Sadako und die tausend Kraniche

Michans Sadako (BFL)

Im Moment denke ich besonders oft an Sadako, denn das Mädchen Michan in meinem nächsten Roman hat japanische Wurzeln. Für ihre Schulzeitung hat sie gerade einen Beitrag über das „Kranichmädchen“ geschrieben. Sadako gehört zu den wohl bekanntesten Opfern der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Beim Abwurf der Bombe im August 1945 war sie zweieinhalb Jahre alt. Am 25. Oktober 1955 starb sie an Leukämie. Meine Michan hat mehrere japanische Puppen, und drei davon tragen Namen aus Sadakos Geschichte: Sadako, Chizuke und Mashahiro. Beim Schreiben umgebe ich mich immer gern mit Dingen, die im Buch vorkommen, daher ist mein Zimmer im Moment auch an einigen Stellen ziemlich japanisch.

Sadako – ein Wunsch aus tausend Kranichen

Sadako-Buch

Gerade ist die Geschichte vom berühmten Kranichmädchen in einem neuen Buch für Kinder beim Aladin Verlag in Hamburg erschienen. Es trägt den Titel „Sadako – Ein Wunsch aus tausend Kranichen“ und hat mir sehr gut gefallen. Geschrieben wurde es von Johanna Hohnhold und ist mit den federleichten Zeichnungen von Gerda Raidt illustriert. Zuerst begegnen wir Sadako und ihrer besten Freundin Chizuko in der Schule. Sadako ist ein außerordentlich sportliches Mädchen und wird bald bei einem Wettrennen im Staffelteam laufen. Nach und nach lernen wir auch ihre Lehrer, ihre Eltern und Geschwister kennen, begleiten die Familie zur Friedenszeremonie am 6. August. Nach ihrem ersten Schwächeanfall erhält Sadako von Chizuko einen Daruma, einen Glücksbringer aus Pappmaché.

Wunscherfüller  (BFL)

Die dicken roten Kerlchen haben es im wahrsten Sinne des Wortes in sich, denn sie sind so geschickt konstruiert, dass sie nicht umfallen. Das soll wohl auch dem Besitzer Mut und Zuversicht in schwierigen Situationen verleihen. Doch das ist nicht ihre wichtigste Eigenschaft. Wenn man sie kauft oder geschenkt bekommt, haben sie noch große runde „leere“ Augen. Der Daruma ist nämlich ein Wunscherfüller. Man bittet ihn um Hilfe, indem man den Wunsch in Worte fasst und eins seiner Augen ausmalt, das andere lässt man so lange „leer“, bis sich der Wunsch erfüllt hat. Ich habe mehrere, und die meisten haben inzwischen zwei Augen.

Sadako – Ein Wunsch aus tausend Kranichen

Johanna Hohnhold erzählt vom gewonnenen Staffellauf, vom plötzlichen Ausbruch der Krankheit, von der niederschmetternden Diagnose, von Krankenhausaufenthalten, von Sadakos Mut und Chizukos unerschütterlicher Freundschaft, vom ersten goldenen Kranich, den Chizuki für ihre Freundin faltet, und vom sanften Nachbarsjungen Natsuki, der ihr unerwartet ein Päckchen mit Origamipapier schenkt, als er erfährt, dass sie schwer krank ist und auf ein Wunder hofft. Wer tausend Kraniche faltet, so sagt eine alte japanische Legende, dem erfüllen die Götter einen Wunsch. Sadoko faltet unermüdlich, doch die Zeit läuft ihr davon. Sie wird immer schwächer. Umgeben von ihren Kranichen und ihrer Familie schließt sie für immer die Augen. Wie viele Kraniche sie wirklich gefaltet hat, weiß man nicht genau, die Angaben dazu sind sehr unterschiedlich. Die Autorin musste sich für eine der Zahlen entscheiden.

721 Kraniche gaben Sadoko das letzte Geleit, während der Himmel in der Farbe der Kirschblüten leuchtete. Unter dem Rascheln der Papierflügel sprach Sadakos Mutter kaum hörbar ein altes japanisches Gebet, das sie seit der Geburt ihrer Tochter jeden Tag gesprochen hat: „Du Schwarm aus himmlischen Kranichen, behüte mein Kind mit deinen Schwingen.“

Michans Chizuke (BFL)

Doch ihre Freunde geben nicht auf. Der „Papierkranich-Club“, den ihre Klassenkameraden im Gedenken an sie gründen, hat bald genug Geld für ein Ehrenmal gesammelt. In den Büchern und auch in dieser Geschichte ist es vor allem die beste Freundin Chizuku, die sich dafür einsetzt, dass Sadako nicht vergessen wir. Und diesen Wunsch haben die Götter tatsächlich erfüllt: Im Friedenspark von Hiroshima steht heute ein Denkmal für den Weltkinderfrieden, dessen Spitze eine kleine Gestalt krönt. Es ist Sadako, und auf ihren ausgestreckten Armen trägt sie einen Kranich. „This is our Cry. This is our Prayer. Peace in the World“ steht auf der Plakette am Fuße des Denkmals. Auch im Friedenspark von Seattle findet man Sadako, hier allerdings als lebensgroße Bronzefigur, über und über mit Kranichketten bedeckt. Und im Hiroshima-Nagasaki-Park in Köln gibt es ebenfalls etwas, das an sie erinnert.

Michans Setsuko mit Glossar (BFL)

Erzählt wird Sadokos Geschichte als kurzer Roman, und am Ende gibt gleich mehrere informative Anhänge. Den Anmerkungen der Autorin folgt ein kleiner Text zum historischen Hintergrund, dem Atombombenabwurf auf Hiroshima im August 1945, bei dem etwa 80 000 Menschen ums Leben kamen und die Stadt zu 80 Prozent zerstört wurde. Durch die Stahlenbelastung starben in den Folgejahren leider noch sehr viel mehr Menschen, und selbst heute, 72 Jahre später, gibt es noch Spätfolgen der grausamen Vernichtungswaffe, die damals den zynischen Codenamen „Little Boy“ erhielt. Eine kleine Biografie von Sadako mit Foto und ein informatives Glossar, in dem japanische Begriffe aus dem Text erklärt werden, folgen.

