Rooms and Stories – Seminarraum

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

Where is the stage: is it outside or inside? And how shall I compare thee?  Lässig, charmant, heiter. Klug, intellektuell, politisch. Jungenhaft, nachdenklich, verführerisch. Aufgeräumt, gut gelaunt. Man of he world. Spontaneous, relaxed, experienced, serene. Exzentrisch, ironisch, leicht abgehoben, eigenwillig, mit einem Hauch wissender Traurigkeit. Magnetisch. Vergangenheitsschwer. Ästhet. Musikliebhaber. Erwachsen. Reif. Egy lenyűgöző ember.

Vorliebe für graue, braune und melierte Anzüge, auch Dreiteiler, kurze und lange Mäntel. Tweed, eher gedeckte Farben. An nebeligen Herbsttagen wirkt der ganze Mann wie mit Rauhreif überhaucht, wenn er über die Brücke zwischen den Universitätsgebäuden schreitet. Er besitzt auch einen leichten hellen Sommeranzug und einen langen schwarzen Herbstmantel. Hemdkrägen offen oder verschlossen mit Tüchern, Krawatte oder Fliege. Eher selten leger, meist elegant. Nur einmal kariertes Hemd und braune Cordhose mit Ledergürtel.

Kopfbedeckungen, gelegentlich dunkler Hut, im Winter einmal fremd anmutende schwarze Russenmütze. Vielleicht ist sie auch nicht russisch, sondern ungarisch, ich kenne mich nicht aus mit Mützen. Lässig geschlungene Schals, die im Wind über die Schulter flattern. Dann wird er zum Schauspieler oder Opernsänger, auf jeden Fall zum Künstler. Sehr dunkle Sonnenbrille, die viel zu oft seine Augen verbirgt. So kann er unsichtbar beobachten, sich lästigen Blicken entziehen. Manchmal sehen seine unbedeckten Augen müde aus.

Eher schmaler, leicht spöttischer Mund, Eckzähne ein klein wenig zu spitz, fast wie bei einem Raubtier, doch nur angedeutet. Wenn er die Treppe herunterkommt, scheint er beinahe zu fallen, man erschrickt unweigerlich, wenn man ihn so sieht, er stürzt, fliegt, nein, schwebt die Stufen hinab. Ein Glück, dass er meist die Rolltreppe benutzt. Er bewegt sich ungewohnt anders, ich kann es nicht besser beschreiben, manchmal tänzelnd wie ein nervöses, sensibles Pferd, dann wieder energisch, zielstrebig, mit kräftigen, weit ausholenden Schritten, den Kopf fast im Nacken. Egy fekete ló szalad az éjszakában.

Sein unverwechselbares Lachen, es beginnt stumm bei schon geöffnetem Mund, bleibt nahezu tonlos, als würde es seine Meinung im letzten Moment ändern und sich lieber wieder zurückziehen, um sich dann unmerklich rasch zu verwandeln, während sich der Unterkiefer sanft nach innen schiebt, um das Lachen mit einem Mal herzhaft und beinahe übermütig ausbrechen zu lassen. Sein eigenwilliges Lachen, das durchaus lauter sein kann, doch nie zu laut, und an dem andere sich verschlucken würden, fällt nicht nur mir auf. Wenn ich mit Kommilitonen über ihn rede, ohne seinen Namen preiszugeben, sagen sie: „Meinst du den Engländer mit dem Lachen?“ Genau. Auf diese Weise lacht nur ein einziger Mensch.

Das dunkle Haar oben länger und über den Kopf gekämmt, um das beginnende Kahlwerden zu verdecken, bei jedem anderen sähe es lächerlich aus. Die Schläfen fangen gerade an zu versilbern, seitlich und hinten ist sein Haar manchmal leicht gelockt, besonders im Wind. Der Teint von Natur aus dunkler oder vielleicht auch sonnengebräunt. Augen tiefliegend, in runden Schattenhöhlen, groß, kastanienbraun, ab und an schwarz wie Nachtseen. Hände lang, schmal, musikalisch. Vielleicht spielt er Klavier? Ich lese, dass er in Fenton House in Londoner Stadtteil Hamstead gelegentlich Harfe spielt.

Er raucht. Möglicherweise viel. Zigaretten und Zigarillos, doch selbst das stört mich nicht. Mir gefällt, wie er mit langen schlanken Fingern die Zigarette hält, entspannt inhaliert, mit Nase und Mund feinen hellen Rauch ausatmet. Mein Pech, dass ich nicht rauche, so steht er in den Pausen mit den anderen Rauchenden am Fenster oder im Flur, während ich ihn von fern beobachte. Ich denke nicht, dass er es merkt. Ich weiß nicht, dass ich hochsensibel bin und aus diesem Grund weder Nikotin noch Alkohol vertrage, und bedaure meine Unzulänglichkeit tatsächlich auch nur in diesen beiden Semestern.

Linguist, Sprachgenie. Jemand, der fließend Ungarisch, Englisch und Deutsch spricht, auch Französisch, er kann spontan Baudelaire Gedichte zitieren, bestimmt auch Italienisch, denn das ist die Sprache der Opern. Jemand, der an Universitäten Türkisch und Arabisch studiert und später just for fun Koptisch lernt. It was really fascinating to listen to his stories about life, philosophy, history and of course languages, schreibt einer seiner Freunde im Nachruf, I have really appreciated his wisdom and knowledge in the social sciences and arts. Jemand, der viel und gern reist, unter anderem nach Nepal, Java und in den mittleren Osten. Der spontan nach Malta fliegt, um sich einen bestimmten Caravaggio anzusehen. Ein anderer Nachrufer war gemeinsam mit ihm im Oman und hat nur gute Erinnerungen.

1956 musste er als Student nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand in Budapest in den Westen fliehen. Kam nach England. London, Finchley Road. Mehr finde ich auch mit Hilfe des allwissenden Internets nicht heraus. Vielleicht später, denn das hungrige Netz wird schließlich ständig gefüttert und lernt jeden Tag dazu.

Ich bringe Karla zum Lachen, als ich gestehe, dass ich sein Rasierwasser etwas gewöhnungsbedürftig finde, auch wenn ich es mag. Wie könnte ich irgend etwas an ihm nicht mögen! „Aber der riecht nach Knoblauch!“ lacht sie mich aus, zuerst ist es mir peinlich, dann muss ich auch lachen. Ich kenne Knoblauch nicht, weil meine Mutter es verabscheut und daher komplett aus der Küche verbannt hat. Mich erinnert es bis heute, ich bin nachhaltig positiv konditioniert. Kann er kochen? Steht er elegant im Anzug am Herd wie Leonard Cohen und schmort Pörkölt oder Paprikás? Was isst er am liebsten? Trinkt er Tee oder Kaffee? Mag er Kuchen? Ich weiß nichts, was ich nicht selbst sehe und höre.

