Rooms and Stories – Köln Klettenberg

Turtle (Ana Singh/unsplash)

Früher war die Wohnungssuche äußerst mühselig, besonders für Studenten (dieses Problem ist offenbar geblieben, aber zumindest gibt es heute Immo Scout). In den 1970er und 1980er Jahren gab es weder Mails noch Internet und die meisten von uns hatten nicht mal ein eigenes Telefon, also blieben uns nur öffentliche Telefonzellen, die Vermittlung des ASTA/Studentenwerks (heute natürlich Studierendenwerk) und das schwarze Brett in der Mensa, wo regelmäßig Zimmer und Wohnungen angeboten wurden, sowie die Kölner Tageszeitungen, die mittwochs und samstags seitenweise Mietangebote abdruckten. Um einen der begehrten Besichtigungstermine zu ergattern, musste man sich bereits dienstags- oder freitagsabends zu Dumont in der Breite Straße begeben, um bei Wind und Wetter für die frisch gedruckte Ausgabe Schlange zu stehen, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte, aber man lernte dabei gelegentlich auch nette Leute kennen oder traf alte Bekannte. Am besten ging man zu zweit, eine Person besorgte die Zeitung, während die andere mit genügend Münzen in der Tasche eine Telefonzelle in der nahegelegenen Ladenstadt blockierte oder, netter gesagt, „reservierte“.

In meinem Fall war die zweite Person meine damals beste Freundin Karla. Wir waren während unserer gesamten Studienzeit nahezu unzertrennlich, haben uns inzwischen aber seit fast dreißig Jahren aus den Augen verloren. Unsere Zimmersucheinsätze waren häufig, erfolglos und frustrierend. Die meisten Wohnungsanbieter hoben nicht ab oder waren dauerbesetzt, weil sie den Hörer neben den Apparat gelegt hatten oder mit anderen Interessenten redeten. Die wenigen, zu denen man durchdrang, waren verärgert, weil man sie zu dieser Uhrzeit oder überhaupt störte, oder teilten einem unfreundlich mit, dass man zu spät komme oder dass sie keine Studenten als Mieter wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir Karlas Wohnungen auf diese Weise fanden, wohl aber an unseren Frust an den Suchabenden. Meistens endeten wir danach im „Bepi“ und trösteten uns mit Pizza, Lasagne oder Tortellini alla Panna.

Karlas erstes Zimmer war möbliert und lag strategisch äußerst praktisch in Klettenberg. Genau an der Endhaltestelle der Straßenbahn, die dort im großen Bogen dreht und anschließend in die Stadt zurückkehrt. Zu dem mittelgroßen, leider ziemlich dunklen Raum gehörte ein großzügiger gemauerter Balkon, von dem aus man (unsichtbar, beide) Melonenkerne auf den gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter schnipsen oder laut und durchdringend wie eine Katze (nur ich) miauen konnte, woraufhin unten im Garten sämtliche Menschen aufgeregt hin und her liefen und wie wild nach dem vermeintlichen Tier suchten, während wir in unsrem Versteck leise kicherten. Im Haus gegenüber wohnte ein Pärchen, das wir Romeo und Julia nannten, denn genauso verhielten sie sich, gut sichtbar für alle interessierten Zuschauer. Ich glaube, sie legten es darauf an, beobachtet zu werden, denn sie zogen die Vorhänge und Gardinen nie zu. Im Sommer waren sie mitunter auch gut zu hören.

Auf Karlas Balkon trank ich zum ersten Mal Rotwein, war zum ersten Mal beschwipst und fand das Leben schlagartig ungemein erheiternd und sorgenfrei. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dabei sogar eine merkwürdige Vision, in der weiße und blaue Seelen munter im Wind an einer Wäscheleine flatterten, womit Karla mich tagelang aufzog. Da ich die Zahl der Weinflaschen, die ich insgesamt in meinem Leben konsumiert habe, an einer Hand abzählen kann (meine Alkoholunverträglichkeit lässt sich nur bei Gin gelegentlich auf Kompromisse ein), ist die in Karlas Beisein getrunkene Menge lebenslaufmäßig geradezu beachtlich und mir daher gut in Erinnerung. Normalerweise bekomme ich schon von homöopathischen Mengen Hautausschlag, Kopfschmerzen und Herzrasen. Nicht so an jenem Abend auf dem Balkon. Karla hatte gekocht, ich glaube, ein Nudelgericht, und ich weiß noch, wie angenehm entspannt ich mich fühlte. Ich wüßte gern, wie dieser Wunderwein hieß.

Der Raum war spartanisch möbliert und Teil einer Art WG, die von einer sehr netten anderen Studentin und dem gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter mitbewohnt wurde, es gab kein Telefon und nur ein gemeinsames Bad im Flur. In Karlas Zimmer gab es zwar fließend Wasser, aber leider keine Kochnische. Karla organisierte sich schon bald zwei Kochplatten und hatte die geniale Idee, dahinter und darüber alles aufzuhängen, was sie ärgerte, suboptimale Scheine von der Uni, kryptische Bescheide von Ämtern und unsensible Briefe von Leuten, die sie nicht mochte. Mit der Zeit war ihre Collage über und über mit Fettflecken bedeckt, was nicht nur interessant anzusehen war, sondern auch der verletzten Seele ungemein guttat. Ich weiß nicht mehr genau, ob Karla schon in dieser Wohnung anfing, Schildkröten zu sammeln, weil der Mann, den sie liebte, mich an eine Schildkröte erinnerte und wir ihn daher Turtle nannten. Auf jeden Fall denke ich beim Anblick von Schildkröten bis heute sofort an sie. Und an ihn.

Karlas Zimmer waren immer voller Musik, in jener ersten Wohnung sangen Wolf Biermann, Hannes Wader, Joni Mitchel und Arlo Guthrie für uns, aber vor allem André Heller und Leonard Cohen. Letzteren hatten wir gemeinsam an einem dunklen kalten Abend in der Cinemathek entdeckt. Es war Karlas Idee gewesen, sich den Film „Bird on a Wire“ anzusehen, auf dem Weg dorthin meinte sie noch entschuldigend: „Der gefällt dir bestimmt nicht!“ Nie hat sie falscher gelegen! Leonard Cohen wurde meine große Liebe und ist bis heute mein favourite Singer Songwriter, nur seine letzten Alben mag nicht, weil ich die grabestiefe, trockene alte Stimme nicht ertrage. Sie deprimiert mich, klingt nach klebrigen Mundwinkeln und macht mir Angst vor Alter und Tod. Die junge, sehnsuchtsvolle Stimme dagegen hat bis heute nichts von ihrem knisternden Wallungsfaktor eingebüßt und mich im Laufe meines Lebens oft getröstet und verstanden und bei mindestens zwei meiner männlichen Freunde zu erschreckend heftigen Eifersuchtsanfällen geführt. Eifersucht auf eine STIMME! Ich habe ihn bisher trotzdem immer und überall bei mir gehabt, lange hing sogar ein Portrait von ihm an meiner Wand. Mit Karla hörte ich vor allem seine frühen Platten „Songs of Leonard Cohen“ und „Songs from a Room“.