Faltanleitung (BFL)

Den Schluss des Buchs bildet eine Faltanleitung für Papierkraniche, die mich ermutigte, mich endlich einmal selbst ans Falten zu wagen. Leider war die Anleitung (für mich!) nicht klar genug, aber ich habe auch keine Ahnung von Origami. Schnelle Hilfe fand ich in einem Video im Internet. Danach brachte ich zu meiner eigenen Verwunderung einen gelungenen Kranich nach dem anderen zustande. Inzwischen sind es schon acht, aber da ich vorhabe, dieses Jahr zu Weihnachten alle Menschen mit einem Papierkranich zu beschenken, werden es sicher bald mehr. Kraniche gelten als Glücksbringer und gehören schon seit langem zu meinen Lieblingsvögeln. Dass sie außerdem Symbole des Widerstandes gegen Atomkrieg und Atomwaffen und Symbole der Liebe und Freundschaft sind, gefällt mir sehr. Ich weiß noch genau, wann ich meinen ersten Kranich bekommen habe. Damals war ich noch Dozentin für Deutsch für Ausländer. Ein japanischer Student schenkte ihn mir, und ich habe ihn immer noch, es ist der rote Kranich auf den Fotos.

Kraniche (BFL)

Es macht mich stolz und glücklich, dass man Sadakos Kranichen auch in „meiner“ Stadt ein kleines Denkmal gesetzt hat. Es befindet sich in der Nähe des Aachener Weihers und des Museums für Ostasiatische Kunst im Kölner Hiroshima-Nagasaki-Park. Köln ist schon seit 1985 Mitglied im Hiroshima-Nagasaki-Bündnis, einem internationalen Städtebündnis gegen Atomwaffen. Der Park wurde auf Initiative des Kölner Friedensforums hin an einem geschichtsträchtigen Ort angelegt. Unter den sanften Hügeln, auf denen ich als Studentin so oft Entspannung gesucht habe, befinden sich nämlich die Trümmer des Zweiten Weltkriegs. 2007 wurde das kleine Mahnmal Atomwaffen abschaffen mit dem Symbol des Origami-Kranichs enthüllt. Es ist umgeben von drei Bäumen, einem Gingko für Hiroshima, einer japanischen Kirsche für Nagasaki und einer Schwarzpappel für Köln.

Sadako – Ein Wunsch aus tausend Kranichen von Johanna Hohnhold, illustriert von Gerda Raidt, ist im Aladin Verlag erschienen und kostet 11,95 Euro

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„Der Staub der Ahnen“ – Felix Pestemer

Eusebios Brief – Felix Pestemer

Felix Pestemers Graphic Novel „Der Staub der Ahnen“ erzählt eine eindrucksvolle, komplexe, zum Teil surrealistische Familiengeschichte, die gleich auf mehreren Ebenen verschachtelt ist. Auf der erzählten Ebene beginnt sie mit dem Museumswärter Eusebio Ramirez, der einen sehr persönlichen Brief an die befreundete Familie Rojas schreibt, mit der er früher einmal eng verbunden war. Eigentlich wollte er die Familie und seine alte Heimatstadt besuchen, doch die traurige Nachricht vom Tod des kleinen Benito setzte ihm derart zu, dass er den Ort fluchtartig verließ. Jetzt versucht er, Consuelo, der Mutter des Jungen, seine Reaktion zu erklären, und erinnert in seinem Brief auch an die verstorbenen Familienmitglieder, die er gut kannte. Besonders zugetan war er ihrem Bruder Victor. Auch diese Geschichte findet sich später im Buch.

Benitos Geschichte – Felix Pestemer

Die gezeichnete Geschichte, mit der das Buch beginnt und die ganz ohne Worte auskommt, setzt noch etwas früher ein und erzählt von Benitos Unfalltod. Diese Episode ist genau wie die anderen Familienerinnerungen monochrom gestaltet, während die Szenen mit Eusebio, die Bilder vom Tag der Toten, der gerade festlich begangen wird, und die Darstellungen der Welt der Toten farbig sind.

Ungewöhnliche Erzählhaltung

Ich musste diese Graphic Novel mehrfach und mit immer genauerem Blick lesen und betrachten, um die kunstvoll und opulent ins Bild gesetzten Familiengeschichten richtig zu verstehen, denn der Künstler macht es dem Leser und Betrachter wirklich nicht leicht. Aus der Literatur kenne ich die Erzählperspektive des unzuverlässigen Erzählers („unreliable narrator), dem man als Leser nie vertrauen darf, aber in einer Graphic Novel war ich ihr bis dahin noch nie begegnet. Erst recht nicht in Kombination mit einem allwissenden Zeichner, dem in der Literatur der allwissende Erzähler („omniscient author“) entsprechen würde. Beim ersten Lesen und Schauen fielen mir die zahlreichen Widersprüche zwischen Text und Bild zunächst gar nicht auf. Ich übersah die vielen Brüche, weil ich darauf nicht vorbereitet war.

