppi in der anderen Hand. Beide Stofftiere habe ich immer noch. Nur gut, dass man sie mir damals nicht abgenommen hat. Sie waren der einzige Trost in meiner nächtlichen Kindereinsamkeit, denn ich kam fast um vor Heimweh. Meine Eltern hätten mich sicher gerettet, aber wie konnte ich sie wissen lassen, was hier passierte? Unsere Briefe wurden kontrolliert. Als ich den Reportbericht im Fernsehen sah, dachte ich als erstes: „Nur gut, dass meine Mutter das jetzt nicht sieht.“ Sie wäre entsetzt gewesen.

Meertagesreste (BFL)

Indianer und große Mädchen haben kein Heimweh. Ich war doch schon zehn! Wir beteten abends Es glänzt der goldne Abendstern, gut Nacht, ihr Lieben nah und fern. Ich kann es bis heute auswendig. Die Mädchenstimmen zitterten. Manchmal schrie draußen ein Vogel. Vielleicht eine Amsel. Oder eine Möwe? Dann war es draußen wieder still. Die Angst mündete in Panik, sobald das Gebet sich dem Ende näherte. O gib auf mich, dein Kind, gut acht. Lass mich nach einer langen Nacht die Sonne fröhlich schauen. Hoffentlich muss ich in der langen Nacht nicht aufs Klo! Bitte nicht, lieber Gott! Bitte hilf mir, lieber Gott! Amen. Tränen runterschlucken. Kreuzzeichen. Gleich fängt der Horror an! Gleich geht das Licht aus!

Erholungsbedürftig

Im Bett neben mir schlief Veronika. Tagsüber hatte sie blonde Zöpfe, nachts floß ihr Haar über das Kopfkissen. Veronika hatte Sommersprossen und später, als wir beste Freundinnen waren, hielten wir uns nachts manchmal an den Händen. Die Kinder in meinem Schlafsaal waren alle so dünn wie ich. Wir waren ja alle hier, weil wir zu mager waren, „aufgepäppelt“ werden sollten und uns dringend „erholen“ mussten. Wir waren also in der „Mastgruppe“. Die größeren Mädchen im anderen Schlafsaal waren hier, weil sie zu dick waren, abnehmen sollten und sich dringend erholen mussten. Sie waren in der „Abspeckgruppe“.

Offenbar waren damals alle Kinder erholungsbedürftig. Wohl um die vielen „Ferienheime“ das ganze Jahr über lukrativ zu füllen und irgendwelchen Erwachsenen die Arbeitsstellen zu garantieren. Wir waren ja sogar während der Schulzeit in Kur, und die Bahn setzte für die vielen Kurkinder massenweise Sonderzüge ein. Aber WER waren diese Personen, denen man uns damals so ahnungslos auslieferte? WAS mögen sie vorher gemacht haben? Bis vor kurzem habe ich darüber nie nachgedacht. Und WER war vorher in all diesen großen, oft isoliert liegenden Gebäuden untergebracht? Ich ahne Schlimmes. Ob man das durch Recherchen heute noch herausfinden kann? Die Aufarbeitung steht erst am Anfang. Wir sind im Moment noch in der „Sammelphase“. Was für ein Glück, dass Anja Röhl, die selbst eine Betroffene ist, sich dieses Themas angenommen hat! Dass sich die weitgehend sprachlose Generation mit dem harmlosen Namen „Nachkriegskinder“ endlich zusammenfindet und auch zu reden beginnt.

Drachenwache und Bauchkrämpfe

Im Flur saß jeden Abend eine Nachtwärterin. Direkt neben der Tür. An ihr kam niemand vorbei. Tagsüber war sie unsichtbar, wir sahen sie nur nach dem Zubettgehen. Schon am ersten Abend lernten wir die unerbittliche Frau Johansen mit den eckigen Schultern kennen. Keine Ahnung, wie sie wirklich hieß, ich gab ihr einfach im Buch diesen Namen, weil er zu ihr passte. Sie war einschüchternd, hatte eine laute Stimme und ließ nicht zu, dass eine von uns den Schlafsaal verließ. Auch nicht, um aufs Klo zu gehen. Auch nicht, wenn man Bauchkrämpfe und Durchfall hatte und vor Verzweiflung weinte. „Dann musst du dir deine Zeit beim nächsten Mal eben besser einteilen!“ Sie verschwand erst um zwölf, wenn meine Erinnerung stimmt, und dann war der lange Flur endlich leer, und wir konnten uns eine nach der anderen hinaus wagen. Doch das fanden wir erst nach ein paar Nächten heraus. Die Zeit bis Mitternacht kann sehr lang sein, wenn man dringend muss.  Jeden Abend hatten wir Angst vor Frau Johansen. Wir nannten sie heimlich Frau Mahlzahn, wie den Drachen aus Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.