Das Bett in der Klettenberger Wohnung stand auf dünnen Wackelbeinen, man hatte ein wenig Sorge, es durch eine unbedachte Bewegung zum Zusammenbruch zu bringen, doch es erwies sich letztendlich als erstaunlich robust. Zum Glück hatte Karla eine extra Matratze, wenn es zu spät, zu unbequem oder zu gefährlich war, um allein mit der Straßenbahn heimzufahren. Also relativ häufig. Ich wohnte zu dieser Zeit noch in dem katholischen Studentinnenheim mit der strenger Hausordnung in der Nähe des Volksgartens, von dem ich bereits geschrieben habe, zuerst im Doppelzimmer, später in einem im Sommer stark überhitzten Einzelzimmer unter dem Dach, wo bei höheren Außentemperaturen die Luft stand und die Kerzen nur so dahinschmolzen. Männliche Besucher waren im Heim ausdrücklich unerwünscht und durften eigentlich nur im Gemeinschaftsraum im Keller getroffen werden. Feste Freunde waren damit in den meisten Fällen so gut wie erledigt und blieben dem Ort freiwillig fern. Mit einer Ausnahme: Es gab eine Studentin, die ein großes Eckzimmer bewohnte und gleich zwei Partner hatte, die voneinander nichts ahnten und sich nach einem genial ausgeklügelten Plan regelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten bei ihr einfanden. Es funktionierte perfekt, und wir haben sie alle heimlich beneidet. Ich habe mich oft gefragt, wie sie es geschafft hat, dass sie nie bei der Heimleitung verpetzt wurde und dass ihr Doppelleben nie aufflog.

Die wenigen Male, die Karla bei mir übernachtet hat, gab es jedenfalls mehrfach ärgerliche „Zwischenfälle“. Einmal wurde die Heimleiterin gerufen, weil ich zwei Tassen aus meinem Küchenfach mit in mein Zimmer genommen hatte. Ich war allein in der Küche, nahm wie immer die geniale Abkürzung durch Sakristei und Kapelle (direkt neben meinem Zimmer) und habe während der ganzen Zeit keine Menschenseele gesehen. Trotzdem muss es eine Spitzelin gegeben haben, ich hegte auch einen gewissen Verdacht, konnte aber nichts beweisen. Die Heimleiterin betrat schon kurz darauf nach höflichem Anklopfen das Zimmer, um sich zu vergewissern, dass auch nichts Anstößiges im Gange war, sah uns harmlos beim Tee sitzen, entschuldigte sich peinlich berührt und verschwand. Nicht auszudenken, wenn Karla ein männliches Wesen gewesen wäre. Nach neun Jahren Klosterschule und drei Jahren katholischem Studentinnenheim war ich übrigens recht lange ziemlich paranoid, und ich schaue mich bis heute immer noch mißtrauisch um, bevor ich etwas Unnettes über andere Leute sage.

Während der Einzelzimmerzeit machte es abends deutlich mehr Spaß, nach Kino- oder Theaterbesuchen gemeinsam mit zu Karla nach Klettenberg zu fahren als allein in das schräge Zimmer zurückzukehren, denn sie konnte im Gegensatz zu mir gut kochen, hatte genug Platz und einen eigenen Plattenspieler. Zudem war ihr Zimmer auch im Sommer angenehm kühl. Es war eine ganz besondere Stimmung, wenn Leonard Cohen in der Dunkelheit von weither ganz allein nur für uns sang. „Suzanne“, „Winter Lady“ und „So long Marianne“ waren damals meine besonderen Favoriten. Das letzte dieser Lieder hat, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, tatsächlich einmal (von der richtigen Person gesungen) eine eigentlich bis dahin intakte Beziehung schlagartig und nachhaltig ruiniert, doch das ist eine längere, ziemlich komplizierte Geschichte. Auch der klagende Wienersound von André Hellers Musik und Poesie beamt mich bis heute zurück in Karlas Zimmer, doch diese Musik höre ich bewußt nur selten, denn sie ist so eng mit Karla verknüpft, dass sie mich traurig macht. Besonders gern hatten wir beide „Schön ist’s ein Narr zu sein“, das ich bis heute auswendig kann. „Die Narren des Königs saßen am Ufer der Nacht, lauschten dem Tamburin des Mondes, das die Stille bewacht. Sie zogen den Schnee mit Netzen ans Land und schmückten ihn mit Dukaten. Und ihre Kappen leuchteten, wie Segel von Piraten.“

Bei Karla sprachen und sangen die Dichter, allen voran Bert Brecht. Besonders oft hörten wir in meiner Erinnerung die „Ballade von der Hanna Cash“, gesungen von Hannes Wader. Einige Zeilen daraus sind mir im Kopf geblieben: „Das war die Hanna Cash mein Kind, die die Gentlemen eingeseift, sie kam mit dem Wind und sie ging mit dem Wind, der durch die Gassen läuft“. Ich höre noch Hannes Waders Stimme und seine Gitarre: „Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt, eine kleine graue Katze, zwischen Hölzer eingeklemmt, zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle“.  Auch der „Barbarasong“ hat ein fernes Echo, diesmal ist es eine Frauenstimme: „Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da musste so viel geschehen, Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.“ Auch die Seeräuber Jenny lässt in meiner musikalischen Erinnerung bis heute die Köpfe rollen.

Karla gab ihr kühles Klettenbergzimmer auf, als wir Köln verließen, um als Assistent Teachers in England zu arbeiten. Dort trennten sich unsere Wege vorübergehend, doch wir blieben telefonisch und brieflich in Kontakt und trafen uns regelmäßig in London oder bei mir in Gravesend. Karla wohnte leider bei einer arg gestörten Gastfamilie, deren männliches Oberhaupt sich selbst für „tall, dark, and handsome“ hielt. Tall und dark war er tatsächlich. Handsome eindeutig nicht. Not at all!

Zurück in Köln waren wir wieder zusammen. Bis eines Tages der Schnee in unsere Seelen fiel und wir einander aus für mich unerklärlichen Gründen gänzlich und wohl für immer verloren.

Turtle (Francesco Ungaro/unsplash)

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Rooms and Stories – Vaterzimmer

Anfang November 1975 kommt der Fremde, der bis vor kurzem noch Freund und Geliebter war, aus Köln in ihr Elternhaus, um sich förmlich und für alle Zeiten aus dem Familienleben zu verabschieden. Das gehört sich so, meint er, immerhin ist er fast sechs Jahre lang hier ein und aus gegangen, da kann man nicht ohne Erklärung von heute auf morgen wegbleiben. Sie würde sich das nicht trauen an seiner Stelle. Mit der Mutter hat sich der Fremde nicht sonderlich gut verstanden, sie ist ihm nach den ersten Katastrophen mit Misstrauen begegnet und hat das böse Ende schon damals kommen sehen. Den frühen Treuebruch hat sie ihm nicht verziehen, zu sehr hat sie mit ihrer Tochter gelitten. Auch die Tochter hat diese erste Verletzung nicht verwunden. The first cut ist he deepest, besonders, wenn man erst fünfzehn ist. Der Vater dagegen hat ihn mit Nachsicht behandelt und als eine Art Sohn betrachtet. Der Grund ist klar. Die beiden sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, was den Vater milde stimmt und die Mutter argwöhnisch macht. Sie will verhindern, dass die Tochter dieselben Erfahrungen machen muss wie sie, was ihr nicht gelingt.

An diesem Novembertag ist der Vater hin und her gerissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter und dem Verständnis für den jungen Fremden. Seitensprünge, Trennungen und dramatische Auftritte kennt er zu Genüge aus seinem eigenen Leben. Die Tochter spielt heute nur eine Nebenrolle, bleibt vor allem Statistin und kann nicht glauben, dass der Fremde tatsächlich für immer geht. Die Liebe, die sich so lange tapfer und leidenschaftlich auf dem brüchigen Fundament gehalten hat, wird diesen Tag nicht überleben.