Melodische Stimme, tief und fest, aber auch samtig weich, selten im Hintergrund ein wenig härter. Ich liebe sein „particularly“ und wie er den Kopf schräg hält, wenn er andere nicht versteht. Er könnte gut Radio- oder Synchronsprecher sein. Ich finde plötzlich eine Geisterstimme im Internet, die offenbar ihm gehört, sie spricht Ungarisch und ich verstehe kein Wort. Da es ein Telefoninterview ist, klingt sie fremd und ich erkenne sie aufgeregt erst beim zweiten und dritten Hören. Bei jedem weiteren Hören bin ich mir dann plötzlich doch nicht mehr sicher. Ist er das wirklich? Ich finde sein Pseudonym. Vielleicht ist es auch sein Deckname. Die politischen Archivaufnahmen, unter denen der Name steht, wirken wie Geheimmaterial, wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Erstaunt entdecke ich ihn im Programm der weltberühmten Proms in der Royal Albert Hall. Prom 68, 14. Septembers 1995, 19:30. Er spricht den Prolog des Barden in Béla Bartóks „Duke Bluebeard’s Castle“. Es gibt keine Tonaufnahme, so intensiv ich auch suche. Ich stelle mir vor, wie er hoch aufgerichtet vor Tausenden von Menschen im Scheinwerferlicht steht, seine schöne Stimme die riesige Halle füllt. Ich höre den Prolog in drei Sprachen, schaue mir verschiedene Aufführungen der Oper an. Eigentlich mag ich keine Opern, doch diese ist nicht so lang und kompliziert wie die meisten. Das düstere Ende verstört und ängstigt mich so sehr, dass ich schlecht träume. Auch ich war einmal in der Royal Albert Hall, in der Last Night of the Proms 1977, ein denkwürdiger Abend, doch das ist eine andere Geschichte. Spricht der Barde 1995 Ungarisch oder Englisch? Beides? Seine Muttersprache klingt in meinen Ohren uralt, geheimnisvoll und irgendwie bedrohlich, erinnert mich an Altenglisch und Althochdeutsch, dabei gehört Ungarisch gar nicht zu den indoeuropäischen Sprachen.

If we had world enough and time. Das Gedicht nehmen wir im Essay-Kurs durch. Im Seminar muss ich alle Kraft aufwenden, um ihn nicht unablässig anzustarren. Mondd, a férfiakat vagy a nőket szereted? Lebst du allein? Bist du verheiratet? Hast du eine Partnerin, einen Partner? Beides? Bei den Studenten scheint er beide Geschlechter zu faszinieren. Nach den Kursen bin ich beglückt betrübt, will mit niemandem und allen über ihn sprechen. Karla, die beim ersten Blitzeinschlag und fast allen weiteren Begegnungen an meiner Seite ist, beobachtet mich, beobachtet ihn, beobachtet uns. Mit ihr kann ich offen reden, sie ist selbst unglücklich verliebt. Auch in jemanden, von dem wir nur das wissen, was wir selbst sehen und hören. The stage is outside, not inside. Wenn ich an Wochenende meinem Freund treffe, fühle ich mich fremd, weil sich ein anderes Gesicht sofort über seins legt, ich kann es nicht verhindern, und er beklagt ärgerlich, dass ich so weit weg bin.

Vielleicht wäre es besser, jetzt nicht ausgerechnet „Die Leiden des jungen Werther“,  „Women in Love“ oder „To his coy mistress“ zu lesen. Es dauert mehrere Wochen, bis er im Kurs meinen Namen behält und bei „Miss Felten?“ nicht länger suchend umherschaut, sondern sofort mein Gesicht findet. Ich war durchaus schon heftig verliebt, doch nie so fern und alles erschütternd. Um ihm nahe zu sein, gehe ich nach dem Unterricht nach vorn und gebe ihm einen fiktiven Brief zum Korrigieren, sehe zu, wie sich unsere Buchstaben verweben, das tun sie auch bei den Essay-Korrekturen. Einmal besprechen wir im Unterricht meinen Essay, das Werk liegt dabei als Matrizenabzug vor und beschert mir viele Zwischenblicke. Die Briefmethode funktioniert nur beim ersten Mal. Schon beim zweiten Mal korrigiert er ihn nicht neben mir, sondern wortlos während eines Tests. Es ist mir peinlich und ich gebe das Experiment auf.

Woher nimmt man als junger Mensch diese hoffnungsvolle, ängstliche Zuversicht? Woher den traumsicheren, rücksichtslosen Mut, sich einem unerreichbaren Fremden sacht und leise in den Weg zu stellen? Darf man überhaupt ungefragt die Kreise eines anderen Menschen betreten? Verliebt man sich in das Bildnis, das man sich vom anderen macht, da man die reale Person doch gar nicht kennt? Oder ist es möglich, den anderen so intuitiv wahrzunehmen, dass man ihm dabei  in die Seele schauen kann? Warum schmerzt unerwiderte Liebe so sehr? Es berührt mich, dass meine verlorenen Empfindungen selbst nach einem halben Jahrhundert noch bis in die feinsten Nuancen hinein abrufbar sind.

Ich schenke meine Gedanken dem derzeit besten Übersetzungsprogramm und hoffe, dass sie auch nach der Verwandlung verständlich sind.

Egy sötét macska szaladgál az esőben. Egy bagoly beleveti magát a tengerbe. Csak egy árnyék vagy. Mondd, hogy a halál hangosan vagy halkan jön? 

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

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Rooms and Stories – Zimmer 15, Januar 1975

Sonntag ist ein neues Mädchen in die 15 gezogen, wir sind also Nachbarinnen. Masako und Sabine aus der 17 haben sie bisher auch noch nicht gesehen, auch nicht zufällig im Flur, und sie hat sich auch niemandem vorgestellt, wie es sonst bei uns üblich ist. Wir treffen uns oft in der Küche zum Reden oder Teetrinken, sie hat bestimmt unsere Stimmen gehört. Offenbar möchte sie lieber erst mal nur für sich sein, was wir verstehen und respektieren. Sie wohnt noch allein im Zimmer, wir wissen nicht, ob es momentan als Doppelzimmer oder Einzelzimmer genutzt werden soll.

Seit einigen Stunden läuft in der 15 ziemlich laut das Radio. In der Küche sprechen wir darüber und beschließen, etwas zu unternehmen. Wir klopfen bei der Neuen an und versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen, rufen durchs Holz, sie soll bitte etwas leiser sein, weil die Musik uns stört. Sie reagiert nicht. Wir hören zwar Geräusche, aber sie will offenbar nicht aufmachen. Vielleicht hat sie Heimweh. Vielleicht geht es ihr nicht gut. Vielleicht weint sie, hat vielleicht Liebeskummer, und will nicht, dass wir es hören.

„Können wir was für dich tun?“ rufen wir. Keine Antwort. Schließlich schieben wir ihr einen zusammengefalteten Zettel unter die Tür.  Darauf steht: „Bitte dreh dein Radio leiser.“ Wir wagen nicht, die Klinke herunterzudrücken, als wäre es die verbotene letzte Tür aus dem Märchen. Sabine holt die Heimsprecherin, die sich traut, doch die Tür ist abgeschlossen. Das Radio wird auch nicht leiser, als es draußen dunkel wird. Später und später wird es, doch im Flur und durch die Wände kann man den Krach immer noch deutlich hören. Wenn wir nichts unternehmen, können wir alle nicht schlafen. Also holen wir wieder die Heimsprecherin und die informiert schließlich die Heimleiterin.

Kurz darauf ist sie vor Ort, versucht es wie wir mit Klopfen und Rufen, Rütteln und Klinkedrücken, und verschafft sich schließlich mit Hilfe des Generalschlüssels Zutritt. Zum Glück steckt innen kein Schlüssel, sonst hätte sie den Schlüsseldienst rufen müssen. Ein paar von uns stehen noch draußen und sehen sie im Zimmer verschwinden. Doch sofort stürzt sie wieder heraus, bleich, mit weiten Augen, die Hand am Mund, und jetzt bekommen wir Angst. Das Radio läuft unbeirrt weiter.