Einmal wagte Helma sich bis auf den Flur. „Warum dürfen wir nicht auf Toilette?“ fragte sie mutig. „Wenn wir doch müssen!“ Die Drachenfrau baute sich drohend vor ihr auf. „Kinder gehören um diese Zeit ins Bett, daran gibt es nichts zu rütteln!“ Ihre Stimme war kalt und hart. „Das sag ich meinen Eltern“, drohte Helma. „Von mir aus“, sagte Frau Mahlzahn. „Und jetzt ab ins Bett!“ Helma gab sich geschlagen, kniff die Beine zusammen und legte sich wieder hin. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich fühlte, ich musste nämlich auch. Unfassbar, dass man uns das verbot! Leises Weinen auch von schräg gegenüber, Husten, ersticktes Schluchzen von ganz vorn. Veronika machte Handzeichen. Sie musste auch. Wie kamen wir hier bloß raus? Wenn die Nachtwächterin aufstand und an der Türe lauerte, sah sie riesengroß aus, ein Scherenschnittmonster, wie ein Vampir, wie ein Ungeheuer, das bis zur Decke wuchs. Niemand konnte sich an ihr vorbeimogeln, auch nicht auf dem Bauch robbend, in der Hoffnung, sie würde uns bei ihrer Lektüre nicht bemerken. Wir haben es versucht, auch ich, und  wurden sofort am Schlafittchen gepackt und zurück in den Schlafsaal geschleift. „Das hast du dir wohl so gedacht, Fräuleinchen! Ach, sieh mal einer an, du schon wieder?“ schimpfte die kalte harte Stimme. Die Drachenwache musste doch wissen, dass wir nicht ewig einhalten konnten!

Frau Mahlzahn – Illustration von Caroline Riedel für meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“

Bettnässer

In den ersten Nächten waren wir so verunsichert und aufgeregt, dass wir fast alle ins Bett machten. Zuerst war es nur angenehm warm und die Erleichterung grenzenlos, aber schon bald wurde das Laken kalt und klamm, der Schlafanzug war versaut, man fühlte sich scheußlich und konnte nicht einschlafen. Auch die anderen Nachtwachen befolgten ihre Instruktionen genau, nicht nur Frau Mahlzahn zwang uns einzuhalten, bis wir Blasenkrämpfe bekamen und einnäßten.  Jeden Morgen wurde sorgfältig kontrolliert, ob jemand ins Bett gemacht hatte, und die Sünderin wurde als Bettnässer oder Hosenscheißer ausgeschimpft und vor allen bloß gestellt. Irgendwann fand ich einen Ausweg: Ich schmuggelte Plastikbecher und andere kleine Behälter in den Schlafsaal. Es ging ganz einfach, man musste nur vorsichtig sein, sie mit ruhiger Hand halten und sehr langsam und nur in kleinen Schüben pinkeln, sonst lief alles über. Als wir erst herausgefunden hatten, dass die Wache um Mitternacht endete, warteten wir jede Nacht, bis sie endlich fort war, und rannten schnell auf nackten Füßen über den kalten Boden zu den dunklen Klos. Die Nachtwache musste ja irgendwann selbst schlafen, und zwar im Zimmer neben unserem Schlafsaal. Daher mussten wir extrem leise sein und durften auf keinen Fall die Klospülung betätigen. Bei der Gelegenheit konnte man auch gleich die vollen Plastikbecher leeren.

Immer mehr Erinnerungen steigen in mir auf, aber für heute belasse ich es bei diesen einleitenden Gedanken. Ich frage mich, ob von den „Mädchen“ aus meiner Gruppe wohl irgendjemand diesen Eintrag lesen wird. Veronika, Anita, Helma. Es wäre schön, nach all den Jahren wieder miteinander Kontakt zu haben.

Weiterführende Links zur Reportsendung, zur Seite von Anja Röhl und zum Blogbeitrag einer weiteren Betroffenen.