Dolores und Candelario – Felix Pestemer

Spurlos verschwunden

Dolores – Felix Pestemer

Erst bei der (für mich) besonders bewegenden Geschichte von Angeles wurde ich misstrauisch. Plötzlich wurde mir klar, dass Text und Bilder sich deutlich widersprachen. Das Mädchen Angeles gehört neben dem kleinen Benito, dessen Großeltern Dolores und Candelario, deren gemeinsamem Sohn Victor und seiner Frau Esperanza sowie dem Urahn El Negro zu den Verstorbenen der Familie Rojas. Angeles war eines Tages spurlos verschwunden. Wie so oft sollte sie auf ihre kleine Schwester aufpassen, doch dazu verspürte der Wildfang wenig Lust. Viel lieber wollte sie mit den Straßenjungen Verstecken spielen. Dazu musste sie allerdings vorher ihr Schwesterchen Dolores los werden. Sie hatte auch schon bald eine Idee. Dolores wurde kurzerhand zur Babysitterin ihrer Puppe gemacht, und Angeles schärfte ihr ein, sich ja nicht von der Stelle zu rühren, bis Angeles wieder zurück war. Doch Dolores hatte das Warten schon bald satt und begann, nach der großen Schwester zu suchen. Sie fand sie sogar – oder vielleicht doch nicht? Kann ein kleines Mädchen so grausam sein? Hat Dolores Angeles absichtlich in ihrem Versteck eingeschlossen und dadurch ihren qualvollen Tod verschuldet? Oder hat sie die Safetür nur „zufällig“ verschlossen, weil sie offen stand, und ihre Schwester darin nicht bemerkt? Ich selbst habe Angeles zuerst tatsächlich übersehen, denn auf den beiden Bildern ist im dunklen Inneren des Safes nur ein Auge des Mädchens und ein kleiner Teil ihres Gesichts zu sehen. Der selbstzufriedene Gesichtsausdruck der kleinen Dolores spricht leider Bände. Sie begegnet uns übrigens später noch in zwei weiteren Familiengeschichten (als erwachsene Frau und als Greisin) und verursacht auch dort durch ihre Unerbittlichkeit und kalte Dominanz den Tod anderer Menschen.

Doch wie kommt es, dass Angeles und auch Dolores vor der umwucherten Ruine, in welcher sich der Safe befindet, Frida Kahlo und Leo Trotzki begegnen? Frida Kahlo habe ich auf Anhieb erkannt, Leo Trotzki erst auf den zweiten Blick. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von der Liebesaffäre der beiden bis dahin keine Ahnung hatte. Meine Entdeckung ließ mich nochmals zu den vorherigen Bildern zurückkehren, und tatsächlich erkannte ich nun auch Friedas Mann, Diego Rivera. Doch wer mochte die Frau sein, mit der er hier offenbar gerade ein Rendezvous hatte? Die schöne Unbekannte konnte ich mit Hilfe des (sehr erhellenden!) Glossars am Ende des Buches schnell identifizieren. Dass die temperamentvolle Angeles mitten in den Blumenstrauß springt,

den Diego seiner Angebeteten gerade überreichen will, ist nur eine der vielen amüsanten Spielerein des Zeichners, eine Szene in einer Szene. Davon steht im Text kein Wort, der Leser muss die zahlreichen Nebenhandlungen, die in den Bildern versteckt sind, selbst entdecken. Am Ende der Angeles-Geschichte sieht man Dolores jedenfalls wieder „harmlos“ mit ihrer Puppe am Brunnen stehen, als hätte es die Szene mit dem tödlichen Safe im Inneren der Ruine nie gegeben.

Weiß der Briefschreiber und Erzähler, wie es sich wirklich zugetragen hat? Wahrscheinlich nicht. Führt er uns absichtlich in die Irre? Ich glaube nicht. Handelt es sich bei dem Ereignis eher um ein dunkles Familiengeheimnis? Ich denke, ja. Hat Dolores je darüber gesprochen? Wir erfahren es nicht. Ihren grausamen Zug hat sie jedenfalls behalten. In Eusebios Brief steht zum Ende der dramatischen Geschichte lediglich der Satz „Deine Mutter tat, was ihr ihre Schwester aufgetragen hatte: Bis zuletzt hat sie auf ihre Puppe aufgepasst.“ Kein Wort zu Frida Kahlo und dem Safe.

Im Maskenmuseum

Die Familiengeschichten bilden nur eine Handlungsebene. Die Geschichte des Museumswächters ist eine weitere. Er schreibt im Laufe des Buchs seinen Brief zu Ende, immer wieder unterbrochen von den Familiengeschichten und den Einblicken ins „Jenseits“. Den Brief wirft er schließlich in den Briefkasten und verursacht dann an seinem Arbeitsplatz durch eine brennende Zigarette einen Brand, bei dem das Museum mit sämtlichen Kunstwerken zerstört wird und er selbst ums Leben kommt. Es ist ein ungewöhnliches Museum, nämlich ein Maskenmuseum, in dem die Werke des (fiktiven) Künstlers José Guadalupe Reyes ausgestellt sind. Die Figur hat allerdings ein reales Vorbild, nämlich den mexikanischen Künstler José Guadalupe Posada. Diesmal war ich aufmerksamer und schaute erst in Felix Pestemers Glossar und dann bei Google nach. Posada war ein mexikanischer Kupferstecher und Karikaturist, der vor allem durch die Darstellung der vornehmen Knochendame „La Catrina“ Berühmtheit erlangte. Er starb in Armut und wurde in einem Gemeinschaftsgrab bestattet – anders als Pestemers Maskenschnitzer, dessen dramatisches Lebensende in der letzten Geschichte des Buchs beschrieben wird. Zu dieser Episode hat Pestemer einen kleinen Film gestaltet, den ich mir dann gleich im Anschluss im Internet angeschaut habe. Er heißt „Peyotl“ und erweitert die Geschichte um noch eine weitere Ebene, die akustische. Felix Pestemer selbst erzählt, und das Ganze ist untermalt mit Geräuschen und Musik. Doch sogar nach dem Film bleiben (bei mir) noch Fragen offen: Was erlebt Reyes wirklich? Gerät er durch die Droge auf den verstörenden Horrortrip? Oder ist das etwa der furchterregende Übergang von unsere Welt in die Welt der Toten? Wird er von seinem Begleiter ermordet? Bringt er sich in seiner Raserei selbst um? Stirbt er an einer Überdosis? Ich glaube, es war sein Begleiter. Der reitet am Ende so auffallend seelenruhig aus dem Bild und läßt die Leiche zwischen den Kakteen zurück. Aber ist der Tote tatsächlich kopflos? Man sieht es nicht richtig. Für die Wertsachen des Künstlers hat sich der Reiter  jedenfalls nicht interessiert, denn die liegen unangetastet neben dem Toten.

