
Einsame Muschel (Skitterphoto/pixabay)
Der Fernsehbeitrag
Ich habe ein gutes Gedächtnis für alles, was sich in meiner Kindheit ereignet hat, und kann auch problemlos über meine Erlebnisse sprechen und schreiben. Trotzdem hat mich der Bericht in „Report Mainz“, den ich am 10. September zufällig sah, arg mitgenommen. Seitdem überflutet es mich, läßt mir keine Ruhe. Ja, es war furchtbar damals im Kindererholungsheim an der Ostsee. Aber offenbar längst nicht so furchtbar wie bei vielen anderen Betroffenen, wie ich inzwischen weiß. Bis zu dem Fernsehbeitrag habe ich mich tatsächlich für einen Einzelfall gehalten. Dieses Einzelschicksal war Teil meiner persönlichen Biografie. Nur ich musste in Kur, weil ich so kränklich und untergewichtig war und mir der Arzt frische Seeluft verordnet hatte. Dabei ging es damals tausenden anderen Kindern genauso! Ich war nur eine von vielen! Ich bin nicht allein mit diesen Erinnerungen!
Der Titel des Filmbeitrags faßt es gut zusammen: „Erniedrigung statt Erholung. Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden.“ Auf meinen fb Post melden sich spontan mehrere Freundinnen, die ganz ähnliche, größtenteils noch viel verstörendere Erfahrungen gemacht haben. Zumindest wurden wir in meiner Gruppe nicht geschlagen, uns wurde nicht der Mund zugeklebt, wir wurden nicht allein in dunkle Räume gesperrt, und ich habe während meines Aufenthalts auch nicht erlebt, dass jemand zwangsgefüttert wurde oder seine eigene Kotze essen musste (nachdem er oder sie sich aus mir sehr verständlichem Ekel vor dem Essen übergeben hatte). Auch andere Betroffene werden, sofern sie dies möchten, hier auf meiner Seite zu Wort kommen.
Spätsommer 1965 – meine „Kur“ an der Ostsee

Bei den Steinen am Strand (privat)
In meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“ (über (m)eine Kindheit in den 1960er Jahren) gibt es ein langes Kapitel über die endlosen sechs Wochen in der Lübecker Bucht. Seedorf heißt der Ort hier, und das Haus „Franziskushaus“, und ich habe der kleinen Marlies im Buch auch nicht all die Drangsalierungen zugemutet, die wir erdulden mussten. Zwei Leserinnen haben den wahren Schauplatz jedoch zu meiner Verwunderung schon vor Jahren korrekt identifiziert. „Das war das Antoniushaus in Niendorf, oder?“ Stimmt.
Ich hatte bei meinem Aufenthalt großes Glück, denn wir wurden nicht wie viele andere Kinder von den berüchtigten „Tanten“ betreut, sondern zumindest tagsüber von zwei jungen „Fräuleins“. An beide habe ich gute Erinnerungen. Sie waren freundlich und zugewandt. Es war Spätsommer, wir konnten viel draußen sein, auch wenn das Wasser zum Baden zu kalt war, wir fuhren mit dem Kutter aufs Meer und mit dem Bus nach Lübeck, machten Strandwanderungen, sammelten Muscheln und Schneckenhäuser, sangen Lieder aus der Mundorgel (die stressigen Kniebeugen bis zum Umfallen zu „Laurentia, liebe Laurentia mein“ gab es bei uns auch), saßen am letzten Abend am Lagerfeuer, sangen die deutsche Version von „Auld Langsyne“ (Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr….) und hielten uns an den Händen. Draußen war es schön. Die Ostsee und Lübeck liebe ich bis heute. Ich war vor einigen Jahren wieder in Niendorf und suchte das Heim. Ich war sehr aufgeregt, und beim Anblick des Gebäudes war mir äußerst mulmig. Es sieht heute so anders aus, dass ich es fast nicht erkannt hätte.