 

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Strandreiter, Spatzen und Nachtblüher – mit Ulla Genzel

„Sommer an der Fleuth“ (Ulla Genzel)

Langsam verabschiedet sich der Sommer, schon blühen die Herbstanemomen und Herbstastern, die Nächte werden länger, und am Niederrhein steigen bereits häufiger die kühlen Nebel auf. Es wird Zeit, sich von dieser Jahreszeit zu verabschieden. Im letzten Sommer habe ich die wohl heißesten Tage meines Lebens durchlitten und mich wie eine Hundertjährige gefühlt, aber an den guten Tagen auch sehr bewußt und mit allen Sinnen die schönen Sommerseiten registriert, vor allem die Farben und Gerüche. Meine Kräuter, die Rosen, das frisch gemähte Gras. Wer weiß, wie lange wir die vertraute Natur noch so genießen können, stecken wir doch mitten im Klimawandel. Ulla liebt genau wie ich vor allem den Herbst, aber sie schwelgt natürlich auch in den leuchtenden Farben des Sommers. Und wenn sie mit ihrer Nelly spazieren geht, freut sie sich schon auf ihre Lieblingsorte, zum Beispiel die ganz besondere Stelle an der Fleuth mit den Kopfweiden.

„Blütenlicht“ (Ulla Genzel)

Ob man im Sommer mehr Gerüche wahrnimmt als im Winter? Alles scheint intensiver, schwerer, wärmer zu riechen. Einige Blumen verströmen ihren Duft erst, wenn es dunkel wird, manchmal betäubend stark, etwa Nachtviolen, Funkien, Levkojen, Ziertabak, Goldlack, Geißblatt und vor allem Lilien.  Nachtblüher haben oft helle Blüten, die geheimnisvoll im Mondlicht leuchten, nachtaktive Insekten anlocken und den dunklen Garten in einem mystischen Ort verwandeln. In diesem Jahr habe ich versucht, zumindest in Vollmondnächten so lange wie möglich draußen zu sein, mit geschlossenen Augen durch meinen Garten zu gehen und dabei immer wieder stehenzubleiben und die Nachtsymphonie der Düfte zu genießen. Wie schade, dass es bei uns keine Glühwürmchen und Zikaden mehr gibt.

„Fuchur am Niederrhein“ (Ulla Genzel)

Neulich beim Live-Malen ging mit Ulla unerwartet die Fantasie durch, und plötzlich verwandelte sich eine harmlose Wolke über Niederrheinfeldern in Fuchur, den Drachen aus „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Sogar den roten Luftballon, den man bisweilen in ihren Bildern entdeckt, hat Ulla ihm an den Schweif gebunden. Ihren Traum, einmal mit Pferd Moneypenny und Hundemädchen Nelly ans Meer zu reisen und sich den frischen Seewind unbeschwert um die Ohren wehen zu lassen, hat sie vor kurzem auch auf der Leinwand Wirklichkeit werden lassen. Hier sieht man die drei in luftigem, frischem Blau am Strand. Ganz entspannt und allein, aber kein bisschen einsam.

„Mein Traum“ (Ulla Genzel)

Ihre Lieblingsvögel hat Ulla in diesem Sommer auch gemalt. Was sie an Spatzen so fasziniert? „Sie sind frech, wild und einfach bezaubernd. Sie singen nicht, sondern zwitschern, und es scheint, als ob sie sich nie unterwerfen. Ich finde sie einfach lustig, sie sind meine Lieblinge!“ Lustig finde ich sie auch, aber sie können auch nerven, denn eigentlich tschilpen sie ja ziemlich eintönig. Stundenlang, wenn es ihnen paßt. Ich weiß, wovon ich rede, denn sie tschilpen mit Vorliebe vor dem Arbeitszimmer meines Mannes.  Aber ich kann Ulla verstehen. Ich brauche nur an die vielen Spatzen auf den Bauernhöfen meiner Kindheit zu denken. Sie waren allgegenwärtig, auch in den Ställen, wirkten tatsächlich ziemlich respektlos und hüpften mir sogar auf die Schuhe. Mein heimlicher Liebling ist übrigens der Eisvogel, weil er so intensive Farben hat, doch ich kenne ihn nur aus Büchern und Filmen. In meinem Garten ist es die kleine Mönchsgrasmücke, die immer so leise und zart in meiner Nähe singt, sobald ich draußen bin. Gelegentlich rührt sie mich damit fast zu Tränen. Und das Rotkehlchen, das mit Vorliebe in unserer Garage nistet und sich für die ständig offene Garagentür erkenntlich zeigt, indem es mich ganz nah mit der Kamera an sich heranläßt. Wenn die Mönchsgrasmücke mal nicht da ist, singt das Rotkehlchen für mich. Ich fragte Ulla dann auch noch nach ihrer Lieblingsblume.  „Obwohl ich Gärtnerin von Beruf bin, ist meine Lieblingsblume die Kornblume.“ Stimmt. Die Kornblumen in den niederrheinischen Feldern! Was für ein Blau!