Die Welt der Toten

Eine weitere Dimension im Buch bildet das Reich der Toten, die als „lebendige“ Skelette in einer Art Parallelwelt existieren und genau wie die Lebenden feiern, tanzen und lieben. In einer Zeit, in der Sterben und Tod erfolgreich aus unserem Leben ausgeblendet werden, sind diese ungewohnten Szenen, die sich konsequent farbig vor einem dunklen Hintergrund abspielen, für viele Betrachter sicher auf den ersten Blick gruselig bis verstörend. Einige der Skelette sind in der Tat kein angenehmer Anblick (besonders das des Maskenschnitzers), und dass man sie am Ende des Buches alle „persönlich lebendig“ kennengelernt hat und nun im Jenseits mühelos erkennt, macht ihren Anblick nicht leichter. Die Darstellung des kleinen Benito, der in der Totenwelt aufwacht und sich einem gruseligen Empfangskomitee aus toten Verwandten gegenüber sieht, hat mich sehr berührt. Das kleine Skelett hat nämlich große Angst und weiß nicht, was ihm geschieht. Als Angeles sich dem Kleinen vorstellt, ruft er erschrocken: „Du bist tot!“ Woraufhin sie neckend antwortet „Selber tot!“ und ihm mit einem ihrer Knochenfinger eindrucksvoll zeigt, was man mit seinem hohlen Schädel alles anstellen kann. Danach machen ihm die übrigen Ahnenskelette unmissverständlich klar, wo er sich jetzt befindet. „Wir sind ALLE tot. Willkommen!“ Auf Seite 38 sieht man in einer Art Traumvision des Museumswärters (oder ist es vielleicht doch keine Vision?), wie sich das hübsche Gesicht des Jungen vor den im Hintergrund stehenden Ahnen immer weiter verändert, bis es schließlich zum kleinen Totenschädel wird. Die verstorbenen Ahnen kann man hier alle leicht identifizieren, denn sie halten ihr „Lebend-Gesicht“ als Masken vor ihre Totenschädel. Der kleine Benito ist verständlicherweise wenig glücklich, sich plötzlich als klapperndes Skelett im Jenseits wiederzufinden, doch irgendwann gefallen ihm offenbar die bizarren Masken und vielleicht auch der makabere Tanz mit den anderen Knochenwesen, der an die vertrauten Darstellungen vom „Totentanz“ erinnert. Es ist eben alles eine Frage der Gewöhnung.

bei den Toten – Felix Pestemer

Übrigens wird die Totenwelt bei Felix Pestemer auch von den Skeletten der längst verstorbenen Haustiere bevölkert, denen man in den Familiengeschichten bereits begegnet ist oder im Laufe der Lektüre noch begegnen wird. Es gibt daher auch einen treuen Skeletthund und sogar einen Skelettpapagei.

Selbst für Mexikaner exotisch

Felix Pestemer hat mir erzählt, dass seine eigenwillige Darstellung der Gegenwelt mit den Skeletten der Toten selbst für Mexikaner reichlich exotisch ist. Sie stellen sich ihre Toten so nämlich gar nicht bildlich vor, auch wenn sie am „Tag der Toten“ ihre Altäre und Verkaufsstände mit noch so vielen Zuckerschädeln und Skeletten schmücken. In ihrer Tradition kommen lediglich die Seelen der Toten am „Tag der Toten“ zu Besuch aus dem Jenseits, feiern mit den Lebenden ihr Fest bzw. lassen sich ausgiebig feiern, und dann verschwinden sie wieder bis zum nächsten Jahr. Richtig sehen tut man sie nicht. Dass sie tatsächlich als wandelnde, sprechende Skelette in einer Parallelwelt weiterleben könnten, ist auch in Mexiko eine eher fremd anmutende Vorstellung. Die Toten leben so lange, wie man sich an sie erinnert, jedenfalls in diesem Buch. Als das Museum abgebrannt ist und mit ihm auch die Werke des Maskenschnitzers, zerfällt sein Gerippe gleich zu Staub. Aber er lächelt dabei, wie Felix Pestemer hintergründig anmerkt. Stimmt, jetzt sehe ich es auch. Aber man muss genau hinschauen.

Man lernt viel aus diesem Buch, nicht nur über den „Tag der Toten“ und die zu diesem Fest gehörigen mexikanischen Sitten und Gebräuche, etwa den komplexen Aufbau der Toten- und Heimaltäre und die Nachtwache auf dem Friedhof (auf einem Bild hat ein Mann sogar so viel gezecht, dass er wie leblos auf einem Grab liegt). Man erfährt auch einiges über das Leben des Museumswärters Eusebio, der den jungen  Victor Rojas liebte und verzweifelt mitansehen musste, wie dieser gegen seinen Willen von seiner übermächtigen Mutter (jener ehemals kleinen Dolores, die ihre Schwester im Safe einschloss) mit der schönen Esperanza zwangsverheiratet wurde, obwohl er doch eigentlich unseren „unzuverlässigen Erzähler“ liebte. Der Unfalltod von Victor und Esperanza noch am Tag der Hochzeit bildet das tragische Ende der Liebesgeschichte und erklärt wohl auch, warum Eusebio seine alte Heimat so lange nicht mehr besucht hat.

„Leichen im Keller“ 

Die Konfrontation mit den Familiengeheimnissen der Rojas, den sprichwörtlichen „Leichen im Keller“, macht mich nachdenklich. Auf Englisch nennt man solche Geheimnisse „skelettons in the cupboard“, was man in diesem Buch ziemlich wörtlich nehmen kann. Solch merkwürdige Familienmythen von Heldentum eines Verwandten (bei den Rojas ist es der Urahn El Negro) oder vom mysteriösem Verschwinden eines Familienmitglieds (Angeles), allerlei Lebenslügen, die mit dem Totschweigen von Homosexualität (hier Victor) oder der vermeintlich glücklichen Ehe der Eltern (hier Dolores und Candelario) zu tun haben, gibt es sicher in vielen Familien. Aber so konsequent und umfassend werden sie selten aufgedeckt. Schon gar nicht mit solch hintergründigem schwarzem Humor. Der Nachhall der einzelnen Episoden war bei mir übrigens so stark, dass mir einige Bilder bis in meine Träume gefolgt sind.