„Ist was passiert?“ fragt Sabine. Die Heimleiterin zittert am ganzen Körper, doch ihre Stimme ist fest. „Gehen Sie bitte alle in Ihre Zimmer und bleiben Sie dort. Kommen Sie auf gar keinen Fall auf den Flur, bis ich es Ihnen sage.“ Alles wirkt bedrohlich. Michelle ist im Moment in Frankreich, aber meine Freundin Karla ist bei mir, wir bleiben gehorsam im Zimmer, sehen und hören aber trotzdem, was draußen passiert. Karla und ich stehen am Fenster und beobachten den Eingang. Zuerst läuft ein Notarzt ins Haus, dann kommt die Polizei, schließlich zwei Männer mit einer Bahre. Wir hören die fremden Stimmen durch die dünne Tür. Jetzt stellt jemand das Radio ab. Als die Polizei erscheint, ist klar, dass die Neue tot ist.

Wir wissen nicht, wie sie ausgesehen hat und wer sie war, wir kennen nicht mal ihren Namen. Nur wenige Tage lang war sie auf unserem Flur, und jetzt wird sie heimlich weggebracht. Es quietscht, als die Männer die Bahre über den Gang rollen. Eine tiefe Stimme flucht, als sie die Bahre die Treppe hinunterschaffen, die enge Biegung ist sicher ziemlich schwierig für sie. Unser Aufzug ist für den Transport eindeutig zu klein. „Die war schwanger“, sagt die etwas höhere Männerstimme, die nicht geflucht hat, doch sofort widerspricht eine Frauenstimme. „Wir sind ein katholisches Haus! So etwas gibt es nicht in einem katholischen Haus!“

Gestorben vor mehreren Stunden, an einem Blutsturz. Das hören wir, und mehr werden wir nicht erfahren. Hätten wir sie retten können? Hätten wir gewaltsam die Tür eintreten sollen? Früher die Heimleiterin benachrichtigen? Aber es wäre nicht nett gewesen der Neuen gegenüber, sie sofort wegen ein bisschen Lärm zu verpetzen, versuche ich uns zu verteidigen. Ist sie verblutet? War sie sofort tot? Ist sie qualvoll gestorben? Hat sie allein versucht, ihre Schwangerschaft zu beenden? Hatte sie eine Fehlgeburt? Mir ist übel. Wir waren die ganze Zeit in ihrer Nähe und haben nichts unternommen, nur weil wir höflich und rücksichtsvoll sein wollten und ihre Privatsphäre respektierten. War das jetzt alles falsch? Ich fühle mich schlecht, verwirrt und irgendwie schuldig.

Mehr als das, was die Flurstimmen preisgeben, werden wir nicht in Erfahrung bringen, wir trauen uns auch nicht, die Heimleiterin direkt zu fragen. Wir vermeiden sogar, miteinander über das Erlebte und Gehörte zu sprechen. Wir schweigen und bleiben verunsichert.

Einige Tage lang ist es ungewöhnlich still auf unserem Flur. Fürs erste will niemand in das gefährliche Zimmer ziehen. Nicht mal, wenn es ein Einzelzimmer ist. Egal, wie beliebt Einzelzimmer normalerweise sind. Wenn ich an der 15 vorbeigehe, halte ich die Luft an und versuche, die stumme Tür auf gar keinen Fall anzusehen.

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Rooms and Stories – Zimmer 13

in der Bretagne

Als die Tür aufgeht und meine neue Zimmergenossin hereinkommt, bin ich angenehm überrascht und total erleichtert, denn sie ist mir sofort sympathisch. „Hallo, ich bin die Michelle“, sagt die zierliche Person, die nach Eau de Roches duftet, freundlich und reicht mir die Hand. Sie spricht leise und musikalisch, die französische Färbung ist nur ganz zart. Ich bin so froh, dass sie nicht raucht! Wir erzählen einander ein bisschen über unsere Heimatorte und unsere Eltern, und sie gibt mir gleich viele nützliche Tipps für den ersten Tag an der Uni, berichtet, welche Dozenten und Professoren sie bereits kennt. Wir atmen beide tief durch und lächeln.

Michelle hat weiches, dunkelblondes Haar, das direkt nach dem Waschen wellig und leicht gelockt ist wie feinstes Engelshaar. Ihre Augen sind braun, mit einer Spur Graugrün. Sie ist etwas älter als ich, studiert bereits seit einigen Semestern an der Sorbonne in Paris, ist sehr schlank und im Gegensatz zu mir äußerst sportlich. Hier in Köln wird sie ihre Magisterarbeit schreiben. Das Thema klingt kompliziert: Deutschland nach dem ersten Weltkrieg in den Romanen von Fallada „Kleiner Mann, was nun“ und „Wolf unter Wölfen“. Ich kenne den Schriftsteller nicht, wohl aber das Pferd Falada aus dem Märchen „Die Gänsemagd“, dessen Kopf nach dem Verrat durch die Kammerzofe an der Brückenmauer hängt und jeden Morgen so traurig der betrogenen Prinzessin antwortet. Die Prinzessin beginnt: „Oh du Falada, da du hangest.“ Und der Pferdekopf antwortet: „Oh du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das dein Mutter wüßt‘, ihr Herz tät ihr zerspringen.“ Mir tat das Pferd immer sehr leid, als Kind hat mich der abgeschlagene Kopf gelegentlich in den Schlaf verfolgt. Mir selbst gefiel in dem Märchen vor allem der Zauberspruch der Gänsemagd-Königstochter: „Weh, weh, Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen, und lass’n sich mit jagen, bis ich geflochten und geschnatzt und wieder aufgesatzt.“ Geschnatzt ist ein wunderbar altmodisches Wort, das ich bis heute gelegentlich benutze.

 Aus dem Märchen lieh sich Fallada seinen Namen, erzählt mir Michelle, in Wirklichkeit hieß er Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen. Sein selbstgewählter Vorname stammt aus dem Märchen „Hans im Glück“. Pseudonyme sind sehr verlockend, ich überlege, wie ich mich selbst nennen soll, falls ich eines Tages Bücher schreibe. Das ist mein großer Traum. Bei den Exerzitien vor dem Abitur habe ich ihn zu meiner großen Überraschung zum ersten Mal ausgesprochen: „Ich möchte Schriftstellerin werden.“ Wir saßen im Kreis, gemeinsam mit einem sehr netten Priester, den wir nie wiedersehen würden, und sollten sagen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellten. Meinen Eltern verschweige ich meinen kühnen Plan natürlich. Ich weiß genau, was meine Mutter sagen wird: „Brotlose Kunst! Kommt nicht in Frage!“ Vielleicht könnte ich meinen Nachnamen in die französische Form Valentin umwandeln, so hießen unsere hugenottischen Vorfahren. Aber möglicherweise ist das nur so eine Familienmär wie die angebliche Burg Felten, von der außer den Geschwistern meines Vaters kein Mensch etwas weiß. Die Hauptperson in Falladas „Kleine Mann, was nun“ nennt seine Frau „Lämmchen“, erzählt Michelle. Klingt ein bisschen wie „Liebchen“, so nennt mich mein Vater manchmal. Ich muss das Buch unbedingt lesen!