 

 

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Instagram

Morgan und Marco Polo

Morgan und Marco Polo oben auf dem Buchladendach

Es hat eine Weile gedauert, weil mein Handy (und wahrscheinlich nicht nur das Handy) offenbar schon viel zu alt ist für die neue Medien, aber wir haben es trotzdem geschafft, und die Mäuse sind jetzt auch endlich auf instagram.

Zu finden unter @cheddarandmozzarella, und sie freuen sich todsicher über jeden Besuch!

Bei Dante im Buchladen

 

 

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Ladevorgang abgebrochen – Gerät zu heiß!

Sommerfrau (Mohamed Nohassi/unsplash)

Nur gut, dass ich alles, was ich an positiven Gefühlen für den Sommer aufbringen kann, schon vorige Woche aufgeschrieben habe, denn diese Woche wäre ich dazu definitiv nicht mehr in der Lage. Heute morgen in der Früh war es in unserem Badezimmer so heiß, dass ich das Gefühl hatte, das Tropenhaus im Zoo zu betreten. Oder die Wüste. Mein hochsensibler Temperaturregler ist ja leider im Wärmebereich besonders empfindlich eingestellt. Im Sommer habe ich oft das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, nicht mehr durchatmen zu können, was bei mir früher häufig zu Angstanfällen führte, denn schneller Puls, Schwitzen, Kopfdruck, Übelkeit und Schwindelgefühl sind oft auch Symptome bei Angst, und irgendwie hat mein Körper das häufig durcheinander gebracht. Zum Schluss bringt mich meine Alarmanlage zum Ausrasten, und ich brülle verzweifelt los wie eine Löwin. Wie ich gerade feststelle, bin ich ab 39° nicht mehr zurechnungsfähig. Ich rede Unsinn, bin desorientiert, habe lästige Wortfindungsstörungen und das ungute Gefühl, völlig kraftlos zu sein. Als wäre mein Akku leer. Mein Mann tut mir leid. Im Sommer teilt er sein Leben mit einer hochexplosiven Frau, bei der man nie weiß, wann sie in die Luft geht. Möglicherweise platze ich eines Tages. Oder verdunste. Oder löse mich sonstwie in meine Bestandteile auf. Ich entschuldige mich morgens schon für alles, was da kommen mag. Und abends natürlich nochmal. Für alles, was da gekommen ist. Und das kann eine Menge sein. Ich kann es nicht ändern, auch wenn ich es noch so sehr versuche. (Ja, ich weiß schon: „Stell dich nicht so an!“ Aber so einfach ist das nicht.)

Sommer (geralt/pixabay)

Gestern und vorgestern hatten wir das Pech, bei Bullenhitze im Auto unterwegs zu sein. Auf der Hinfahrt nach Marburg gab das Tomtom plötzlich den Geist auf. „Ladevorgang abgebrochen, Gerät zu heiß“. Das Gerät hatte mein vollstes Mitgefühl. Es fühlte sich glühend heiß an, und ich nahm es von der Halterung und schaltete es aus. Dann hielt ich es erst in die Kühlung und legte es dann auf meine Tasche. Als ich es nach einiger Zeit wieder anstellte, war es hitzegeschädigt. Es zeigte keine Baustellen und Staus mehr an und hatte keinen Schimmer, dass die blöde Brücke in Marburg, über die wir sonst immer in die Stadt kommen, gesperrt war. Verbockt wie es war, wollte es immer wieder auf die Brücke, egal, was wir machten. Jannik (die Tomtom-Stimme) wurde zunehmend leiser, vielleicht wollte er damit Energie sparen, während die merkwürdigsten Straßenangaben im Display lustig hin und her sprangen. Die Daueranzeige „Straße ohne Namen“ ist eine Meldung, die einen bei Hitze nicht wirklich erfreut. Wir kurvten gefühlte Stunden durch Marburg (überall gesperrte Straßen und Baustellen) und wussten nicht, wo wir waren. Das Tomtom offenbar auch nicht. Jannik erst recht nicht. Bis wir schließlich vor dem Freibad standen. Ich glaube, es heißt Sommerbad. Ich rastete aus, doch im Gegensatz zu Jannik wurde ich immer lauter. Nach einer Ewigkeit kamen wir dann trotzdem an.