Zu dritt gehen sie hinauf ins Zimmer des Vaters im ausgebauten holzverkleideten Dachgeschoss der Doppelhaushälfte. Die Tochter setzt sich auf das Couchbett unter die Schräge und starrt die ausgestopften Vögel am Kamin an. Käuzchen, Elster, Bussard, Stockente, Gänseküken. Der junge Fremde mit dem vertrauten Gesicht setzt sich auf den linken, der Vater, dem man seine Erschütterung ansieht, auf den rechten hellbraunen Ledersessel.

„Ich muss Ihnen was sagen, aber ich glaube, Sie wissen es schon“, beginnt der junge Mann gleich nach der Begrüßung seinen Monolog. „Ich habe in Köln jemanden kennengelernt.“ Er fasst sich kurz, will den letzten Auftritt hier möglichst schnell hinter sich bringen. Die Szene ist ihm peinlich, wird durch das doppelte Schweigen nicht leichter, aber er steht sie durch. Die Tochter kann ihm nicht zuhören, sie braucht all ihre Kraft für sich selbst, denn ihr Innerstes ist dabei sich aufzulösen. Bewegungslos, nur das Kinn zuckt gelegentlich, sitzt sie auf dem Bett. Weint. Lautlos. Unaufhörlich rinnen die Tränen. Sie hat keine Kontrolle über ihre Augen. Der Vater blickt immer wieder zu ihr hinüber, wirkt verstört, hat sie noch nie so weinen sehen, kann sich nur mit Mühe beherrschen. Seine Stirnader verrät, wie Wut, Liebe und Mitleid in ihm kämpfen.

Die Tochter vermutet, dass Schwester und Mutter an der Tür lauschen. Sollen sie ruhig. Sie gehören ebenfalls zur Schlussszene, auch wenn die Kontrahenten im Zimmer den Dialog offenbar als Männersache betrachten. Beim Vater wird um die Hand der Tochter angehalten, das hat der Fremde im Laufe der Jahre mehr als einmal direkt und indirekt getan, dem Vater gibt man sie am Ende der Beziehung auch wieder zurück.

Der Fremde kommt zum Schluss, sagt, dass ihm das alles wirklich sehr leid tue, was möglicherweise sogar stimmt. Die letzten Sätze kommen ihm leicht über die Lippen, denn sie bedeuten, dass sein Auftritt überstanden ist. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Vielen Dank für alles.“ Er streckt die Hand aus, der Vater ergreift sie. Oder lässt er sie in der Luft hängen? Schweigt er? Erwidert er etwas? Wünscht er dem Fremden auch alles Gute? Die Tochter nimmt nichts mehr wahr.

Sie fühlt sich leer, verlassen und taub, schaut immer nur auf den traurigen Fuchswelpen, der starr vor dem Kamin auf dem Boden hockt. Der Vater hat den armen kleinen Kerl tot auf der Straße gefunden und ausstopfen lassen, wie alle Tiere hier im Zimmer. Er kann genauso wenig mit dem Tod umgehen wie seine Tochter. Diese schönen Geschöpfe, die eben noch quicklebendig durch den Wald liefen oder flogen, einfach liegen und verrotten zu lassen oder lieblos zu entsorgen, bringt er nicht übers Herz. Ausgestopft sind sie zumindest noch da, man kann sie betrachten, ihr Gefieder oder Fell bewundern, sie berühren und vorsichtig streicheln, so haben sie wenigstens noch ihr Gesicht. Außer der Tochter versteht das kaum jemand, bei einigen Besuchern löst die Sammlung eher Befremden oder Unbehagen aus. Im Raum wird es still. Nur noch das Ticken der kleinen Uhr ist zu hören. Alles ist gesagt. Die Darsteller erheben sich. Ende des Auftritts. Abgang der männlichen Hauptperson.

Kleiner Fuchs (BFL)

Szenenwechsel.

Der junge Mann geht vor ihr die Treppe hinunter, sie sieht seinen Nacken und erinnert sich, wie sie sich mit vierzehn in der Christmette in diesen Nacken verliebt hat. An Weihnachten saß sie in der Dorfkirche, auf der verbotenen Männerseite, neben dem Vater, genau hinter diesem Fremden, der von ihrer Gegenwart nichts ahnte und spürte. Vielleicht war dies die einzige wirklich romantische Szene in diesem langen Beziehungsdrama, doch außer ihr hat sie damals niemand bemerkt. Als das Mädchen auf dem harten Fußbänkchen kniete, sie konnte sein Rasierwasser riechen, berührten ihre Fingerspitzen heimlich sein Haar, nur ganz kurz, und die mächtigen, jäh aufgebrochenen Gefühle machten sie gleichzeitig glücklich, traurig und fassungslos.

Jetzt gehen sie die zweite Treppe hinunter. Die Treppen in diesem Haus sind steil. Man muss gut aufpassen. Der Vater folgt ihnen nicht, bleibt oben im Vaterzimmer, hat Mühe, sich von dem Auftritt zu erholen.

Als sie unten ankommen, verschwindet die Mutter mit versteinerter Miene in die Küche, der Abschiedsgruß des Fremden bleibt unerwidert. Die Mutter nimmt die Szene persönlich. Die kleine Schwester auch. Sie wartet bereits an der Haustür, reißt sie weit auf, starrt den Fremden verächtlich an, rennt vor ihm zum Wagen, tritt hart gegen den Vorderreifen, schreit „Du Schwein, du Schwein!“ und spuckt ihm vor die Füße. Die große Schwester muss trotz Tränen lächeln. Der Fremde umarmt sie flüchtig und murmelt Unverständliches. Wahrscheinlich hat er jetzt trotz allem Mitleid, denn er weiß wohl, wie selten sie weint. Am liebsten würde sie ihn hart ins Gesicht schlagen, doch ihre Hände wollen ihn unbedingt ein letztes Mal umarmen. Er steigt ins Auto und braust davon. Sie beginnt zu zittern, spürt die warme Hand der kleinen Schwester und weiß, dass sie ab jetzt das vertraute Motorengeräusch niemals mehr hören wird. Niemals. Ein wundes, wehes Wort.

Der Vater bleibt lange oben im Vaterzimmer und stellt sich vor, wie er den Mistkerl mit einer seiner Jagdwaffen über den Haufen schießt. Der Gedanke ist ihm schon gekommen, als noch alle oben in seinem Zimmer waren. Einfach kurzen Prozess machen. Wie im Krieg. Verräter haben es nicht anders verdient. Tatsächlich sieht der Vater tagelang aus wie nach einem Todesfall, wütet und tobt, wie er es immer zu tun pflegt, wenn er sich gedemütigt oder ohnmächtig fühlt. Er regt sich fast so sehr auf wie seine Tochter, nur in die emotionale Gegenrichtung. Er brennt, sie erfriert.

Spät am Abend, als es ihr richtig elend geht und sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, klingelt das Telefon. Es ist ihr englischer Freund P., der unerwartet aus Cambridge anruft, weil er schon die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es ihr nicht gut geht. Die Mutter holt sie aufgeregt nach unten, ungläubig nimmt die Tochter den Hörer auf. Dass er so fern ihren Schmerz spüren kann, tröstet sie. Auf diese tiefe Seelennähe war sie nicht gefaßt. Nach dem Gespräch kann sie zum ersten Mal seit langem ruhig einschlafen. Vielleicht gibt es ja doch eine Zukunft, denkt sie vorsichtig. Jenseits des Abgrunds.