 Die erste kalte Universitätsdusche erwischt mich am nächsten Morgen bei der „Studienberatung für Erstsemester“. Dieses Gespräch ist für alle Neuen Pflicht. Der Professor wirkt genervt, hat wohl den ganzen Tag nichts anderes getan als sich mit unwissenden Frischlingen herumzuschlagen. Mich fragt er unfreundlich, warum ich denn ausgerechnet Germanistik studieren wolle. Es gebe in Köln ohnehin schon viel zu viele Germanisten. Auf diesen Affront bin ich nicht gefasst. „Weil ich Bücher liebe“, ist das Einzige, das mir einfällt und entspricht zudem der Wahrheit. Der Professor schnaubt. „Wenn das alles ist, sollten Sie besser Bibliothekarin werden.“ Ich fühle mich wie ein mit Eiswasser begossener Pudel. Den Rest der Beratung bekomme ich nicht mehr mit vor nachhaltigem Schreck. Die Zweifel, ob Germanistik wirklich das richtige Fach für mich ist, lodern stärker denn je. Später wird mir klar, dass er Linguist ist. Vielleicht hätte ich die Bücher nicht erwähnen sollen? „Weil ich die deutsche Grammatik und Sprachwissenschaft liebe“ wäre vielleicht eine bessere Antwort gewesen? Irgendetwas Witziges, Originelles hätte ich sagen sollen, ihm den Wind aus den Segeln nehmen, aber mir fällt in heiklen Situationen nie etwas Gescheites ein. Ob alle Erstsemester das mit der Liebe zu Büchern gesagt haben und er deshalb so sauer war? Am liebsten würde ich gleich alles hinschmeißen und gar nicht erst anfangen zu studieren.

Im Hauptstudium begegnete ich ihm später wieder, er leitete das Seminar „Übersetzungskritik“, ein Thema, das mich spontan faszinierte. Vielleicht ahnte ich damals schon, dass ich schon bald Buchübersetzerin werden würde. Wir verglichen verschiedene Übersetzungsversionen, hatten dabei immer Zielsprache und Ausgangssprache im Blick, denn ohne das Original zu kennen, kann man sich die Kritik gleich sparen. Wer nicht beide Sprachen perfekt beherrscht, kann eine Übersetzung gar nicht beurteilen. Das leuchtete mir ein. Eines Morgens ging es um Fachsprachen. „Die kann man nicht übersetzen“, meinte der Professor, „Hier muss man den entsprechenden Begriff in der Zielsprache einfach kennen, damit die Übertragung klappt.“ Als Beispiel wählte er die Waidmannssprache, die kenne ich recht gut aus meinen Kinderbüchern und durch meinen Jäger-Vater, und Minuten später beeindruckte ich den Professor, der mich im ersten Semester so verunsichert hatte, mit meinem rein zufälligen Wissen. Ich schien die Einzige im Kurs zu sein, die wusste, zu welcher Fachsprache „Lichter“, „Blume“, „Luder“ und „Schweiß“ gehörten und was sie in diesem Kontext bedeuten. „Sie sind aber intelligent!“ entfuhr es ihm. Ich wurde rot. Das unverdiente Lob freute mich. Mit Intelligenz hat die Kenntnis der Jägersprache natürlich genauso wenig zu tun wie die Germanistik mit der Liebe zu Büchern.

 Jeden Morgen setzt sich Michelle an ihren Schreibtisch, trinkt warmen Kräutertee, manchmal nascht sie auch Marmelade, und bleibt sitzen, bis sie mindestens fünf Seiten geschrieben hat. Manchmal geht es schnell, dann können wir auch schon mal gemeinsam zu Fuß in die Uni gehen, manchmal sitzt sie auch am Nachmittag noch dort, mit leicht zusammengezogenen Brauen und gezücktem Füller, es will ihr dann einfach nicht genug einfallen. Sie ist beneidenswert diszipliniert. Auch was ihre Fitness betrifft. Sie geht (gefühlt) jeden Tag schwimmen, weil es sie an die Bretagne und das Meer erinnert, in das man einfach morgens und abends hineinspringen kann, wenn man dort ein Sommerhaus hat. In der Bretagne würde ich auch gern leben! Michelle erzählt mir von blauen Hortensienbüschen, Menhiren und verwitterten Kalvarienbergen vor uralten Kirchen. In der Bretagne gibt es viele geheimnisvolle Orte, sogar einen personifizierten Tod, den Ankou, Legenden und Mythen, Broceliande, den sagenhaften Wald aus der Artusepik, und sogar eine eigene keltische Sprache, Bretonisch. „Du musst mich unbedingt dort besuchen“, sagt Michelle, und ich weiß, dass ich das ganz sicher tun werde.

 Samstags geht Michelle reiten, sie besitzt natürlich einen Reithelm und alles, was man zum Reiten sonst noch braucht. Sie sieht eindrucksvoll aus in ihrem Outfit und berichtet, dass deutsche Pferde viel größer sind als französische. Sie schwärmt für den jungen englischen Jockey Eddie Macken.

Ich schwärme auch. Erschreckend heftig, selbst für meine gefühlsstürmischen Verhältnisse. Für meinen ungarisch-britischen Lektor, in dessen Kurs ich ganz zufällig geraten bin. Es tut richtig weh und fühlt sich an wie Liebe. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Als ich mich in seinem Zimmer im Philosophikum anmelde und ihn zum ersten Mal sehe, fällt mir alles aus den Händen, Tasche, Stift, Block. Als hätte mich der Blitz getroffen, so etwas Verrücktes ist mir noch nie passiert. Sein Gesicht muss einem uralten Seelenbild in mir entsprechen, von dem ich nicht weiß, woher es stammt. Aus einem Film? Einem Buch? Einem Traum? Einem anderen Leben? Ich bin in seinen Kurs geschickt worden, es ist ein sogenannter C-Kurs, weil ich im Placement Test schlecht abgeschnitten habe. Es war ein komplizierter Multiple Choice Test, der die Lektüre von etlichen Texten und Büchern voraussetzte, von denen ich bis dahin noch nie gehört hatte. Eine deprimierende Erfahrung, doch als jäh der Blitz in mich fährt, bin ich glücklich, dass mich der verpatzte Test ausgerechnet in dieses Zimmer geführt hat. 

 Wenn ich in den Intensive Language Course gehe (14:00 -17:00 Uhr im alten Vorlesungsgebäude, er kommt immer zu spät), ist mir schon morgens beim Aufstehen schlecht vor Aufregung und ich bekomme keinen Bissen herunter. Im Mittelhochdeutschkurs finde ich Worte für diese Gefühlsverwirrung bei Gottfried von Straßburg: „süeze sûr, liebes leit“. Wird er mich bemerken? Mir zulächeln? Das bodenlose Verliebtsein hat etwas zutiefst Erschreckendes. Es beginnt bereits, sich störend auf meine realen Beziehungen auszuwirken, denn für meine Gefühle macht es merkwürdigerweise überhaupt keinen Unterschied, ob sie erwidert werden oder nicht. Dieser Mensch erschüttert alles, was bisher war. Michelle wünscht mir „Viel Glück“, wenn ich donnerstags hoffnungsvoll ängstlich aus der Tür gehe. Natürlich interessiert er sich nicht für mich, auch wenn er mich gelegentlich anlächelt, so dass all meine Sehnsüchte ins Leere laufen. Im zweiten Semester besuche ich gleich zwei seiner Veranstaltungen, den Essay und den Translation Course. Danach ist er fort, und ich weiß nur, dass ich ihn nie vergessen und noch lange suchen werde. 