Hitzewand (Tools-for-motivation/unsplash)

Im Hotel schleppte ich mich gleich unter die Dusche, umziehen musste ich mich sowieso, denn Frau und Kleidung waren, wie meine Mutter immer so schön sagte, „patschnass geschwitzt“. Nur gut, dass ich so viel Ersatzkleidung mithatte. Eine Stunde später hätte ich schon wieder duschen können. Gegen Mitternacht habe ich es dann endlich getan. Obwohl unser Raum einigermaßen klimatisiert war. Mir war es trotzdem zu heiß, und irgendwie schafften wir es nicht, die Temperatur niedriger einzustellen. Egal. Die Klimaanlage war so laut, dass sie mich störte, also Ohrstöpsel rein. Ohrstöpsel bei Wärmestau sind nicht so toll. Der beste Ehemann von allen sagte nicht: „Dir kann man es aber auch nie recht machen“. Dazu ist er zu höflich. Er schwieg gequält. Er hatte Rückenschmerzen und war nicht gut drauf. Trotzdem hat er mir vorgelesen. Sommerlektüre. „Ferien auf Saltkrokan“. Das beruhigt mich. Leider sollte der nächste Tag noch heißer werden. Wir checkten aus, mussten allerdings noch bis drei bleiben.

Batman in Marburg (BFL)

Gegen neun begab ich mich in die Oberstadt. Meine Spiegelreflexkamera hatte ich nicht dabei. Zu schwer. Zu warm. Und überhaupt. Mit der kleinen machte ich Fotos. Ein älterer Herr meinte freundlich „Ich habe gesehen, wie sie grade hochgeschaut und fotografiert haben. Ihre Augen möchte ich haben! Ich gehe hier jeden Tag vorbei, und der fällt mir gar nicht mehr auf!“ Er meinte den Batman, der kopfüber zwischen den Fachwerkhäusern hängt. Das war dann aber auch schon das Highlight des Tages. Der Kinderbuchladen, auf den ich mich so gefreut hatte, war umgezogen, so dass ich wieder zum Marktplatz zurückkehrte, mich auf eine Bank setzte und anfing zu schreiben. Das ging gerade noch. Einen Laden schaffte ich auch. Er war total sticksig, aber es gab da Bastelkram für meine Mäuse. Danach machte ich schlapp, knallte mich vor ein Café und kippte so viel kaltes Mineralwasser in mich hinein, bis mein pflegeleichter Magen leise seinen Unmut bekundete. Ja, ich weiß, dass eiskalte Getränke bei Hitze nicht gut sind, aber ich hatte nun mal das Bedürfnis, und so viel Freiheit muss sein. Zum ersten Mal zeigte ich dem schönen großen Buchladen, den ich in Marburg sonst IMMER aufsuche, die kalte oder vielmehr heiße Schulter. Aber ich konnte ihn von meinem Tisch aus sehen. (Mein Mann war  geschockt, als ich ihm das später mitteilte. „Kein einziges Buch? Geht es dir so schlecht?“) Ich war auch nicht in dem gemütlichen Café Vetter, in das ich sonst IMMER gehe. Nach der Mineralwasser-Episode schleppte ich mich mit letzter Kraft zurück in die relativ kühle Hotelhalle, um dort schräg im Sessel hängend auf meinen Mann zu warten.

(Karine Garmain/unsplash)

Doch zuerst musste ich noch meine Maus-Basteltüte im Auto verstauen. Dabei wurde mir siedend heiß klar, dass ich wirklich kurz vor dem Ausklinken stand. Ich fand den Aufzug zur Tiefgarage nicht mehr (es ist derselbe wie zu den Zimmern!) und rannte mindestens zehnmal hin und her, weil ich plötzlich dachte, er wäre in einem anderen Flur. Zum Schluss musste ich peinlicherweise die Dame an der Rezeption fragen, die mich komisch anguckte. Dabei kenne ich dieses Hotel seit 20 Jahren. Das ist mir da noch nie passiert! Endlich vor der Tiefgarage fand ich die Tür zu den Parkplätzen nicht. Und dann sah ich unser Auto nicht, obwohl es genau vor mir stand. Schwere temporäre Hitzeblindheit.