Stockente (BFL)

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Rooms and Stories – Hotel Terminus Est, Zimmer 606

Kurz vor Beginn meines Studiums fahre ich im August 1974 mit drei gleichaltrigen Mädchen mit dem Bus nach Paris. Leider ist es keine Klassenfahrt, alle anderen Teilnehmer sind bedeutend älter als wir, sprechen nicht mit uns und schmettern während der Fahrt deutsche Schlager, bei denen wir normalerweise sofort das Radio abstellen. Wir lieben englische und amerikanische Musik. Der gemischte Kegelklub dröhnt besonders. Schon nach einer Stunde brummt uns der Kopf.

Dafür ist das Hotel eindrucksvoll, meine Freundin Irmi und ich bekommen ein großes Doppelzimmer im sechsten Stock, Chambre 606. Ich bin so angetan, dass ich sofort eine Skizze anfertige. „Wir wohnen hier wie die Fürsten“, schreibe ich ins Tagebuch. „Alles ist ungeheuer sauber. Nur das Toilettenpapier ist wie Butterbrotpapier, total saugunfähig.“

Wir haben auch einen Balkon, und da ich Höhen liebe, würde ich am liebsten stundenlang hier stehen, der Stadt zuhören und tief hinunter oder weit in die Ferne schauen. Wir wohnen genau gegenüber vom Kopfbahnhof Gare de l’Est mit den Allegorien der Städte Verdun und Straßburg als Giebelskulpturen. Hier ist 1889 der erste Orient-Express nach Konstantinopel abgefahren, von hier aus sind im Ersten Weltkrieg die Soldaten an die Front aufgebrochen. Die Straße unter uns ist immer in Bewegung, in der Ferne sieht man Sacré-Cœur. Die beiden anderen Mädchen haben Pech, die 442 bietet nur einen Blick auf den Hinterhof des Hotels. Ich bin zum ersten Mal für mehrere Tage in einer Großstadt und überwältigt von der flirrenden internationalen Fülle.

Paris ist quicklebendig und weckt in mir eine merkwürdige Gefühlsmischung, macht mich traurig, sehnsüchtig, überdreht und berauscht, so viele Menschen, so viele Gesichter, so viele Blicke, ich habe den Eindruck, als ob hier jeder mit jedem flirtet, alle Männer den Frauen nachschauen oder hinterherpfeifen. Unten in der Métro springen die Jugendlichen einfach ohne Ticket über die Schranken, das trauen wir uns nicht. Im Quartier Latin trinken die drei anderen Mädchen Rotwein, ich Cola. Ich würde auch gern Wein trinken, finde es schlimm, dass ich „anders“ bin und nie wirklich dazugehöre. Dauernd werden wir angesprochen, sogar hier, auf Französisch, aber auch auf Englisch, fühlen uns zum ersten Mal frei und richtig wahrgenommen, sind stolz und geschmeichelt, aber auch verunsichert. Mir gefallen die malerischen französischen Litfaßsäulen.

Auf dem Weg zur Point Neuf sehe ich zum ersten Mal einen Transvestiten, mit ungeheuer viel Makeup, Riesenperücke und knallrotem Kleid. Wir beobachten fasziniert eine Prostituierte, die im kurzen weißen Trägerkleid mit langen Beinen lässig an Autos vorbeischlendert und gleich stehenbleibt, wenn ein Wagen langsamer fährt und der Fahrer Interesse bekundet. Schon bald nickt sie einem Fremden zu und steigt in sein Autos. Es gibt viele winzige Läden, die bis spät in die Nacht geöffnet sind, in den Buchten der Pont Neuf küssen sich die Liebespaare vor aller Augen am hellichten Tag. Pierre, ein interessanter junger Mann, der gut Englisch spricht, gesellt sich zu uns und bietet an, uns das Viertel zu zeigen. Nur so, er will dafür kein Geld. Da wir zu viert sind, fühlen wir uns sicher, stark und geschmeichelt und trauen uns. Er ist wirklich nett, hat ein lebhaftes Gesicht, fuchtelt viel mit den Händen und zeigt uns Notre Dame, die elegante Concièrgerie, allerlei hübsche geheime Ecken und führt uns zum Schluss in ein gemütliches Bistro. Pierre begleitet uns noch bis zur Métro und gibt jeder von uns beim Abschied Luftküsse. Erschöpft von all den Eindrücken gehen wir auf unser Zimmer und fallen aufs Bett.

Die Stadt wird auch nachts nicht ruhig, das Leben pulst weiter, man hört Autos fahren, bremsen, aufheulen und hupen, Motorräder knattern, Busse prusten und losfahren, Polizeisirenen schrillen, Fetzen menschlicher Stimmen schreien und rufen, vom Bahnhof her das Quietschen, Zischen, Pfeifen, Hämmern und Rattern der Züge, hallende Lautsprecherstimmen, Mesdames et Messieurs, Gongs und Glocken, und unter allem liegt ein eintöniges lautes Rauschen und Brummen. Die Balkontür ist offen, damit frische Luft ins Zimmer kommt. Wir liegen nebeneinander, ich platze fast vor Gedanken, die ich Irmi am liebsten alle gleichzeitig mitteilen würde, doch sie schwärmt nur von ihrem neuen Bekannten, der Michael heißt, dann will sie schlafen, dreht sich auf die Seite und ist fort. Ich bleibe traurig zurück. Es ist unsere letzte gemeinsame Zeit, bald werden wir unterschiedliche Lebenswege gehen, und ich möchte unsere Stunden auf keinen Fall verschwenden. Irmi wird weit weg in Hannover leben, ich weiß jetzt schon, dass sie mir fehlen wird, seit Jahren sitzen wir jeden Tag im Unterricht nebeneinander und sind auch außerhalb der Schule viel zusammen. Während Irmi schläft, vibriere ich vor Wörtern und Bildern, Wände und Fußboden scheinen sich sacht zu bewegen, und natürlich kann ich nicht schlafen.

Irgendwann stehe ich leise auf, gehe auf den Balkon, schaue hinab in die Tiefe und stelle mir vor, ich wäre ein Vogel, würde abheben, fliegen und langsam über der pulsierenden Stadt kreisen. Ich bleibe lange draußen. Die Luft wird kühler, die Geräusche bleiben beunruhigend und fremd. Als ich mich wieder neben Irmi ins Bett lege, kann ich immer noch nicht schlafen, wälze mich unruhig hin und her, vorsichtig darauf bedacht, sie nicht zu stören. In der Nacht wird sie von Mücken geplagt, die mich verschonen, doch ich höre sie überlaut surren, ein Geräusch, das ich hasse und das mich zusätzlich am Einschlafen hindert.

Am nächsten Morgen bin ich früh wach, Irmi schläft noch und macht ab und zu leise Geräusche wie ein Kind, das sich wundert, was mich rührt. Als um halb acht das Telefon schrillt, schnellt sie mit entsetztem Gesicht hoch, und wir müssen beide lachen. Das Frühstück ist enttäuschend, zwei Croissants für jeden, ohne Teller liegen sie krümelig auf der Tischdecke, dazu starker Kaffee mit Milch, nicht in einer Tasse, sondern in einer Schüssel, die boi heißt. Der Kaffee schmeckt bitter und macht Herzklopfen, aber ich trinke ihn trotzdem und tunke mein Croissant hinein, traue mich nicht, nach Tee zu fragen. Ich bin so aufgeregt, dass ich nur ein Croissant schaffe, Irmi muss das andere essen.