Die große Angst

Seesternerinnerungen (BFL)
Am Meer war ich gern, aber wir waren ja nicht die ganze Zeit draußen. Der Horror begann, sobald wir im Heim waren. Schon beim Betreten des Gebäudes packte mich die Angst. Riesenangst vor den Mahlzeiten (sogar vor den Tellern und den Blechkannen), schiere Panik vor den Nächten. Angst auch vor den Erwachsenen, vor allem vor den Nachtwachen. Angst zu sterben, meine Eltern nie wiederzusehen, schwer krank zu werden. Angst vor dem Aufenthaltsraum, in dem wir täglich eine Stunde schweigend still sitzen mussten, „Silentium“ nannte man das, Angst vor dem kalten Waschraum mit den vielen Becken, vor dem Ausziehen und Nacktsein vor anderen, besonders vor den gefühlt täglichen langen vor Scham frierenden Reihen im Flur (alle Mädchen mussten sich bis auf den Schlüpfer ausziehen, um dann fast nackt einem Arzt vorgeführt zu werden, der einem sogar gelegentlich in die Unterhose schaute, ob man vielleicht Blinddarmnarben hätte….), vor dem dauernden Wiegen (es wurde immer genau notiert, ob und wie viel wir zu- oder abgenommen hatten), Angst vor dem großen kahlen Schlafsaal mit den ungemütlichen Betten. Wir wurden früh ins Bett geschickt und durften kein Wort mehr sprechen, nachdem das Licht gelöscht war. Auch nicht flüstern. Erst recht nicht weinen. Das kam gar nicht gut. Durch die Reihen schritten nämlich strenge Frauen, die genau hinhörten. Die auch genau kontrollierten, ob man Daumen lutschte oder Nägel knabberte. Wieder hatten wir Glück: Die Hände haben sie uns nicht festgebunden, und geschlagen haben sie uns auch nicht.
Gefangen im Schlafsaal
Nach dem Zubettgehen durften wir nicht mehr auf Toilette, was keine von uns begreifen konnte. Das war das Schlimmste. Jeden Abend. Jede Nacht. Sechs endlose Wochen lang. Schon nach einer halben Stunde mussten die ersten von uns dringend aufs Klo, was nicht zuletzt an den vielen schauderhaften Getränken lag, die wir dauernd trinken mussten. Was auf dem Tisch stand, musste getrunken werden. Für meine Nase unangenehm riechender Kinderkaffee, Hagebuttentee, Wasserkakao. Doch der Toilettengang war verboten. Wir waren wehrlos, hatten keine Chance. Beim Schreiben meines Romans habe ich diesen Kinderkaffee als Erinnerungstrigger genutzt. Schon der Geruch beamt mich sofort zurück ins „Kindererholungsheim“.
Ich lag hinten rechts, am letzten hohen Bogenfenster und hatte dort wenigstens das Gefühl, etwas mehr Raum und Luft zu haben. Der dünne Vorhang war manchmal nicht ganz zugezogen, so dass eine schmale Schlange aus Mondlicht über den Boden kroch. So erinnere ich es jedenfalls. Indianer und große Mädchen weinen nicht. Auch nicht, wenn sie versuchen, ein Gebet nachzusprechen, bei dem ihnen nur so die Tränen in die Augen schießen. Wenigstens war es so dämmrig, dass mich keiner sah. Weinen durfte man ja nicht, das hatte die Frau vorn verboten.
Lautlos weinen
Ich weiß nicht, wie viele Nachtstunden ich in den endlosen Wochen schlaflos und lautlos weinend zugebracht habe. Es war ein hervorragendes Training fürs Leben. Ich kann bis heute lautlos weinen. Wenigstens hatte ich meinen gelben Steiff-Fisch Flossie in der einen und meinen geliebten kleinen Hund Stroppi in der anderen Hand. Beide Stofftiere habe ich immer noch. Nur gut, dass man sie mir damals nicht abgenommen hat. Sie waren der einzige Trost in meiner nächtlichen Kindereinsamkeit, denn ich kam fast um vor Heimweh. Meine Eltern hätten mich sicher gerettet, aber wie konnte ich sie wissen lassen, was hier passierte? Unsere Briefe wurden kontrolliert. Als ich den Reportbericht im Fernsehen sah, dachte ich als erstes: „Nur gut, dass meine Mutter das jetzt nicht sieht.“ Sie wäre entsetzt gewesen.