Ansteigend (geralt/pixabay)

Eigentlich hätte ich am liebsten schon wieder geduscht, aber wir hatten ja das Zimmer nicht mehr. Zu Lesen hatte ich auch nichts dabei, weil ich fest davon ausgegangen war, dass ich in der Buchhandlung zuschlagen würde. Also las ich im Handy meine Mails und die digitale „New York Times“ mit den neuen Artikeln über Trump und Boris Johnson. Zwei Stunden später kam mein Mann, und ich stieg matt und triefend ins Auto.

Das Tomtom warnte bereits in der Tiefgarage „Ladevorgang abgebrochen, Gerät zu heiß“, obwohl es sich total kühl anfühlte. Leider war der Akku so gut wie leer. Na toll! Offenbar hatte Tomtom einen bleibenden Schaden davongetragen. Seine Stimme Jannik auch. Wir beschlossen, Tomtom und Jannik trotz allem so lange anzulassen, bis wir den Weg allein finden konnten. Jannik war mittlerweile voll durch den Wind, obwohl er auf meinem Schoß lag und gar nicht in seiner hitzeanfälligen Halterung steckte. Er redete nur Unsinn! Mitten auf der Autobahn, neben uns donnerte grade ein Laster vorbei, stellte er uns eine Frage, die wir bei dem Krach leider nicht verstanden. Wahrscheinlich nuschelte er mit voller Absicht. Wiederholen wollte er sie jedenfalls nicht. Stattdessen plärrte er stur: „Sagen Sie ja oder nein!“ Wenn man nichts sagte, kam: „Bitte wiederholen Sie! Ja oder nein!“ Mit zunehmend bedrohlichem Unterton. Irgendwann schrie ich entnervt „Ja, du Idiot!“, woraufhin er „Ich habe Ihre Antwort nicht verstanden, bitte wiederholen Sie! Ja oder nein!“ sagte, und ich so laut „Ja! Ja! Ja!“ brüllte, dass meinem Mann fast die Ohren abfielen. „Ja“ ist in Zweifelsfällen besser als „nein“. Dachte ich. Leider ein Fehler. Jannik seufzte erleichtert und verkündete dann freundlich und gut verständlich: „Neues Ziel: nächste Zahnarztpraxis“. Das Display nudelte kurz und präsentierte uns sogleich den Namen eines Zahnarztes in Weißderteufel bei Wetzlar. Die Praxis hieß Pirandello oder Paparello oder so. Irgendwas, das bei mir Zirkusassoziationen hervorrief.  Ich änderte das Ziel manuell, doch danach zeigte Tomtom nur noch Pfeile im Schneckentempo oder gar nichts, und Jannik war verstummt. Möglicherweise vor Zahnschmerzen. Offenbar brauchte er den Zahnarzt wirklich dringend. In meinem Kopf spukten inzwischen Visionen von kühlen nordischen Häusern herum. Grün-Weiß-Rot. Muss wohl an „Ferien auf Saltkrokan“ liegen. Für richtig kalte Schneebilder fehlte mir eindeutig die Energie.

Nordvisionen (Sasu Tikkanen/unsplash)

Zum Glück kannte mein Mann den Weg und schaffte es auch ohne die Hilfe von Tomtom und trotz seiner halluzinierenden Beifahrerin. Mit letzter Kraft stieß ich mein Mantra aus: „Tut mir echt leid, aber das hat nichts mit dir zu tun! Das ist nur die Hitze! Ehrlich!“ Mein Mann war so klug, nichts zu sagen. Draußen herrschte inzwischen Backofentemperatur. 42 Grad. Sagte jedenfalls der Info-Anzeiger, aber es war bestimmt noch viel, viel heißer. Als absolute Krönung machte urplötzlich die Klimaanlage schlapp und blies uns heiße statt kühle Luft um die Ohren, so dass wir sie ausschalten mussten. Das gab mir den Rest. Ich wäre fast kollabiert, und mein Mann warf mir besorgte Arztblicke zu und meinte: „Halte bitte durch!“ Die nordischen Bilder waren inzwischen Visionen von eisgekühlten Zitrusgetränken gewichen. Mit Zitronenscheiben. Und frischen Pfefferminzblättern. Daneben Riesenportionen Carameleis mit Salz. Das haben wir immer in der Truhe, weil ich es so liebe.