Die Reisegruppe hat für heute eine Stadtrundfahrt gebucht, doch der Busfahrer kommt spät, so dass wir eine gefühlte Ewigkeit warten. Der Kegelklub dröhnt. Unsere Stadtführerin heißt Bernadette, hat im linken Strumpf eine Laufmasche, trägt ein blaues Kleid und hochhackige blaue Schuhe und ist très charmante. Sie spricht ziemlich gut Deutsch und scheint ihre Stadt zu lieben. Wir fahren zum Montmartre, bestaunen winklige Gässchen mit interessanten Geschäften, es wimmelt vor Touristen und Straßenhändlern. Dabei hat Bernadette gerade behauptet „Montmartre ist im August so leer wie die Wüste“. Wir besichtigen Sacré-Cœur und flirten selbst dort in einem fort, ich fühle mich wie in einem fremden bunten Film. Sogar Männer, die eine Freundin am Arm haben, schauen einen intensiv an, die Freundin schaut auch, aber in eine andere Richtung. Paris wirkt übermütig und verspielt.

Künstler auf Bürgersteigen malen für 50 Francs geschönte Portraits, eine Weile stehe ich hinter einem schwarzgelockten Jungen, der eine arg in die Jahre gekommene Amerikanerin so hinreißend aufs Blatt zaubert, als wäre sie die schönste Frau der Welt. Sie fällt ihm begeistert um den Hals und küsst ihn heftig ab, er wehrt sich lachend und freut sich über das üppige Trinkgeld, während sie stolz mit dem Bild von dannen trabt. Paris ist ein wogendes Meer, dessen Wellen mich hochreißen, eine Weile mit sich tragen und dann urplötzlich über mir zusammenschlagen und mir die Luft rauben. Hier kann man unmöglich einsam sein, und doch fühle ich mich einsam wie nie.

Wir sehen die Église de la Madeleine, den Dôme des Invalides, in dem Napoleon liegt, besuchen den Arc de Triomphe de l‘Étoile, den Arc de Triompfe du Caroussel, die Champs Elysées, den Bahnhof D’Orsay, der mich an das Parfüm meiner Mutter erinnert. Eau d’Orsay im der blauen Flasche. Der Eiffelturm ist riesig, aber wir dürfen nicht hinauf, junge Männer gehen uns nach, sprechen uns an, der Kegelklub zerreißt sich schon das Maul, ich bin verlegen und stolz zugleich und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Bernadette zeigt uns eine Prachtstraße, auf der viele Prominente Häuser und Wohnungen besitzen, Onassis, Grace Kelly, die Rothschilds. Moulin Rouge und Lido beeindrucken mich kein bisschen. Als wir Pause in einem Bistro machen, habe ich kaum Hunger, danach ist mir schlecht, weil ich aus Versehen einen Schluck Cidre getrunken habe, in dem Glauben, es wäre Apfelsaft, auch wenn mich der Geruch hätte warnen sollen. Irmi rettet mich und trinkt mein Glas aus. Sie verträgt alles, und ich beneide sie. Ich bestelle mir zwei Gläser Zitronenlimonade, weil ich schrecklichen Durst habe. Auf dem Weg nach Versailles sehen wir den Bois de Bologne, der genauso heißt wie mein Chypre-Duft. Ich habe Angst, meine Periode zu bekommen, Schmerztabletten habe ich natürlich dabei, vielleicht fühle ich mich auch deshalb so niedergeschlagen und unruhig. Bauchkrämpfe in Paris sind das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich habe Glück, an diesem Tag passiert nichts. Der üppige Prunk von Versailles erschlägt mich, ich weiß gar nicht, wo ich meine Augen lassen soll, mir fällt auf, dass auf vielen Bildern an den Wänden nackte Frauen zu sehen sind, während die Männer an heiklen Stellen stets diskret mit Gewandzipfeln, Waffen oder gar Pferdebeinen versorgt sind, was ich lustig finde. Die Gärten wirken wie mit dem Lineal gezogen, überall schattige Plätze mit Liebespaaren und Marmorbecken mit Nixen, Faunen und Göttinnen.

Im Hotel angekommen sind alle hungrig. Bis auf mich, aber ich sage nichts, will nicht schon wieder „anders“ sein. Der Busfahrer lockt uns in ein überteuertes Restaurant, wir sind sauer, haben schließlich nur wenig Geld, allein ein kleines Eis kostet hier ein Vermögen. Immer noch schauen uns die jungen Männer an. Wir wollen noch mal ins Studentenviertel, verabschieden uns vorzeitig, fahren mit der Métro, in der es warm und eng ist. Als wir ans Tageslicht steigen, sagt Inge, dass sie keine Lust darauf hat, die ganze Zeit nur ziellos herumzutigern, sie wünscht ein Ziel, und die beiden anderen beginnen, aufgeregt auf sie einzureden. Die muntere Stimmung kippt, wird angespannt und gereizt, und ich stelle mich abseits, weil mich die Szene nur noch mehr deprimiert.

Menschen schieben sich an uns vorüber. Plötzlich bleibt ein junger Mann vor mir stehen und spricht mich leise an. Ich starre verlegen in die andere Richtung, tue, als ob ich ihn nicht höre. Er versucht es zuerst auf Französisch, dann auf Englisch, möchte angeblich nur ein bisschen mit mir spazieren gehen, weil er mich hübsch findet, ich riskiere einen schnellen Blick, er ist groß, sympathisch, sensibles schmales Gesicht, freundliche blaue Augen, kurzes dunkelblondes Haar, kariertes Hemd, Jeans. Jetzt verstehe ich natürlich auch kein Englisch mehr, zucke bedauernd die Schultern. Zu meinem Schrecken versucht er es sogar mit Deutsch, „Hast du ein bisschen Zeit?“, ob er ein Student ist und Sprachen studiert? Ich werde rot und sage: „Kannitverstaan“. Das klingt Niederländisch und hoffentlich abweisend genug. Er lächelt, murmelt leise etwas zärtlich Klingendes und sagt dann etwas, das wie „c’est vraimont dommage“ klingt, streicht mir sanft übers Haar, atmet tief ein und aus und geht. Dabei dreht er sich immer wieder um, hebt Brauen, Schultern und Hände und lächelt bedauernd. Ich lächele auch.

Die drei haben aufgehört zu zanken, Inge hat jetzt doch wieder Lust auf Herumtigern, kommt zu mir herüber und sagt: „Du lässt dich aber auch echt von jedem anquatschen.“ Der Satz verletzt mich so, dass ich am liebsten weinen würde. Wir laufen ein bisschen herum, setzen uns vor ein Café, essen noch ein Eis, diesmal ein großes, schlendern weiter umher, gehen zur Métro, fahren zurück zum Gare de l‘Est. Ich bin still, mir ist nicht gut. Vor dem Hotel beschließen die drei, dass sie keine Lust auf die stickigen Zimmer haben und lieber noch in ein anderes Café wollen. Irmi sagt: „Komm doch auch mit!“, aber ich möchte allein sein oder zu Hause bei meinen Tieren.