Aufbau und Ausstattung dieser Graphic Novel sind kunstvoll und anspruchsvoll. Felix Pestemer schöpft alle Möglichkeiten des Comics aus, von kleinen bunten und monochromen Panelen bis hin zu üppigen doppelseitigen Bildern. Die Farben sind ruhig bis düster-dunkel, die Darstellungen feine und zum Teil wunderbar detaillierte Bleistift-, Buntstift- und Kreidezeichnungen. Die dargestellten Orte, Masken und Festlichkeiten sind häufig inspiriert von realen Vorbildern, die Felix Pestemer bei seinen Aufenthalten in Mexiko gesehen und skizziert hat. Mich hat der „Dia de los Muertos“ schon seit vielen Jahren interessiert und fasziniert. Hier in diesem Buch bin ich endlich voll auf meine Kosten gekommen. Sehr angenehm fand ich auch meine kurze spontane Unterhaltung mit dem Künstler anlässlich der Ausstellung zum „Tag der Toten“ im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum. Die vielen Fragen, mit denen ich ihn später per Mail „gelöchert“ habe, hat er jedes Mal erfreulich schnell und überaus geduldig und freundlich beantwortet.

Fazit: ein wunderbares Buch für alle, die keine Angst vor Skeletten haben und aufwändig gestaltete opulente Graphic Novels oder ungewöhnliche Bücher mögen, und natürlich auch für alle, die sich für den „Dia de los Muertos“ in Mexiko interessieren. Die Farben der Bilder konnte ich hier leider nur ungenügend wiedergeben, denn das Buch ist zu groß für meinen Scanner. In Wirklichkeit sind die Farben viel schöner.

Das großformatige Buch ist erschienen beim avant-Verlag und kostet 24,95 Euro

Felix Pestemer hat eine eigene Homepage mit vielen Bildern und Informationen

Den Animationskurzfilm „Peyotl“ kann man im Internet ansehen.

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Tag der Toten – Dia de los Muertos

„Engelsrose“ von Beate Felten-Leidel

„Himmel und Erde“, so heißt es in einem keltischen Sprichwort, „sind nur drei Fuß voneinander entfernt“, doch wenn man sich an einem thin place befindet, sind sich unsere Welt und die Anderswelt mitunter sogar noch näher. Ich habe mich in der keltischen Welt einige Male völlig unbeabsichtigt an einem thin place wiedergefunden und werde diese Erfahrung mit Sicherheit niemals vergessen. Ich weiß nicht, ob es den Ausdruck schon gibt, aber ich glaube auch an thin times, Zeiten, in denen sich der Vorhang zwischen den Welten für kurze Zeit hebt oder ganz aufreißt. Es sind Zeiten, in denen sich die Toten und Lebenden näher sind als sonst und die nächtlichen Träume intensiver und gewaltiger. In diesen Momenten kann man sekundenlag die Zehenspitzen in die Anderswelt setzen oder einen flüchtigen Blick hinein werfen, und es fühlt sich merkwürdigerweise an wie ein Hauch von Ewigkeit. Die Zeit steht still, die Kamera funktioniert plötzlich nicht mehr, und man spürt nur noch tiefe Ehrfurcht. Die dunkle Jahreszeit scheint viele Türen zu thin times zu beherbergen.

Der November ist sicher nicht von ungefähr in vielen Teilen der Welt der Monat, in dem man der Toten ganz besonders gedenkt. Katholiken feiern am 1. November Allerheiligen und am 2. November Allerseelen. Am 11. November ist in Großbritannien Remembrance Day. An diesem Tag erinnert man sich an die gefallenen Soldaten. Der Tag heißt auch Poppy Day wegen der roten Mohnblüten, die alle tragen zur Erinnerung an die auf Flanderns Feldern im Ersten Weltkrieg Gefallenen. Heute, am 19. November, ist bei uns Volkstrauertag. Früher fuhr mein Vater an diesem Tag mit mir auf einen der großen Soldatenfriedhöfe am Niederrhein und stand stumm und traurig vor den unzähligen weißen Kreuzen. Auf vielen stand nur „unbekannter Soldat“, was mich als Kind tief verstörte. Ich war – und bin bis heute – beim Anblick dieser anonymen Gräber jedes Mal den Tränen nahe. Protestanten begehen am 26. November am Ende des Kirchenjahres den Ewigkeitssonntag, auch Totensonntag genannt. Alle diese Totengedenkfeste sind besinnliche, stille, dunkle, überaus traurige Tage. Mit dem Tod ist nicht zu spaßen. Das wagt man offenbar nur in Mexiko. Dort fordert man ihn sogar lachend zum Tanz auf.

„Tag der Toten“

Als ich 1991 in London die Ausstellung „The Skeleton at the Feast – The Day of the Dead in Mexico“ besuchte, ahnte ich nicht, dass mich die Faszination für dieses Fest nicht mehr los lassen würde. Mir gefiel die Verknüpfung von liebevollem Totengedenken mit schierer Lebensfreude, kunterbunten Farben, skurrilen Süßigkeiten, orangefarbenen und gelben Blumen, Fotos und Lieblingsessen der Verstorbenen, Kerzen, Musik, Räucherwerk, Singen, Essen und Trinken, Tanzen und Feiern.