Kühle Halluzinationen

Kurz vor meinem Hitzschlag erreichten wir unser Heim. Der Garten sah ziemlich so aus, wie ich mich fühlte. Aber die Natur geht immer vor, wenn man hochsensibel ist. Auch bei 40°. Ich fütterte die Katze, wässerte ausgetrockneten Töpfe und schlaffe Stauden, leerte eine große Flasche kaltes Mineralwasser (ja, ich weiß, ist schlecht bei Hitze), und erst dann schleppte ich mich unter die Dusche, schaltete im Schlafzimmer (immerhin auch noch stolze 30° warm) die Klimaanlage an (in meinem Fall eine fürwahr lebensrettende Anschaffung) und knallte mich mit der Katze aufs Bett. Als ich mich wieder bewegen konnte, aß ich zwei Portionen Carameleis mit Salz. Mein Magen verstand mich und machte keinen Mucks. Was Temperaturen betrifft, ist er längst nicht so sensibel wie der Rest von mir. Ich hoffe, er hält durch bis zum Herbst.

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Sommer am Niederrhein – mit Ulla Genzel

Lichtzauber – Ulla Genzel

Normalerweise schreibe ich nicht über diese Jahreszeit. Aber für dieses Jahr habe ich mir fest vorgenommen, dem Sommer endlich eine Chance zu geben, auch wenn er mir zunehmend zu schaffen macht. Ganz egal, wie heiß er ist. Genau wie in den letzten Jahren leidet die Natur auch jetzt wieder unter der anhaltenden Trockenheit, und mein Garten braucht an manchen Tagen sogar drei Wasserrationen, um nicht zu verdursten. Das städtische Grün ist schon längst gelb verdorrt. Gestern kam ich am Stadtrand an einem Feld vorbei, auf dem ein Mähdrescher unterwegs war. Die trockene Staubwolke war so heftig, dass ich die Luft anhalten musste. So schlimm waren die Sommer früher nie! Nur gut, dass ein großer Teil meines Gartens ein Schattenreich ist, dort lässt es sich sogar an heißen Tagen noch aushalten. Hier gedeihen Elfenblumen, Hosta und Hortensien. Und Farn! Wie in den Wäldern!

Junimorgen – Ulla Genzel

An die niederrheinischen Kindheitssommer erinnere ich mich immer noch gern, und aus Ullas Bildern steigen sie gleich wieder auf. Die Felder voller Klatschmohn! Und die Waldränder mit Fingerhut! Den liebten wir, denn er war eine magische Pflanze. Wir wussten, dass er giftig ist, und behandelten ihn mit großem Respekt. Wir konnten stundenlang zusehen, wie die Bienen und Hummeln in seine gesprenkelten Blüten krabbelten. Ich rette hier im Garten bis heute sämtliche Fingerhüte, die aus den Fugen sprießen, und pflanze sie vorsichtig in Töpfe. Leider rette ich auch alle Hasel- und Hainbuchenbabys, die sich in die Beeten verirren, so dass ich langsam ein Platzproblem bekomme, aber egal. Vor zwei Jahren habe ich sogar eine winzige Eiche mit einem Blatt gefunden. Sie ist ordentlich gewachsen in ihrem Töpfchen und hat inzwischen schon vier Blätter!

Am Waldrand – Ulla Genzel

In den Sommerferien hatten wir damals alle Zeit der Welt, und zusammen mit Winnie, der Hauptperson in meinen beiden Büchern mit Kindheitserinnerungen vom Niederrhein, wanderte ich jeden Tag hinaus in die Felder. Zu den schwarzweißen Kühen, den zahmen Pferden, die uns freundlich beschnupperten, zu den Wildblumen an den Rändern der Getreidefelder, zum Hof der Bäuerin mit den Schweinen im Vorgarten, zu den zischenden Gänsen hinter dem Holzzaun oder auf die Nierswiesen, wo die Schafe grasten und wir endlich unbehelligt unsere „Bravos“ und etliche verbotene Bücher lesen konnten. Sogar „Lady Chatterley“! Und „Wer die Nachtigall stört“, was äußerst vielversprechend klang. Leider war der Inhalt kein bisschen so, wie der romantische Titel erwarten ließ, aber das Buch war trotzdem gut, also haben wir es zusammen ausgelesen.