Im Hotelzimmer gehe ich gleich auf den Balkon, lehne mich in die warme französische Nacht. Ich überlege jetzt ernsthaft, ob ich springen soll, einfach so, weil es sich gerade richtig anfühlt, aus Weltschmerz, aus Sehnsucht, weil ich die große Traurigkeit in mir nicht mehr ertrage. Ich bin über den Gedanken selbst erschrocken und spüre, dass mich nicht viel abhält in diesem Moment. Der Tod ist verführerisch nah und macht mir ausnahmsweise keine Angst. Hoch genug ist der Balkon, den Sturz würde ich sicher nicht überleben, tief unten sehe ich schon mein verkrümmtes junges Leben liegen. Wie tragisch, kann nur ein Unfall gewesen sein, hat sich bestimmt nur zu weit nach vorn gelehnt, das Gleichgewicht verloren, gab doch gar keinen Grund, gerade erst Abitur gemacht, intaktes Elternhaus, kurz vor dem Studium, das Leben noch vor sich. Ich bin unendlich müdselig, sehne mich so nach Zärtlichkeit, nach einem Menschen, der mich liebt und hält, an den ich mich jetzt, in diesem Moment, lehnen kann. Ich habe seit Jahren einen festen Freund, doch unsere Liebe war von Anfang an anstrengend, heftig, problembeladen und fordernd, nie sanft und romantisch. Während ich hinüber zum Bahnhof schaue, hoffe ich, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der eines Tages zu mir gehört, der mich so lieben kann, wie ich bin, mich nicht dauernd ändern will, kritisiert, missversteht oder bedrängt. Und dass wir uns finden. Irgendwann. Aber vielleicht ist es genau dieser Fremde gewesen und jetzt habe ich ihn verloren. Eine flüchtige, sanfte Berührung hat mich an diesem Abend beinahe das Leben gekostet. Über den Moment so gefährlich nah am Sprung kann ich erst Jahre später sprechen, die Aufzeichnungen dazu zerreiße ich noch im Hotelzimmer.

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, meine, jemanden hinter mir zu spüren, was mir sehr unheimlich vorkommt. Vielleicht ist Irmi zurückgekommen? Mehrmals schaue ich mich um, niemand zu sehen, werfe einen letzten bedauernden Blick in die Tiefe, gehe zurück ins Zimmer, lebe weiter, schreibe, zerreiße, lege mich ins Bett und warte auf Irmi.

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Books and Stories – Anne Perry

Nachruf Anne Perry (BFL)

Am 10. April starb in Los Angeles mit 84 Jahren die bekannte Bestsellerautorin Anne Perry, nur eine Woche nach der Veröffentlichung ihres neuesten Romans. Insgesamt hat sie mehr als 100 Bücher geschrieben. Geboren wurde sie 1938 als Juliet Marian Hulme in Blackheath in England, sie war erst 2017 aus Schottland in die USA gezogen, um sich für die Verfilmung ihrer Bücher einzusetzen.

Anne Perrys fiktive Welt ist mir durchaus vertraut, denn ich habe zwei ihrer Krimis übersetzt, Band 5 und 7 aus der zweiunddreißigbändigen Thomas Pitt-Reihe. Zusätzlich zu den Thomas Pitt-Romanen schrieb sie noch sechs Bände, in denen Pitts Sohn Daniel die Hauptperson ist. Ich bin ja ein bekennender Fan von Charles Dickens und habe daher eine Schwäche für seine Zeit, angeblich hatte ich sogar ein Woche lang die Ehre, eins seiner ehemaligen Fahrräder zu besitzen, was natürlich eine reine Erfindung des schlitzäugigen Verkäufers war („Believe me, love, this bicycle used to belong to Charles Dickens!“). Das Rad war leider so antik, dass seine Benutzung lebensgefährlich war, daher habe ich es nur wenige Male riskiert.

Als ich erfuhr, dass ich die Anne Perry-Bücher übersetzen sollte, las ich natürlich (!) zur Einstimmung auf die Sprache der Autorin und die viktorianische Atmosphäre alle Vorgänger-Bände, um mich in den nebligen, von Gaslaternen schwach beleuchteten Straßen, den schmutzigen Armenvierteln, den noblen Stadthäusern und den düsteren Pferdekutschen möglichst gut zurechtzufinden. Perrys Romane spielen fast alle im viktorianischen England zur Zeit von Jack the Ripper, und waren nicht nur stilistisch eine Herausforderung. Als ich die erste Szene in „Mord in Devil’s Acre“ übersetzte, die in einem scheußlichen Schlachthof spielt, wurde mir sogar ein bisschen übel, weil ich mir die Szene nicht aus dem Kopf und die Gerüche mir nicht mehr aus der Nase gingen. Als ÜbersetzerIn liest man natürlich ein Buch „anders“ und sehr viel intensiver (und öfter!) als jeder Leser.  Irgendwie fehlt mir aber ohnehin beim Lesen die nötige Distanz, allzu leicht geht dabei meine Fantasie mit mir durch. Ich kann mich noch an ein skandinavisches Kochbuch erinnern, das ich lektoriert habe und in dessen Fischrezeptteil mir permanent schlecht war. Ich mag keinen Fisch, nicht mal in einem Kochbuch. Ich fand Anne Perrys Plots sehr gut, aber ihren Stil manchmal etwas holprig. Ganz im Gegensatz zu Charlotte MacLeods geschliffener, witziger Sprache, die mir sehr viel mehr lag, doch bei ihr waren wiederum die Plots oft ziemlich bizarr.

Viele Anne Perry-Fans wissen vielleicht nicht, dass auch das Leben der Autorin bereits früh von einem Mord überschattet wurde. Die kleine Juliet wurde während des Krieges zu Verwandten nach Nordengland umgesiedelt, weil ihre Mutter nach der Geburt des Bruders unter Depressionen litt, und erkrankte zudem mit sechs Jahren an Tuberkulose, woraufhin sie zu einer Pflegefamilie auf die Bahamas geschickt wurde, da man annahm, ein wärmeres Klima würde ihrer Gesundheit guttun. Später lebte sie dann mit ihren Eltern in Neuseeland, wo ihr Vater eine Stelle als Rektor der University of Canterbury annahm, allerdings wohnte sie nicht zu Hause, sondern in einem Internat. Dort traf sie die gleichaltrige Pauline Parker, die ebenfalls kränklich war und ihre beste Freundin wurde. Es sei eine „obsessive“ Beziehung gewesen, sagte Perry später.

Besonders glücklich war die Ehe ihrer Eltern nicht. Als Juliet 15 Jahre alt war, ertappte der Vater seine Gattin, die auch noch ausgerechnet als Eheberaterin tätig war, im Bett mit einem Klienten namens Walter Perry und reichte die Scheidung ein. Das Sorgerecht wurde (natürlich) dem Vater zugesprochen, doch der hatte offenbar nicht vor, Juliet gemeinsam mit ihrem Bruder mit zurück nach England zu nehmen, sondern wollte sie lieber zu Verwandten in Südafrika schicken. Die beiden Mädchen, die fürchteten, getrennt zu werden, gerieten immer mehr in Panik und redeten sich ein, dass sie nur gemeinsam nach Südafrika gehen könnten, wenn Paulines Mutter tot wäre.  Daher beschlossen sie, Honorah Parker zu ermorden, und erschlugen sie während eines Spaziergangs im Victoria Park in Christchurch mit einem Ziegelstein. Mindestens zwanzig Mal schlugen sie zu. Die Tat erregte großes Aufsehen und wurde einer der spektakulärsten Kriminalfälle Neuseelands, zumal man damals einen lesbischen Hintergrund vermutete, den aber beide Mädchen weit von sich wiesen. Aufgrund ihres Alters entgingen sie der Todesstrafe, kamen aber für fünf Jahre ins Gefängnis. Mit der Auflage, einander nie wiederzusehen, wurden sie aus der Haft entlassen und nahmen eine neue Identität an. Juliet kehrte gemeinsam mit ihrer Mutter und deren späteren Mann Walter Perry nach England zurück und nannte sich fortan Anne Perry. Ihre Vergangenheit hielt sie geheim.