„Barbara“

Merkwürdigerweise (oder vielleicht auch nicht, denn das kleine Mädchen in dem Roman, den ich gerade schreibe, liebt dieses Fest) habe ich gerade in diesem Jahr große Lust, meine Ahnen auf  überschwängliche, lebensbejahende Art zu feiern. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass verzierte Zuckerschädel und baumelige kleine Skelette aus Pappmaché bei meinen strengen erzkatholischen niederrheinischen Vorfahren nur auf extremes Missfallen stoßen würden. Daher beschränke ich mich bei meiner persönlichen kleinen Gedenkfeier bewusst auf gelbe Chrysanthemen, Kerzen und dezentes Räucherwerk. Dass ich ihre Fotos an diesem Tag andächtig betrachte und mit Blüten schmücke, gefällt ihnen hoffentlich. In Mexiko glaubt man übrigens, dass die Toten die Farben Orange und Gelb besonders gut erkennen, daher gehören Tagetes, Ringelblumen und Chrysanthemen traditionell zu den Blumen, die man bei diesem Fest ausstreut, um den Verstorbenen den Weg nach Hause und zurück zum Friedhof zu zeigen.

Einen kleinen Altar mit mexikanischen Elementen habe ich dieses Jahr trotzdem gestaltet.  Zum ersten Mal, weil mir bisher immer die richtigen Gegenstände fehlten. Allerdings widme ich ihn nicht meinen gestrengen Ahnen, sondern Frieda Kahlo und der Madonna von Guadalupe. Und Ray Bradbury, denn er hat mich als erster auf dieses Fest aufmerksam gemacht. Für Frieda, die ich sehr schätze, habe ich eigenhändig einen bunten Rahmen gemalt, weil ich nirgendwo einen Schrein mit ihrem Bild gefunden habe. Die kleine Feier habe ich gemeinsam mit den beiden Mädchen aus meinem Roman gestaltet. Zunächst war ich etwas skeptisch, doch es war ein totaler Erfolg. Sie sind begeistert und haben beschlossen, sich nächstes Jahr als Catrina zu verkleiden. Unbedingt. Natürlich werde ich es ihnen erlauben, denn ich kann meinen Romankindern nun mal nichts abschlagen, und Marigard und Michan haben schon genug Stress in meinem Buch.

Im Kölner Rautenstrauch-Joest Museum gab es dieses Jahr am Dia de los Muertos am 1. November eine spezielle Feier mit einem riesigen Gabentisch, der von den Künstlerinnen Rosanna Velasco und Liliana Cobos gestaltet wurde. Ich war sehr gespannt und wurde nicht enttäuscht. In Büchern und Filmen hatte ich schon viele Bilder von diesem speziellen mexikanischen Fest gesehen, aber jetzt konnte ich zum ersten Mal einen richtigen traditionellen Gabentisch für die Toten bewundern. Der Altar war der surrealistischen Malerin Leonora Carrington und dem mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo gewidmet, die beide in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätten, aber auch den vielen Menschen, die bei dem schweren Erdbeben ums Leben gekommen sind. Bei der Eröffnungsfeier herrschte reges Treiben, es gab kleine Stände mit Kunsthandwerk und traditionellem Essen, mexikanische Musik und kostümierte Tänzerinnen. Zu meiner Freude hatte ich endlich Gelegenheit, einen winzigen Skelettschrein, gleich mehrere bunte Papiergirlanden, einen Zuckerschädel und, als besondere Überraschung, ein merkwürdiges kleines Tier zu erstehen, von dem selbst die Verkäuferinnen nicht so genau wussten, was es darstellt. Ich finde, es sieht aus wie eine Kreuzung aus Gürteltier und Erdferkel. Besonders beeindruckt hat mich an diesem Tag der sympathische Künstler Felix Pestemer, der seine Graphic Novel „Staub der Ahnen“ vorstellte. Ihm und seinem ungewöhnlichen Buch werde ich in den nächsten Tagen einen eigenen Eintrag widmen.

(Die Memory Karten auf dem Beitragsbild stammen aus dem Memory Spiel von Superskull.)

Der mexikanische Altar kann noch bis zum 26. November 2017 im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum besichtigt werden.

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St. Martin am Niederrhein

„Laternenkinder“ von Heidi Klett

„Fast wie Winnie“ B.F-L

Das Martinsfest im November gehörte zu den schönsten Tagen des Jahres. Wir freuten uns wochenlang im Voraus. Der Zug fand immer an einem Samstag statt. Sobald es endlich dunkel geworden war, stellten wir uns mit unseren Laternen auf und zogen dann hinter Sankt Martin und seinen beiden Begleitern durch die Dorfstraßen. Sankt Martin war ein römischer Soldat. Er trug einen roten Umhang und einen silbernen Helm und ritt natürlich auf einem Schimmel. Auch seine Begleiter hatten Pferde, gelassene Bauernpferde, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen waren. Es war ein langer Zug, fast alle Kattendonker Kinder zogen mit, die Kindergartenkinder mit ihren Gruppen, die ganz Kleinen mit Müttern, Omas oder Tanten, die Schulkinder mit ihren jeweiligen Klassen. An den Seiten gingen Feuerwehrmänner und junge Burschen mit brennenden Pechfackeln, vornweg marschierte die große Blaskapelle, am Ende eine zweite, kleinere, und an den Straßenrändern standen Zuschauer aus unserem Dorf und den umliegenden Ortschaften. Auch viele Erwachsene hatten Lampions mit und schlossen sich dem Zug an.

„St. Martin“ von Ulla Genzel

In diesem Jahr hatten wir die Laternen selbst gebastelt. Wir hatten schwarzen oder farbigen Karton zu Röhren zurechtgeschnitten und mit buntem Transparentpapier beklebt. Auf meiner Laterne sah man Gänse mit langen Hälsen, auf Winnies gelbe Sterne und Sankt Martin hoch zu Ross. Das Pferd war ihr besonders gut gelungen. Direkt über dem Pferdekopf hing eine kleine Fledermaus. Winnie wollte unbedingt etwas Gruseliges auf ihrer Laterne haben. Wölfe und Indianer durften wir ja leider nicht machen, weil sie mit dem Fest direkt nichts zu tun hatten.