Waldschatten - Ulla Genzel

Traumfänger – Ulla Genzel

Damals war die Natur noch bevölkert von geheimnisvollen Wesen. So gab es die Abendmutter, die alle Kinder fing, die sich im Dunkeln draußen aufhielten. Vor ihr hatte ich als ganz kleines Kind eine Heidenangst. Oder die Roggenmuhme mit den eisernen Brüsten und den langen scharfen Zähnen. Sie entführte alle Kinder, die in ihre Felder eindrangen, und schleppte sie in ihre Höhle. Klang gar nicht gut. Aber irgendwann hatten wir die kluge Idee, ihr Winnies nervigen Bruder anzubieten, den wir aus gutem Grund „den Brüllaffen“ nannten, damit sie ihn gegen einen „Wechselbalg“ austauschen konnte. Was genau das war, wussten wir nicht, aber es klang interessant, und wir stellten uns vor, dass es vielleicht ein hübscher kleiner Fuchs war. Aber die Roggenmuhme ließ sich nicht blicken, obwohl wir den Kinderwagen ganz weit in ihr Feld schoben. Wahrscheinlich hat sie sein übles Geschrei abgeschreckt.

Blütenwiese

Blütenwiese – Ulla Genzel

Mit einem großen Weidenkorb und zwei Küchenmessern bewaffnet gingen wir morgens in die Felder, um für unsere Kaninchen frischen Löwenzahn zu stechen und saftigen Klee zu pflücken. Oder um Kamillenblüten zu sammeln, die wir zu Hause in die Sonne legten und trockneten. Ihr Duft versetzt mich auch heute noch sofort wieder zurück. Sommer war damals reine „Draußenzeit“. Kein Mensch wusste, wo wir waren. Ein tolles Gefühl, wenn wir mit den Rädern in die Süchtelner oder Hinsbecker Höhen fuhren, wo der Boden so weich und federnd war und die Luft nach Nadelbäumen und Harz roch. Oder bis ans „Marienpötsche“ (aus dem angeblich die kleinen Kinder kamen, aber das glaubten wir natürlich nicht!) oder an die kühlen Krickenbecker Seen. Gemeine Apps, mit denen man uns überwachen konnte, oder nervige Handys, auf denen man uns selbst in unseren Verstecken stören konnte, gab es damals zum Glück noch nicht. Nicht mal Helikoptereltern, obwohl unsere Mütter von dem Konzept bestimmt hellauf begeistert gewesen wären. Besonders meine. Aber so waren wir einfach FREI und fühlten uns wie mutige Forscherinnen, die aufmerksam den Wald belauschten und Schafe und Wasservögel beobachteten. Oder die Liebespaare – im Freibad und im Wäldchen hinter der Grefrather Dorenburg. Aber natürlich nur ganz, ganz selten.

Faltertraum

Faltertraum – Ulla Genzel

Der Sommer hat tatsächlich auch schöne Seiten, wie ich feststelle. Die lauen Abende, an denen man noch lange draußen sitzt und den Tag in aller Ruhe ausklingen lässt (nachdem man zum letzten Mal seufzend seinen Oleander und die unzähligen Hortensientöpfe gewässert hat). Die Nächte, in denen man den Vollmond gebührend feiern kann. Wunderschön sind auch die Farben des Sommers, etwa das leuchtende Mohnrot, das kräftige Blau von Fächerblume, Storchschnabel und Agapanthus, das satte Gelb und warme Braun der großen schweren Sonnenblumenköpfe, das Zartrosa der Herbstanemonen, die bereits seit einer Woche hier blühen (erstaunlicherweise sind sie bei mir fast zwei Meter hoch!). Schön ist auch der Duft, den der Garten verströmt. Im Moment blühen meine Lilien (seit genau zwei Tagen auch „Tiger Woods“) und die alten Rosenbüsche. Die frischen Kräuter auf meinem Kräutertisch liebe ich auch,  obwohl ihre Blüten bei weitem nicht mehr so viele Insekten anlocken wie damals in den Gärten meines Vaters. Insekten sind eine echte Kostbarkeit geworden.

Mohnfeuer – Ulla Genzel

Wenn es richtig unerträglich heiß und schwül wird, steige ich schnell in eins von Ullas Nebelbildern. Nebel war für mich das Allerschönste am Niederrhein. Aber bald kommt ja wieder meiner Lieblingsjahreszeit, und dann zaubert Ulla bestimmt wieder neue Nebelbilder!  Allerdings hat sie dieses Jahr so viele strahlende Sommerbilder gemalt, dass ich mir schon überlege, ob ich nicht noch einen Sommerbeitrag mache. Ich habe ja bisher noch nie was Nettes über den Sommer geschrieben…..

Nebelbild

Nebel am Niederrhein – Ulla Genzel

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