Sie entdeckte ihre Liebe für historische Kriminalromane und begann zu schreiben, ihr erstes Buch „The Cater Street Hangman“, ein Thomas Pitt-Roman,  erschien 1979, nachdem es sechs Jahre lang keinen Verlag gefunden hatte. Perrys zweiter Ermittler ist übrigens der Privatdetektiv William Monk, ein ehemaliger Polizist, der sein Gedächtnis verloren hat und gemeinsam mit seiner Frau Hester Latterly, einer ehemaligen Krankenschwester, Kriminalfälle aufklärt. Die Monk-Reihe ist zeitlich etwa dreißig Jahre vor der Pitt-Serie angelegt.

Police Inspector Thomas Pitt ermittelt ebenfalls im Duo, nämlich gemeinsam mit seiner Frau Charlotte (geborene Ellison), die als Tochter einer reichen, vornehmen Familie Zugang zu den Gesellschaftsschichten hat, die ihrem Mann normalerweise verschlossen bleiben würden. Oft genug hilft sie ihm (auch gegen seinen Willen) bei den Ermittlungen, indem sie Bekannte und Freunde ihrer Eltern oder auch ihren Vater oder andere Verwandte gekonnt „aushorcht“. Um die beiden Kinder kümmert sich derweil das Dienstmädchen Gracie. Der erste Band „Der Würger von der Cater Street“ wurde 1998 verfilmt.

Berühmt wurde Anne Perrys Geschichte durch den Film „Heavenly Creatures“ von Peter Jackson, in dem die junge Kate Winslet die Rolle der Juliet spielte. Anne Perry erfuhr nach eigenen Aussagen erst am Tag vor der Erstaufführung von dem Film und hatte große Angst, ihre Freunde würden sich danach von ihr abwenden, was aber nicht der Fall war. Der Film machte sie nur noch bekannter und kurbelte den ohnehin erfolgreichen Buchverkauf weiter an.

Es gibt auch einen deutschen Dokumentarfilm („Anne Perry – Interiors“) über die Schriftstellerin und ihren Umgang mit dem Mord und mit ihrer Schuld, aber man kann ihn im Moment leider hier weder streamen noch kaufen. Schade, ich hätte ihn mir gern angesehen und Anne Perry noch etwas besser kennen gelernt.

Nachruf Anne Perry (BFL)

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Rooms and Stories – Seminarraum

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

Where is the stage: is it outside or inside? And how shall I compare thee?  Lässig, charmant, heiter. Klug, intellektuell, politisch. Jungenhaft, nachdenklich, verführerisch. Aufgeräumt, gut gelaunt. Man of he world. Spontaneous, relaxed, experienced, serene. Exzentrisch, ironisch, leicht abgehoben, eigenwillig, mit einem Hauch wissender Traurigkeit. Magnetisch. Vergangenheitsschwer. Ästhet. Musikliebhaber. Erwachsen. Reif. Egy lenyűgöző ember.

Vorliebe für graue, braune und melierte Anzüge, auch Dreiteiler, kurze und lange Mäntel. Tweed, eher gedeckte Farben. An nebeligen Herbsttagen wirkt der ganze Mann wie mit Rauhreif überhaucht, wenn er über die Brücke zwischen den Universitätsgebäuden schreitet. Er besitzt auch einen leichten hellen Sommeranzug und einen langen schwarzen Herbstmantel. Hemdkrägen offen oder verschlossen mit Tüchern, Krawatte oder Fliege. Eher selten leger, meist elegant. Nur einmal kariertes Hemd und braune Cordhose mit Ledergürtel.

Kopfbedeckungen, gelegentlich dunkler Hut, im Winter einmal fremd anmutende schwarze Russenmütze. Vielleicht ist sie auch nicht russisch, sondern ungarisch, ich kenne mich nicht aus mit Mützen. Lässig geschlungene Schals, die im Wind über die Schulter flattern. Dann wird er zum Schauspieler oder Opernsänger, auf jeden Fall zum Künstler. Sehr dunkle Sonnenbrille, die viel zu oft seine Augen verbirgt. So kann er unsichtbar beobachten, sich lästigen Blicken entziehen. Manchmal sehen seine unbedeckten Augen müde aus.

Eher schmaler, leicht spöttischer Mund, Eckzähne ein klein wenig zu spitz, fast wie bei einem Raubtier, doch nur angedeutet. Wenn er die Treppe herunterkommt, scheint er beinahe zu fallen, man erschrickt unweigerlich, wenn man ihn so sieht, er stürzt, fliegt, nein, schwebt die Stufen hinab. Ein Glück, dass er meist die Rolltreppe benutzt. Er bewegt sich ungewohnt anders, ich kann es nicht besser beschreiben, manchmal tänzelnd wie ein nervöses, sensibles Pferd, dann wieder energisch, zielstrebig, mit kräftigen, weit ausholenden Schritten, den Kopf fast im Nacken. Egy fekete ló szalad az éjszakában.

Sein unverwechselbares Lachen, es beginnt stumm bei schon geöffnetem Mund, bleibt nahezu tonlos, als würde es seine Meinung im letzten Moment ändern und sich lieber wieder zurückziehen, um sich dann unmerklich rasch zu verwandeln, während sich der Unterkiefer sanft nach innen schiebt, um das Lachen mit einem Mal herzhaft und beinahe übermütig ausbrechen zu lassen. Sein eigenwilliges Lachen, das durchaus lauter sein kann, doch nie zu laut, und an dem andere sich verschlucken würden, fällt nicht nur mir auf. Wenn ich mit Kommilitonen über ihn rede, ohne seinen Namen preiszugeben, sagen sie: „Meinst du den Engländer mit dem Lachen?“ Genau. Auf diese Weise lacht nur ein einziger Mensch.

Das dunkle Haar oben länger und über den Kopf gekämmt, um das beginnende Kahlwerden zu verdecken, bei jedem anderen sähe es lächerlich aus. Die Schläfen fangen gerade an zu versilbern, seitlich und hinten ist sein Haar manchmal leicht gelockt, besonders im Wind. Der Teint von Natur aus dunkler oder vielleicht auch sonnengebräunt. Augen tiefliegend, in runden Schattenhöhlen, groß, kastanienbraun, ab und an schwarz wie Nachtseen. Hände lang, schmal, musikalisch. Vielleicht spielt er Klavier? Ich lese, dass er in Fenton House in Londoner Stadtteil Hamstead gelegentlich Harfe spielt.

Er raucht. Möglicherweise viel. Zigaretten und Zigarillos, doch selbst das stört mich nicht. Mir gefällt, wie er mit langen schlanken Fingern die Zigarette hält, entspannt inhaliert, mit Nase und Mund feinen hellen Rauch ausatmet. Mein Pech, dass ich nicht rauche, so steht er in den Pausen mit den anderen Rauchenden am Fenster oder im Flur, während ich ihn von fern beobachte. Ich denke nicht, dass er es merkt. Ich weiß nicht, dass ich hochsensibel bin und aus diesem Grund weder Nikotin noch Alkohol vertrage, und bedaure meine Unzulänglichkeit tatsächlich auch nur in diesen beiden Semestern.