„St. Martin am Tor“ von Caroline Riedel

„Spooky“ von B. F-L

In allen Lampions steckten echte Kerzen. Immer wieder ging irgendwo eine Laterne in Flammen auf, wurde aber schnell gelöscht, denn die Feuerwehr war in solchen Notfällen sofort zur Stelle. Die armen Fackeln waren danach unbrauchbar und blieben am Straßenrand zurück, und die ehemals stolzen Besitzer und Besitzerinnen waren meist in Tränen aufgelöst. Jeder hatte Angst, dass es ausgerechnet seine Löid erwischen könnte, sobald der Wind stärker wurde und die leuchtende Pracht gefährlich zu wackeln begann. Wir waren umgeben von riesigen Sonnen und Monden, bunten Kugeln und Würfeln, Gänsen und Enten, Mäusen, Fischen, Blättern, Scherenschnitten und Regenbögen, japanischen Faltlaternen mit Bommeln, kleinen und großen Häusern mit beleuchteten Fenstern. Vorneweg marschierten zwei Kinder mit der Schullaterne, sie stellte die Kattendonker Kirche mit Turm und Wetterhahn dar und thronte auf zwei dicken Holzstäben. Die Träger wurden regelmäßig ausgewechselt, so schwer war die Laterne. Die Blaskapelle spielte ein Lied nach dem anderen, und wir sangen aus voller Kehle:

"St. Martin! St. Martin!
 
St. Martin ritt durch Schnee und Wind. 
Sein Ross, das trug ihn fort geschwind."

„Eulenzauber“ von Beate Felten-Leidel

Es war sehr feierlich. Inzwischen war es ganz dunkel, und wir zogen immer noch durch das Dorf. Überall standen Leute und winkten uns zu, Mütter hatten ihre Babys auf dem Arm, Geschäftsleute standen vor ihren Läden. Auf manchen Fensterbänken sah man flackernde Kerzen, in den Fenstern hingen gelbe Mondgesichter. Wir zogen in Richtung Schule. Die Kapelle spielte auch mein Lieblingslied mit der traurigen Melodie.

"Der Herbststurm braust durch Wald und Feld, 
Die Blätter fallen nieder,
 
Und von dem dunklen Himmelszelt
 
Sehn schwarz die Wolken nieder. 
St. Martin reitet dann sein Pferd, 
So schnell die Wolken eilen,
 
In seiner Rechten blitzt das Schwert, 
Die Nebel zu zerteilen."

„Loop Kenger loop“ von Beate Felten-Leidel

Die drei Pferde gingen ganz langsam, blieben manchmal stehen und schnaubten, scharrten mit den Hufen oder versuchten halbherzig, zur Seite auszubrechen, aber es passierte nie etwas. Sie wurden von Männern geführt, die darauf achteten, dass sie schön ihren Weg einhielten. Wir hatten unser eigenes plattdeutsches Lied, das es nur in der Gegend von Kattendonk und Grefrath gab. Also in Oedt und Mülhausen, Hinsbeck, Lobberich und Kempen. Trotzdem gab es hier Abweichungen. In Kempen war der Text ganz anders. An unserem Lied erkannte man sofort, ob jemand aus Kattendonk kam.

"Tsent Meerten ös no all wär heei, 
loop Kenger loop,
 
wenn heä os röpt:
ich bön al heei, 
loop Kenger loop. 
On die Löid en de Hongk 
un dat Kärtsken aanjebrongk 
on die Schtroat aav on op, 
loop Kenger loop!"

„Teufelchen“ von B. F-L

Wir hatten kalte Füße und leuchtende Augen und wurden immer aufgeregter, denn wir näherten uns allmählich dem riesigen lodernden Feuer mit dem frierenden Bettler. Als wir näher kamen und uns hinter der Absperrung versammelten, stand er auf und ging langsam um das Feuer herum. Er trug viel zu große Sandalen mit Stroh darin. Sankt Martin ritt auf das Feuer zu. Sein Pferd schnaubte; man sah, wie Dampfwolken aus den Nüstern stiegen. Plötzlich verstummte die Musik, das Feuer krachte und prasselte, und Sankt Martin erreichte den armen Mann.

Es sah aus wie ein Scherenschnittfilm, und wir waren ganz still. Der Bettler streckte bittend die Hand aus, Sankt Martin neigte sich zu ihm herab und sprach mit ihm. Dann zog er das Schwert, teilte seinen Mantel und reichte die eine Hälfte dem Bettler, die andere hängte er sich selbst um. Das Feuer loderte, die Flammen schlugen hoch in die Nacht, und die Funken stoben in alle Richtungen. Der Bettler wickelte sich in den halben Umhang. Jetzt setzte die Musik wieder ein. Wir sangen unser Lied schnell zu Ende, denn danach begann das große Feuerwerk.

„Laterne, Laterne“ von Andreas Schmelz

Erwartungsvoll und etwas ängstlich schauten wir in den Himmel, wo unzählige Raketen krachend und pfeifend hochstiegen. Die Welt explodierte in den schönsten Farben. Überall fielen langsam kleine und große Sterne zur Erde. Funken regneten auf uns herunter und erloschen meistens schon, bevor sie den Boden berührten. Winnie und ich hielten uns fest an den Händen. Alle schauten hoch, ihre Gesichter strahlten mal rot, mal grün, mal blau, mal gelb. Es war jedes Mal atemberaubend.

So schön wie mit Winnie in Kattendonk ist St. Martin nie wieder für mich gewesen. Ich wusste es damals nur noch nicht.

(Auszug aus: „Mit Winnie in Kattendonk“)

„Mond“ von Simone Garland

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Hohenlohe am Brüsseler Platz

„Kupferhofallee“ von Andreas Schmelz

An den stimmungsvollen Herbstimpressionen von Andreas Schmelz freue ich mich schon seit Wochen, vor allem seine Kupferhofallee hat es mir angetan, denn sie ist auch in dieser Jahreszeit wunderschön. Hohenlohe muss ein ganz besonderer Ort sein, und ich nehme mir wieder einmal vor, nächstes Jahr unbedingt dorthin zu fahren.