 Ab und zu fährt Michelle mit ihrem kleinen weißen C4 am Wochenende mit mir zu meinen Eltern. Beide mögen sie auf Anhieb, auch wenn sie isst wie ein Vögelchen, was meine Mutter nicht müde wird zu beklagen. Michelle ist oft unterwegs, so dass ich trotz des Doppelzimmers erstaunlich viel Zeit für mich allein habe. Doch es stört mich auch nicht beim Lernen oder Lesen, wenn sie da ist. Sie gehört einfach dazu. Zum Zimmer, zu Köln, zu meinem Leben.

Wir lieben zufällig genau dieselbe Musik: alles von Cat Stevens, aber auch vieles von Donovan, Ralph McTell („Streets of London“) und Bob Dylan (besonders „Hurricane“). Es ist die Zeit der Folk-Sänger und Michelle hat auch Musik von französischen Künstlern wie Alan Stivell, der damals in Deutschland schon gut bekannt ist. In der Bretagne gibt es auch Harfen und Dudelsäcke als traditionelle Instrumente, erfahre ich, denn es ist ein keltisches Land. Cat Stevens hören wir jeden Abend, eine von uns muss immer gefühlt hundertmal aufstehen, um den Recorder zurückspulen zu lassen, damit wir „Sad Lisa“ oder „Father and Son“ wieder und wieder hören können. Es ist ein friedliches, angenehmes Jahr in der 13, auch wenn mir die Uni und mein Freund bei der Bundeswehr enorm viel Stress machen.

 In der Bretagne war Michelle Meisterin für Kraulschwimmen, 4 x 100 Meter Staffel, ich bin tief beeindruckt. Ich selbst bin leider der unsportlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Michelle dagegen ist ein echtes Wassermädchen und hat vom Schwimmen eindrucksvoll starke Schultern. Sie zeigt mir Fotos von ihrem Bretonischen Spaniel und ihrem Irish Setter. Ihr Vater ist Zahnarzt und ein hervorragender Fotograf. Er fotografiert am liebsten Winzlinge: Insekten, Blüten, Grashalme, Tautropfen, aber natürlich auch seine Hunde. Auf einem Bild läuft der Spaniel durch ein wogendes Gräserfeld, am liebsten würde ich es vergrößern und über meinen Schreibtisch hängen. Oft wartet er stundenlang geduldig, bis die Grille, der Marienkäfer oder die Heuschrecke genau so sitzen, dass er sie perfekt fotografieren kann. Diese Jagd mit der Kamera kann ich gut verstehen und auch das befriedigende Glücksgefühl, wenn der richtige Moment gekommen ist und man das Bild „geschossen“ hat. Michelles Mutter klingt ähnlich kompliziert wie meine eigene, obwohl Michelle nie Negatives über sie sagt. Aber wir können beide zwischen den Zeilen lesen.

 Für mich ist das Zusammensein mit Michelle ein „Match made in Heaven“. Es gelingt uns mühelos, diskret, rücksichtsvoll, freundlich und entspannt miteinander umzugehen. Kein einziges Mal haben wir Streit oder auch nur eine Unstimmigkeit. Ich freue mich jeden Tag, mit ihr im selben Zimmer zu wohnen. Wenn ich nach Köln zurückkehre, ist es trotz der Kopfschmerzen, die mir die berüchtigte Kölner Bucht in den ersten Monaten beschert, schon bald genauso mein Zuhause wie mein Elternhaus. Morgens weckt uns Michelles Radio mit französischen Nachrichten, abends hören wir bis tief in die Nacht unsere gemeinsame Lieblingsmusik. Einen Fernseher gibt es nur im Gemeinschaftsraum, nicht in den Zimmern. Es ist eine ruhige, freundliche, sichere Zeit in Zimmer 13, ich lerne wichtige französische Wörter wie „bof!“ und „le truc“ und sehe unzählige französische Filme, denn das Institut Français liegt um die Ecke und wir besuchen auch oft die preiswerten kleinen Kinos, etwa die Cinemathek. „César et Rosalie“ mit dem schönen Sami Frey und dem interessanten Yves Montand sehen wir mindestens fünfmal.

 Es gibt nur ein Foto von unserem Zimmer, Michelle muss es gemacht haben. Ich sitze auf meinem Bett mit der knallroten Decke, die meine Mutter gekauft hat, und sehe fröhlich aus. Hinter mir hängen einige der selbstgemalten schwarzweißen Tuschebilder, meine Wimmelbilder aus der Pforte. Es muss in der Adventszeit aufgenommen worden sein, denn an der Wand hängt ein Adventskalender in Nikolausform, einer der wenigen Hampelmann-Kalender in meiner Sammlung. Man sieht auch den Rand des blauen Märchenposters von Edmund Dulac und eine Ecke des David Hamilton-Posters, auf dem die beiden Mädchen vor der verwitterten Mauer nie aufhören werden, die weißen Tauben zu füttern.

Im nächsten Jahr kennen wir uns fünfzig Jahre, und Michelles Gegenwart ist für mich immer noch genauso angenehm und entspannend wie damals. Wir brauchen selbst nach längerer Abwesenheit nur Sekunden, um wieder vertraut zu sein, und sind auf Whatsapp oft in Kontakt. Michelle reist gern und schickt mir stimmungsvolle Fotos aus fernen Ländern, entdeckt verwunschene Buchläden für mich und teilt mit mir die schönsten Sonnenuntergänge an ihrem bretonischen Strand. Inzwischen joggt sie jeden Tag. Sie liebt Hunde (besonders Beagles) wie ich Katzen (besonders Maine Coons). Wir sehen uns jedes Jahr, sie hat es sogar während der Pandemie nach Köln geschafft. Ich habe sie in Paris und in der Bretagne besucht, aber das sind andere Räume und andere Geschichten.

Der Tag, an dem sie aus Zimmer 13 auszog, war schrecklich. Ich brachte sie zum Wagen, wir gaben uns die letzten traurigen Luftküsse, und ich ging zurück in den einsamen, halbleeren Raum. Genau wie am ersten Abend. Schnell und ohne jemanden anzusehen. Schließlich wollte ich nicht vor aller Welt in Tränen ausbrechen. 

in der Bretagne

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Rooms and Stories – Universität zu Köln

Hüpfen (Jose MariaPerez/unsplash)

Als sie den Mensabereich „Wahlessen“ betritt, sieht sie ihn sofort. Er sitzt an einem Tisch in Fensternähe. Allein. Sie hat draußen im dunklen Schatten der Wände gestanden und beobachtet, wie er mit großen Schritten durch den Regen zur Mensa ging, dann eine Weile gewartet, ein Tablett mit irgendetwas Hastigem versehen und ist ihm gefolgt. Er ist nur mittwochs und donnerstags in der Uni. Was sie jetzt tun wird, fällt ihr sehr schwer, aber sie kann nicht anders. Es ist ein Kairos-Moment, den man nicht ungenutzt vergehen lassen darf. Im letzten Augenblick beschließt sie, nicht Englisch, sondern Deutsch mit ihm zu sprechen. Er beherrscht viele Sprachen, das weiß sie, in allen anderen wird sie ihm unterlegen sein. Bisher kennt sie ihn nur auf Englisch. Er bemerkt sie erst, als sie sich seinem Tisch nähert.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ „Überhaupt nicht.“ Er lächelt, hebt die Brauen und macht eine ermunternde Handbewegung, während sie mit unruhigen Fingern das Tablett abstellt, den grüngemusterten Stockschirm an den Tisch lehnt und ihre Mantelknöpfe aufnestelt. Sie trägt einen leichten schwarzen Sommermantel.