Meertagesreste (BFL)
Indianer und große Mädchen haben kein Heimweh. Ich war doch schon zehn! Wir beteten abends Es glänzt der goldne Abendstern, gut Nacht, ihr Lieben nah und fern. Ich kann es bis heute auswendig. Die Mädchenstimmen zitterten. Manchmal schrie draußen ein Vogel. Vielleicht eine Amsel. Oder eine Möwe? Dann war es draußen wieder still. Die Angst mündete in Panik, sobald das Gebet sich dem Ende näherte. O gib auf mich, dein Kind, gut acht. Lass mich nach einer langen Nacht die Sonne fröhlich schauen. Hoffentlich muss ich in der langen Nacht nicht aufs Klo! Bitte nicht, lieber Gott! Bitte hilf mir, lieber Gott! Amen. Tränen runterschlucken. Kreuzzeichen. Gleich fängt der Horror an! Gleich geht das Licht aus!
Erholungsbedürftig
Im Bett neben mir schlief Veronika. Tagsüber hatte sie blonde Zöpfe, nachts floß ihr Haar über das Kopfkissen. Veronika hatte Sommersprossen und später, als wir beste Freundinnen waren, hielten wir uns nachts manchmal an den Händen. Die Kinder in meinem Schlafsaal waren alle so dünn wie ich. Wir waren ja alle hier, weil wir zu mager waren, „aufgepäppelt“ werden sollten und uns dringend „erholen“ mussten. Wir waren also in der „Mastgruppe“. Die größeren Mädchen im anderen Schlafsaal waren hier, weil sie zu dick waren, abnehmen sollten und sich dringend erholen mussten. Sie waren in der „Abspeckgruppe“.
Offenbar waren damals alle Kinder erholungsbedürftig. Wohl um die vielen „Ferienheime“ das ganze Jahr über lukrativ zu füllen und irgendwelchen Erwachsenen die Arbeitsstellen zu garantieren. Wir waren ja sogar während der Schulzeit in Kur, und die Bahn setzte für die vielen Kurkinder massenweise Sonderzüge ein. Aber WER waren diese Personen, denen man uns damals so ahnungslos auslieferte? WAS mögen sie vorher gemacht haben? Bis vor kurzem habe ich darüber nie nachgedacht. Und WER war vorher in all diesen großen, oft isoliert liegenden Gebäuden untergebracht? Ich ahne Schlimmes. Ob man das durch Recherchen heute noch herausfinden kann? Die Aufarbeitung steht erst am Anfang. Wir sind im Moment noch in der „Sammelphase“. Was für ein Glück, dass Anja Röhl, die selbst eine Betroffene ist, sich dieses Themas angenommen hat! Dass sich die weitgehend sprachlose Generation mit dem harmlosen Namen „Nachkriegskinder“ endlich zusammenfindet und auch zu reden beginnt.
Drachenwache und Bauchkrämpfe
Im Flur saß jeden Abend eine Nachtwärterin. Direkt neben der Tür. An ihr kam niemand vorbei. Tagsüber war sie unsichtbar, wir sahen sie nur nach dem Zubettgehen. Schon am ersten Abend lernten wir die unerbittliche Frau Johansen mit den eckigen Schultern kennen. Keine Ahnung, wie sie wirklich hieß, ich gab ihr einfach im Buch diesen Namen, weil er zu ihr passte. Sie war einschüchternd, hatte eine laute Stimme und ließ nicht zu, dass eine von uns den Schlafsaal verließ. Auch nicht, um aufs Klo zu gehen. Auch nicht, wenn man Bauchkrämpfe und Durchfall hatte und vor Verzweiflung weinte. „Dann musst du dir deine Zeit beim nächsten Mal eben besser einteilen!“ Sie verschwand erst um zwölf, wenn meine Erinnerung stimmt, und dann war der lange Flur endlich leer, und wir konnten uns eine nach der anderen hinaus wagen. Doch das fanden wir erst nach ein paar Nächten heraus. Die Zeit bis Mitternacht kann sehr lang sein, wenn man dringend muss. Jeden Abend hatten wir Angst vor Frau Johansen. Wir nannten sie heimlich Frau Mahlzahn, wie den Drachen aus Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.