„Lichtspiel“ von Andreas Schmelz

Andy sehe ich im Moment jeden Tag, auch wenn er selbst davon nichts merkt und ich ihn außerhalb der Literatur noch nie persönlich getroffen habe. Aber ihm gehört die Bäckerei und Konditorei in dem Roman, den ich gerade ein letztes Mal „poliere“, und wir holen morgens bei ihm unsere Brötchen. Sie sind genau so wie Brötchen sein sollten, außen knusprig und innen luftig, was heute fast schon eine Seltenheit ist. Und seine Croissants machen geradezu süchtig.

Noch vor wenigen Tagen hat er meinen Buch-Kindern zu Halloween hübsche Tüten mit Vanille Fudge geschenkt. Es waren besondere Tüten, denn er hatte eigenhändig grinsende Kürbisse darauf gemalt. Die Mädchen waren diesmal beim „Grabschen“ (ihr Spezialwort für den Trick or Treat-Heischegang, geborgt von den Peanuts) als Herbstgeister verkleidet, und sogar Andys Spaniel war entzückt. Maja hat alle Kinder trotz der tollen Verkleidung sofort erkannt und begeistert bellend umkreist. Andy hat sie auch erkannt, aber er hat es nicht verraten, um ihnen den Spaß nicht zu verderben.

„Irgendwo in Hohenlohe“ von Andreas Schmelz

An Thanksgiving sind Andy und Bärbel zusammen mit einigen anderen Personen aus meinem Buch am Brüsseler Platz 4A zum Festessen eingeladen. Weit haben sie es nicht, sie brauchen nur zwei Häuser nach rechts zu gehen, wenn man direkt vor der Konditorei „Schmelzle“ steht. Das Haus kann man nicht verfehlen, denn unten ist das Antiquariat Halibutt Vater & Sohn. Als Schriftstellerin weiß ich auch schon, was es  zu essen gibt und dass nicht alles so glatt läuft wie es sollte, weil der melancholische Sparky und die exzentrische Coco sich mal wieder übel verkracht haben. Beide sind Übersetzer, Sparky ist Spezialist für Kunst, auch wenn er oft genug Mühe hat, die komplizierten Texte zu verstehen, Coco ist Fachfrau für Esoterik. Das Essen ist trotzdem ein Gedicht. Es gibt Kürbissuppe mit Ingwer, Truthahn mit Süßkartoffeln und glasierten Möhren und zum Nachtisch Mousse au Chocolat. Den Nachtisch bringt Andy höchstpersönlich mit. Genau wie das leckere Kartoffelbrot zur Suppe. Kartoffelbrot gehört auch zu seinen Spezialitäten. (Keine Ahnung, ob der echte Andy Kartoffelbrot mag.) Dass er köstliche Schneeballen backen kann, weiß hier jeder, aber die gibt es im Buch erst vor Weihnachten, weil sie den Kölnern leider doch etwas schwer und ungewohnt im Magen liegen. In Hohenlohe, sagt Buch-Andy, gibt es sie in jeder Bäckerei. Und zwar in den unterschiedlichsten Varianten. Hier in der Konditorei „Schmelzle“ allerdings nur klassisch. Vielleicht lernen die Kölner sie ja irgendwann richtig schätzen. Zu St. Martin in ein paar Tagen gibt es natürlich traditionsgemäß Weckmänner, Püfferkes, leckere Krapfen mit Rosinen und kleine Mutzenmandeln. Die gibt es in Köln auch an Karneval.

„Waldweg“ von Andreas Schmelz

Mein Buch-Andy hat gerade Heimweh nach seiner Heimat Hohenlohe, denn in der Konditorei präsentiert er schon seit einigen Wochen seine geliebte Foto-Herbstausstellung. Es sind in diesem Jahr (im Buch wird es übrigens auch noch einen zweiten Herbst geben) genau die Bilder, die hier im Beitrag zu sehen sind, allerdings in SEHR GROSS. Sein „Zauberwald“ ist hier inzwischen wohlbekannt. Da können die Bäume am Brüsseler Platz leider nicht mithalten, auch wenn sie vor St. Michael, der Kirche gegenüber, gerade jetzt sehr malerisch wirken. Wenn sie ihre Blätter ganz verloren haben, kann man auch wieder die Engel mit den langen spitzen Flügel vor dem goldenen Mosaik sehen, und den Heiligen Michael oben über dem Eingang. Zu seinen Füßen liegt ein Drache, doch die Mädchen finden, dass er eher aussieht wie ein Babykrokodil.

Langsam werden die Nächte kühler, und wenn Andy frühmorgens mit der Kiepe auf dem Rücken auf dem Fahrrad seine Brötchen ausfährt (darauf besteht er, weil es einfach schöner aussieht und gute alte Tradition ist), sieht man ihn oben vom Erkerfenster meiner Buch-Familie nur noch verschwommen, denn es kann um diese Zeit schon recht neblig sein. Meistens merkt er, dass wir ihn beobachtet, hebt den Kopf, lächelt und winkt uns freundlich zu.

„Stille“ von Andreas Schmelz

Das Bild mit dem Fliegenpilz hängt immer noch vorn neben der Konditoreitür. Schon seit Monaten. Als Andy es vor einiger Zeit abnehmen wollte, legten seine Stammkunden sofort lautstark Protest ein. Sogar der alte Herr Christen aus der Lütticher Strasse, der sonst kaum spricht. Das Bild sei einfach zu schön, sagt er. Es erinnert ihn an seine Kindheit und an das alte Kinderlied „Ein Männlein steht im Walde“, auch wenn damit eigentlich die Hagebutte gemeint ist. Aber das weiß er vielleicht nicht. Früher gab es jedenfalls eindeutig mehr Fliegenpilze als heute. Das sagt nicht nur Herr Christen.

„Fliegenpilz“ von Andreas Schmelz

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