„Was reden denn die da draußen? Ich habe eben nicht aufgepasst.“ „Irgendein Kommilitone hat wohl politische Probleme. „Es geht also um Politik?“ Diese schönen Augen, denkt sie. Jetzt schauen die schönen dunkelbraunen Augen amüsiert nach unten auf seinen Teller. „Was soll denn das wieder für ein Fleisch sein? Man weiß nie, ob es gut ist, wenn man es anschaut.“ „Sieht aus wie Pferdefleisch“, meint sie. Er lacht leise. Er lacht sehr oft, auch im Unterricht. Er scheint die Welt aus sicherer Entfernung mit einer Mischung aus Heiterkeit, Ironie und Entspanntheit zu betrachten. „Pferdefleisch kenne ich, das schmeckt ganz gut.“ Jetzt blickt er auf ihren Teller und sieht nur Salat. „Sie mögen kein Pferdefleisch! Darum haben Sie also keins!“ Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Wie immer in wichtigen Momenten setzt ihr Verstand aus.

„Dieses schreckliche Wetter heute macht mich traurig“, versucht sie. Kein guter Anfang.„Ja, der Sommer ist schon vorbei hier in Köln.“ „Meinen Sie?“ „Sicher. Zwei Wochen Sonne, und dann ist es vorbei.“ „Ich weiß nicht… “ „Im vorigen Jahr war es noch schlimmer, da gab es gar keinen Sommer. In Köln regnet es viel mehr als in London. Da sieht es so aus, als ob es jeden Moment regnet, aber es tut es nicht.“ In diesem Moment rutscht ihr Schirm und fällt. Zu seiner Seite. Sie bückt sich, doch er ist schneller und hat ihn bereits aufgefangen.

„Gleich fällt er wieder!“ warnt sie. „Bestimmt! Er ist zu lang. Das müssen Sie so machen, dann fällt er nicht mehr.“ Er hängt den Schirm gekonnt in einem merkwürdigen, erstaunlich effektiven Winkel an den Tisch. Sie schaut ihn verdutzt an. Er hebt die Brauen und lacht zufrieden. „Eigentlich komisch“, sagt sie. „Immer wenn ich diesen großen Schirm mitnehme, regnet es nicht, aber heute doch.“ „Sie hatten heute also Glück mit dem Schirm.“ Großes Glück, denkt sie. Und nicht nur mit dem Schirm.

„Wie schmeckt denn das Pferdefleisch?“ erkundigt sie sich. „Ganz gut, aber man hat es wohl vorher mit Sand bestreut.“ „Dann ist es vielleicht ein Wüstenpferd?“ Er lehnt sich zurück und lacht. „Könnten auch Kamelen sein“, meint er. „Aber das glaube ich nicht. Die sind zu teuer.“ Ach, wie schön es sich anhört, wenn er Kamelen sagt. Das ist bisher sein einziger Fehler, auch wenn er unverkennbar britisch klingt. Sehr sophisticated. „Man könnte sie aus dem Zoo klauen“, schlägt sie vor. Er sieht sie an. Lacht. Und spielt weiter mit. „In den chinesischen Restaurants bekommt man gutes Fleisch. Man sagt, auch schon mal Ratten.“ „Sie essen Ratten?“ Die Vorstellung erschreckt sie. „Nicht bewusst. Aber wenn, dann haben sie gut geschmeckt.“ „Meine Schwester aß früher Regenwürmer.“ Hoffentlich verdirbt sie ihm nicht den Appetit. „Gebratene?“ „Nein, rohe.“„Regenwürmer werden doch selten, oder?“ „Bei uns im Garten gibt es noch genug davon.“ „Aber Frösche?“ „Das stimmt. Davon gibt es nicht mehr so viele. Essen Sie auch Frösche?“ „Die schmecken ganz besonders gut.“ Jetzt wirkt er wirklich belustigt. Was redet sie da nur für einen Unsinn. Er scheint einen äußerst robusten Magen zu haben.

Sie schweigen eine Weile, er verzehrt mit bestem Appetit sein Fleisch und streut dann den Reis in die Sauce. Dabei fällt ihm das Messer in die Mischung. Er fischt es vorsichtig mit der weißen Papierserviette heraus.

„Sind Sie schon lange hier in Köln?“ fragt sie. „Seit einem Jahr und einem – oder zwei – nein, einem Monat.“ „…. und bleiben Sie noch?“ Plötzliche Angst zwingt sie zu dieser Frage. „Nein, ich gehe nach diesem Semester wieder zurück nach London. Ich habe im Sommersemester angefangen. Drei Semester sind genug. Es ist nur ein Ausflug.“ Er schaut sie an und lacht wieder. „Sie haben in diesem Jahr angefangen, nicht?“„Im vorigen Wintersemester.“ „Sie haben also gerade erst Ihr akademisches Jahr begonnen. Sagt man das auf Deutsch so?“ „Ja.“ „Köln ist keine so schöne Stadt. London ist auch nicht schön, aber schöner als Köln.“ „Das stimmt. Es gibt ein paar schöne Stellen in Köln, aber sonst….“ „Das Unicenter gefällt mir nicht.“ Das versteht sie sofort. „Nicht wie New York.“ Ganz sicher kennt er New York. „Ich war schon mal drin, ganz hoch oben. Es sieht aus wie ein Krankenhaus. Schrecklich.“ „Ja, die Gänge. Ich dachte so.“ Er lacht wieder. „Aber man kann sich dort gut umbringen. Von oben herunterspringen.“ Er sieht sie an. „Sie wollen einen dramatischen Tod? Man braucht gar nicht bis ganz oben zu fahren, es geht auch weiter unten.“ „Ich will aber wirklich sicher sein.“

Er sieht sie immer noch an. Nachdenklich. Alles an ihm ist schön, seine tiefe, melodische Stimme, seine Augen, seine Nase, seine  Nasenflügel, seine Zähne, sein Mund. Die langen schlanken Hände. Ob er ein Instrument spielt? Ob er klassische Musik mag? Er spürt ihre Verlegenheit und rettet sie, indem er das Gespräch in ungefährlichere Bahnen lenkt.

„Heute Morgen war es ganz schrecklich. Ich musste zum Straßenverkehrsamt. Wissen Sie, wo das liegt?“ Sie weiß es nicht. Er sagt den Straßennamen, doch sie vergisst ihn sofort wieder.  „Davor ist eine Schlachterei, und es wurde umgebaut. Ich war um halb sieben zu Hause losgefahren. Ich dachte, es wäre genug Zeit, zwei Stunden. Aber ich musste warten. Ich sollte meinen englischen Führerschein übersetzen. Das dauerte so lange! Als ich herauskam, gab es keine Straßenbahn und keinen Bus. Ich musste zu Fuß gehen. Und das war eine ziemlich große Strecke, eineinhalb Kilometer. Bis dahin konnte ich kein Taxi kriegen. Alles war nass und voller Pfützen. Ich musste richtig hüpfen.“ Jetzt muss sie auch lachen.