Einmal wagte Helma sich bis auf den Flur. „Warum dürfen wir nicht auf Toilette?“ fragte sie mutig. „Wenn wir doch müssen!“ Die Drachenfrau baute sich drohend vor ihr auf. „Kinder gehören um diese Zeit ins Bett, daran gibt es nichts zu rütteln!“ Ihre Stimme war kalt und hart. „Das sag ich meinen Eltern“, drohte Helma. „Von mir aus“, sagte Frau Mahlzahn. „Und jetzt ab ins Bett!“ Helma gab sich geschlagen, kniff die Beine zusammen und legte sich wieder hin. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich fühlte, ich musste nämlich auch. Unfassbar, dass man uns das verbot! Leises Weinen auch von schräg gegenüber, Husten, ersticktes Schluchzen von ganz vorn. Veronika machte Handzeichen. Sie musste auch. Wie kamen wir hier bloß raus? Wenn die Nachtwächterin aufstand und an der Türe lauerte, sah sie riesengroß aus, ein Scherenschnittmonster, wie ein Vampir, wie ein Ungeheuer, das bis zur Decke wuchs. Niemand konnte sich an ihr vorbeimogeln, auch nicht auf dem Bauch robbend, in der Hoffnung, sie würde uns bei ihrer Lektüre nicht bemerken. Wir haben es versucht, auch ich, und wurden sofort am Schlafittchen gepackt und zurück in den Schlafsaal geschleift. „Das hast du dir wohl so gedacht, Fräuleinchen! Ach, sieh mal einer an, du schon wieder?“ schimpfte die kalte harte Stimme. Die Drachenwache musste doch wissen, dass wir nicht ewig einhalten konnten!

Frau Mahlzahn – Illustration von Caroline Riedel für meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“
Bettnässer
In den ersten Nächten waren wir so verunsichert und aufgeregt, dass wir fast alle ins Bett machten. Zuerst war es nur angenehm warm und die Erleichterung grenzenlos, aber schon bald wurde das Laken kalt und klamm, der Schlafanzug war versaut, man fühlte sich scheußlich und konnte nicht einschlafen. Auch die anderen Nachtwachen befolgten ihre Instruktionen genau, nicht nur Frau Mahlzahn zwang uns einzuhalten, bis wir Blasenkrämpfe bekamen und einnäßten. Jeden Morgen wurde sorgfältig kontrolliert, ob jemand ins Bett gemacht hatte, und die Sünderin wurde als Bettnässer oder Hosenscheißer ausgeschimpft und vor allen bloß gestellt. Irgendwann fand ich einen Ausweg: Ich schmuggelte Plastikbecher und andere kleine Behälter in den Schlafsaal. Es ging ganz einfach, man musste nur vorsichtig sein, sie mit ruhiger Hand halten und sehr langsam und nur in kleinen Schüben pinkeln, sonst lief alles über. Als wir erst herausgefunden hatten, dass die Wache um Mitternacht endete, warteten wir jede Nacht, bis sie endlich fort war, und rannten schnell auf nackten Füßen über den kalten Boden zu den dunklen Klos. Die Nachtwache musste ja irgendwann selbst schlafen, und zwar im Zimmer neben unserem Schlafsaal. Daher mussten wir extrem leise sein und durften auf keinen Fall die Klospülung betätigen. Bei der Gelegenheit konnte man auch gleich die vollen Plastikbecher leeren.
Immer mehr Erinnerungen steigen in mir auf, aber für heute belasse ich es bei diesen einleitenden Gedanken. Ich frage mich, ob von den „Mädchen“ aus meiner Gruppe wohl irgendjemand diesen Eintrag lesen wird. Veronika, Anita, Helma. Es wäre schön, nach all den Jahren wieder miteinander Kontakt zu haben.
Weiterführende Links zur Reportsendung, zur Seite von Anja Röhl und zum Blogbeitrag einer weiteren Betroffenen.