Linguist, Sprachgenie. Jemand, der fließend Ungarisch, Englisch und Deutsch spricht, auch Französisch, er kann spontan Baudelaire Gedichte zitieren, bestimmt auch Italienisch, denn das ist die Sprache der Opern. Jemand, der an Universitäten Türkisch und Arabisch studiert und später just for fun Koptisch lernt. It was really fascinating to listen to his stories about life, philosophy, history and of course languages, schreibt einer seiner Freunde im Nachruf, I have really appreciated his wisdom and knowledge in the social sciences and arts. Jemand, der viel und gern reist, unter anderem nach Nepal, Java und in den mittleren Osten. Der spontan nach Malta fliegt, um sich einen bestimmten Caravaggio anzusehen. Ein anderer Nachrufer war gemeinsam mit ihm im Oman und hat nur gute Erinnerungen.

1956 musste er als Student nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand in Budapest in den Westen fliehen. Kam nach England. London, Finchley Road. Mehr finde ich auch mit Hilfe des allwissenden Internets nicht heraus. Vielleicht später, denn das hungrige Netz wird schließlich ständig gefüttert und lernt jeden Tag dazu.

Ich bringe Karla zum Lachen, als ich gestehe, dass ich sein Rasierwasser etwas gewöhnungsbedürftig finde, auch wenn ich es mag. Wie könnte ich irgend etwas an ihm nicht mögen! „Aber der riecht nach Knoblauch!“ lacht sie mich aus, zuerst ist es mir peinlich, dann muss ich auch lachen. Ich kenne Knoblauch nicht, weil meine Mutter es verabscheut und daher komplett aus der Küche verbannt hat. Mich erinnert es bis heute, ich bin nachhaltig positiv konditioniert. Kann er kochen? Steht er elegant im Anzug am Herd wie Leonard Cohen und schmort Pörkölt oder Paprikás? Was isst er am liebsten? Trinkt er Tee oder Kaffee? Mag er Kuchen? Ich weiß nichts, was ich nicht selbst sehe und höre.

Melodische Stimme, tief und fest, aber auch samtig weich, selten im Hintergrund ein wenig härter. Ich liebe sein „particularly“ und wie er den Kopf schräg hält, wenn er andere nicht versteht. Er könnte gut Radio- oder Synchronsprecher sein. Ich finde plötzlich eine Geisterstimme im Internet, die offenbar ihm gehört, sie spricht Ungarisch und ich verstehe kein Wort. Da es ein Telefoninterview ist, klingt sie fremd und ich erkenne sie aufgeregt erst beim zweiten und dritten Hören. Bei jedem weiteren Hören bin ich mir dann plötzlich doch nicht mehr sicher. Ist er das wirklich? Ich finde sein Pseudonym. Vielleicht ist es auch sein Deckname. Die politischen Archivaufnahmen, unter denen der Name steht, wirken wie Geheimmaterial, wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Erstaunt entdecke ich ihn im Programm der weltberühmten Proms in der Royal Albert Hall. Prom 68, 14. Septembers 1995, 19:30. Er spricht den Prolog des Barden in Béla Bartóks „Duke Bluebeard’s Castle“. Es gibt keine Tonaufnahme, so intensiv ich auch suche. Ich stelle mir vor, wie er hoch aufgerichtet vor Tausenden von Menschen im Scheinwerferlicht steht, seine schöne Stimme die riesige Halle füllt. Ich höre den Prolog in drei Sprachen, schaue mir verschiedene Aufführungen der Oper an. Eigentlich mag ich keine Opern, doch diese ist nicht so lang und kompliziert wie die meisten. Das düstere Ende verstört und ängstigt mich so sehr, dass ich schlecht träume. Auch ich war einmal in der Royal Albert Hall, in der Last Night of the Proms 1977, ein denkwürdiger Abend, doch das ist eine andere Geschichte. Spricht der Barde 1995 Ungarisch oder Englisch? Beides? Seine Muttersprache klingt in meinen Ohren uralt, geheimnisvoll und irgendwie bedrohlich, erinnert mich an Altenglisch und Althochdeutsch, dabei gehört Ungarisch gar nicht zu den indoeuropäischen Sprachen.

If we had world enough and time. Das Gedicht nehmen wir im Essay-Kurs durch. Im Seminar muss ich alle Kraft aufwenden, um ihn nicht unablässig anzustarren. Mondd, a férfiakat vagy a nőket szereted? Lebst du allein? Bist du verheiratet? Hast du eine Partnerin, einen Partner? Beides? Bei den Studenten scheint er beide Geschlechter zu faszinieren. Nach den Kursen bin ich beglückt betrübt, will mit niemandem und allen über ihn sprechen. Karla, die beim ersten Blitzeinschlag und fast allen weiteren Begegnungen an meiner Seite ist, beobachtet mich, beobachtet ihn, beobachtet uns. Mit ihr kann ich offen reden, sie ist selbst unglücklich verliebt. Auch in jemanden, von dem wir nur das wissen, was wir selbst sehen und hören. The stage is outside, not inside. Wenn ich an Wochenende meinem Freund treffe, fühle ich mich fremd, weil sich ein anderes Gesicht sofort über seins legt, ich kann es nicht verhindern, und er beklagt ärgerlich, dass ich so weit weg bin.

Vielleicht wäre es besser, jetzt nicht ausgerechnet „Die Leiden des jungen Werther“,  „Women in Love“ oder „To his coy mistress“ zu lesen. Es dauert mehrere Wochen, bis er im Kurs meinen Namen behält und bei „Miss Felten?“ nicht länger suchend umherschaut, sondern sofort mein Gesicht findet. Ich war durchaus schon heftig verliebt, doch nie so fern und alles erschütternd. Um ihm nahe zu sein, gehe ich nach dem Unterricht nach vorn und gebe ihm einen fiktiven Brief zum Korrigieren, sehe zu, wie sich unsere Buchstaben verweben, das tun sie auch bei den Essay-Korrekturen. Einmal besprechen wir im Unterricht meinen Essay, das Werk liegt dabei als Matrizenabzug vor und beschert mir viele Zwischenblicke. Die Briefmethode funktioniert nur beim ersten Mal. Schon beim zweiten Mal korrigiert er ihn nicht neben mir, sondern wortlos während eines Tests. Es ist mir peinlich und ich gebe das Experiment auf.

Woher nimmt man als junger Mensch diese hoffnungsvolle, ängstliche Zuversicht? Woher den traumsicheren, rücksichtslosen Mut, sich einem unerreichbaren Fremden sacht und leise in den Weg zu stellen? Darf man überhaupt ungefragt die Kreise eines anderen Menschen betreten? Verliebt man sich in das Bildnis, das man sich vom anderen macht, da man die reale Person doch gar nicht kennt? Oder ist es möglich, den anderen so intuitiv wahrzunehmen, dass man ihm dabei  in die Seele schauen kann? Warum schmerzt unerwiderte Liebe so sehr? Es berührt mich, dass meine verlorenen Empfindungen selbst nach einem halben Jahrhundert noch bis in die feinsten Nuancen hinein abrufbar sind.

Ich schenke meine Gedanken dem derzeit besten Übersetzungsprogramm und hoffe, dass sie auch nach der Verwandlung verständlich sind.

Egy sötét macska szaladgál az esőben. Egy bagoly beleveti magát a tengerbe. Csak egy árnyék vagy. Mondd, hogy a halál hangosan vagy halkan jön? 

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

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