„Das hat bestimmt nett ausgesehen.“ Er verzieht zweifelnd das Gesicht. „Dann hatten Sie ja einen richtig frühen Termin.“ Er nickt. „Es war sehr früh am Morgen. Ich dachte, die Zeit genügt. Und ich muss es bis zum Wochenende unbedingt haben.“ Er atmet hörbar ein. Ihr Mund ist trocken, sie kann kaum schlucken. „Ich habe heute keine Lust, in die Vorlesungen zu gehen.“ „Das brauchen Sie doch auch nicht.“ Er zieht wieder die Brauen hoch und schaut sie an. „Es ist nicht so weit bis nach London. Etwas mehr als eine Stunde, wenn man fliegt.“ „Nicht drei Stunden?“ „Eine Stunde und ein bisschen. Man kann auch mit dem Fahrrad fahren.“ „Sie kennen mein Fahrrad nicht.“ Er lacht. „Man braucht wohl einen Tag mit dem Fahrrad.“ „Ich bestimmt nicht.“ „Also gut. Zwei Tage. Es ist auch nicht sehr weit bis Ostende.“ Er sagt Ostend.

„Ich war im vorigen Jahr in England.“ „Ja, wo waren Sie denn?“ „In London.“ „Und es hat Ihnen gefallen?“ „Ganz gut.“ „London ist etwas zu groß, wenn man es nicht kennt.“ „Ich habe mir nur die schönsten Stellen angesehen.“

Inzwischen hat er etwas umständlich seine Milch ausgepackt, zwei Strohhalme hineingesteckt und trinkt. Sie hätte nie damit gerechnet, dass er Milch trinkt. Wein, Whiskey, Kaffee, Tee. Aber Milch? Jetzt erinnert er sie an einen großen dunklen durstigen Vogel. Als er ausgetrunken hat, lehnt er sich zurück und lächelt.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, sagt er freundlich und sehr langsam, „ich habe noch eine Verabredung. Einen Termin. Ich stecke gerade so richtig in einem bürokratischen Apparat.“ Er zieht seinen kurzen grauen Mantel an, nimmt sein Tablett, nickt ihr zu und geht. Am Tischende dreht er sich noch einmal um, lächelt und sagt: „Guten Appetit.“

Dann ist er fort, und sie kann kaum glauben, dass er jemals da war. Ihr Schirm hängt noch in diesem neuen ungewohnten Winkel und sekundenlang sieht sie noch einen dunklen Schatten auf dem Stuhl gegenüber. Dann wird alles leer. Sie denkt nichts. Sie fühlt nichts. Bald wird er fort sein. Für immer. Dieser merkwürdige Wortwechsel wird ihr erstes und einziges Gespräch bleiben. Sie ist zwanzig. Er ist vierundvierzig, doch das weiß sie nicht. Sie weiß nichts über ihn und sein Leben. Als sie im Studentenheim ankommt, schreibt sie alles auf. Sie will kein Wort, keine Bewegung verlieren.

Nach einem halben Jahrhundert, zehn Jahre nach seinem Tod, steht alles noch unverändert in meinem alten Tagebuch, und ich erschrecke, als ich das Datum lese: 18. Juni 1975. Mein Gespür war richtig, es war wirklich der letzte Moment. Drei Wochen vor Semesterende.

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Rooms and Stories – Kaesenstraße, erster Tag

Köln (Ramin Karbassi/usnplash)

Ist es möglich, ein ganzes Jahr lang mit einem wildfremden Menschen, den man sich nicht einmal selbst ausgesucht hat und der noch dazu aus einem anderen Land stammt, ein Zimmer zu teilen und dabei glücklich und in Harmonie zu leben?

Ich weiß nicht, wer die andere Studentin sein wird. Eine Französin, hat die Heimleiterin am Telefon gesagt. Ich stelle mir eine elegante, selbstbewusste Pariserin vor, toll geschminkt, die ununterbrochen raucht und Wein trinkt, nur französische Schlager hört und wie ein Wasserfall redet. Ganz schreckliche Vorurteile, ich weiß, aber sie sind hartnäckig. Möglicherweise ist sie zwanghaft ordentlich, alles muss makellos aufgeräumt sein. Oder total chaotisch, überall liegen Sachen herum, auch schlimm. Ich habe solche Angst vor diesem Jahr! Vor der Fremde, der Großstadt, der Universität, dem Studium. Keiner mehr da, den ich um Hilfe bitten oder um Rat fragen kann. Keine Familie, keine Freundinnen, keine Schule. Mein Freund, mit dem ich seit vier Jahren zusammen bin, ist weit weg bei der Bundeswehr und kommt nur noch am Wochenende nach Hause. Und er hat sich verändert, weil er es beim Bund kaum aushält. Ob ich mich auch verändern werde hier in der Stadt? Vor der Heimleiterin, einer älteren Dame, habe ich auch Angst, sie erinnert mich an eine strenge Lehrerin aus der Volksschule. Ich bestehe wie so oft nur aus Angst. Vor den Studentinnen im Heim, die aus aller Welt kommen, und den Kommilitonen an der Uni habe ich auch Angst.

Ich bin sehr aufgeregt, als meine Eltern mich mit dem Auto nach Köln bringen, aber wie üblich merkt man mir nichts an, weil ich nichts mehr sage und stumm bin wie ein Fisch. Meine Eltern sind auch gestresst, ich spüre es deutlich, meine Mutter gibt mir tausend Ratschläge, ihr wäre es lieber, ich würde weiter zu Hause wohnen und jeden Tag mit dem Zug nach Köln reisen. Mein Vater flucht und schimpft, weil er in einer fremden Stadt herumfahren muss und sich nicht auskennt. Wir haben den Kofferraum vollgepackt mit Essen, ich soll auf keinen Fall verhungern, und dem, was man als Erstsemester so braucht. Jetzt bin ich froh, dass ich eine „Aussteuer“ habe. Handtücher, Bettwäsche, mein gelbes und braunes Melitta-Geschirr, alles im Kofferraum, in Taschen, Tüten und Koffern.

Das katholische Studentinnenheim liegt nur wenige Schritte vom Volksgarten entfernt, nah an den Ringen, die Bahnverbindung ist gut, die Haltestelle Eifelplatz um die Ecke, aber ich habe keine Ahnung, wie ich zur Uni oder zum Bahnhof komme, bin ja nur an unser Dorf, aber nicht an ein Leben in der Großstadt gewöhnt. Ich kenne hier nur eine einzige Person, die Studentin, die für mich gebürgt hat. Aber von Kennen kann gar nicht die Rede sein. Sie kommt zufällig aus demselben Dorf, meine Mutter ist mit ihrer Mutter zur Schule gegangen. Meine kontaktstarke Mutter kennt jeden in unserem Dorf und ist ein Organisationsgenie. Ich fühle mich schon jetzt völlig überfordert. Schaffe ich das Studium überhaupt? Ist es wirklich eine gute Idee, Anglistik und Germanistik auf Lehramt zu studieren? Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich kann mich so gar nicht als Studienrätin sehen, bin viel zu schüchtern, habe große Probleme damit, vor anderen zu stehen und zu reden. Vor Referaten bin ich immer tausend Tode gestorben. Am liebsten würde ich Psychologie studieren, aber das wollen meine Eltern nicht. Kunst würde mir auch gefallen, doch ein brotloser Beruf kommt nicht in Frage. Für Kunst bin ich auch nicht gut genug. Meine Abschlussnote ist gleich abgestürzt, als wir mit Speckstein und Ton gearbeitet haben. Meine Stärke ist einzig und allein das Zeichnen.

Ich habe keinen Schimmer, welche Kurse ich belegen muss, noch nie habe ich allein einen Stundenplan zusammenstellen müssen, fühle mich von den unzähligen Namen und Kursnummern erschlagen, wenn ich ins Vorlesungsverzeichnis schaue. Ich weiß nicht mal, wo ich mittags und abends etwas zu essen bekommen soll. Ewig werden die Vorräte meiner Mutter nicht halten. Meine Mutter, die meine Gedanken lesen kann, sagt: „Am nächsten Freitag bist du ja wieder zu Hause, Kind.“ Wie wird es sein ohne richtiges Badezimmer, ohne meinen vertrauten Schreibtisch, ohne Fernseher und ohne Telefon, auch wenn zu Hause immer einer mithört. Ich könnte heulen, wenn ich daran denke, dass ich ab heute Abend ohne Eltern, Schwester und ohne meine Katze leben muss.

Die schwarzweiße Topsi hat während meines Grundstudiums mit dem Kittenkriegen jedes Mal auf mich gewartet. Ihre Würfe kamen während dieser Zeit nur samstagnachts zur Welt, weil ich dann zuverlässig bei ihr im Keller neben der Wurfkiste sitzen und ihre Pfote halten konnte. Ich kam immer freitagabends mit dem Zug und blieb bis montagmorgens. Erst als ich in England lebte, konnte Topsi nicht mehr auf mich warten. In dem Jahr hat meine Mutter sie zum Tierarzt gebracht und kastrieren lassen.

Mich im Beisein einer anderen Person an- und auszuziehen, zu waschen, mit jemandem im selben Raum zu schlafen (vielleicht spricht sie im Schlaf, macht komische Geräusche oder schnarcht? Oder, noch schlimmer, ich selbst spreche im Schlaf, mache komische Geräusche oder schnarche?), zu arbeiten, zu schreiben, zu lesen, Vokabeln zu lernen,  für Vorträge oder Klausuren zu üben, wie soll das gehen? Stört man sich da nicht dauernd gegenseitig? Todsicher kann ich mich nicht konzentrieren, wenn ich nicht allein bin, ich brauche dazu totale Ruhe. Vielleicht hört sie die ganze Zeit Radio? Vielleicht ist sie temperamentvoll und launig? Oder sie ist verschlossen und redet kaum. Dann gibt es diese bleierne Stille, die einen völlig fertig macht. Oder sie streitet gern und wir kriegen dauernd Krach? Ich hasse Streit. Ich kann mich nicht wehren, lieber leide ich stumm vor mich hin und fresse alles in mich hinein. Den Satz „Mit dir kann man sich überhaupt nicht streiten“ kenne ich nur allzu gut. Bisher war er immer Vorwurf und nie Lob. Kann es in einem Doppelzimmer auch nur den Anflug von Privatsphäre geben? Die Chancen stehen nicht gut. Manchmal macht mich mein Kopfkino mit all seinen detaillierten Katastrophenvisionen total verrückt. Wäre ich doch entspannter!

Ich hätte meinem Schicksal einfach vertrauen sollen. Immerhin hatten Michelle und ich bereits eine Gemeinsamkeit. Die Heimleiterin hatte sich im Vorfeld erkundigt, ob es mir etwas ausmachen würde, ein Zimmer mit der Nummer 13 zu beziehen. Andere Studentinnen hätten dies abgelehnt, was sie gut verstehen könne, immerhin sei es für die meisten eine Unglückszahl. Warum eigentlich? Die Französin habe mit der 13 kein Problem, sagte die Heimleiterin. Ich auch nicht. Ich lebe heute sogar in einem Haus mit der Nummer 1313.

Das Heim wirkt auf den ersten Blick fremd und einschüchternd, riecht aber an manchen Stellen vertraut nach Klosterschule und Internat. Auf den Fluren wuseln junge Mädchen herum. Im vierten Stock gibt es eine Kapelle mit Sakristei. Zimmer 13 befindet sich im ersten Stock, ganz nah an der Treppe und dem kleinen Aufzug. Es gibt in jeder Etage ein Gemeinschaftstelefon, das einfach an der Wand hängt, so dass intime Gespräche problematisch und störanfällig sind. Alle Etagen haben zudem eine Gemeinschaftsküche mit Herd und zwei Kühlschränken, in den Schränken hat jede ein eigenes Fach. Am anderen Ende des Flurs sind zwei enge Toilettenkabinen, nicht viel für so viele Personen. Die Heimleiterin schließt die dreizehnte Tür auf und übergibt mir die Schlüssel für Haus- und Zimmertür. Neben der 13 hängt ein Kasten mit vielen hölzernen Taubenfächern für die Hauspost. Briefe und Karten an mich werden im F-Fach sein. Meine Zimmergenossin komme nicht aus Paris, sagt die Heimleiterin, sondern aus der Bretagne. Ein sehr sympathisches Mädchen, heute besuche sie ihre deutsche Brieffreundin. Offenbar ist sie sehr selbstständig und kann nahezu perfekt Deutsch. Sagt jedenfalls die Heimleiterin. Ich schöpfe ein bisschen Hoffnung.

Es wundert mich, wie oft ich bis heute von diesem Heim träume, manchmal vermischt mit der Klosterschule, vor allem die Wand mit den Brieffächern kommt fast immer vor. Zweimal habe ich in diesem Heim gewohnt. Zuerst drei Jahre lang bis zum Umzug nach England, zwei Jahre davon in einem Einzelzimmer, nach der Rückkehr aus Gravesend erneut, jedoch nur für wenige Monate, um vor Ort auf Wohnungssuche gehen zu können. Wieder im Doppelzimmer, diesmal mit einem afghanischen Mädchen, aber wir sahen uns kaum, weil sie meistens mit ihren Verwandten zusammen war. Ihren Vornamen habe ich vergessen, ich glaube, er bedeutete Schmetterling. Sie hatte einen netten Bruder, der sehr gut kochen konnte. An die Gesichter der beiden erinnere ich mich gut. Merkwürdigerweise hatte die Schmetterlingsschwester eine Vorliebe für Paul Simons Song „Duncan“, sie wollte es immer unbedingt hören. Nur gut, dass sie den Text nicht verstand.

Zimmer 13 mit den großen Fenstern ist leer, als wir es betreten. Der Raum ist doppelt so groß wie mein Kinderzimmer, an der linken Wand stehen zwei Betten fest hintereinander, mit gegenüberliegenden Kopfenden. Dazu gehören zwei kleine Nachttische. Hinter dem zweiten Bett steht ein einfacher weißer Schreibtisch mit einem roten Stuhl, auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls. Den Großteil der rechten Wand nehmen zwei breite, deckenhohe braune Schränke ein, mit vielen Fächern und Schubladen. Wir legen die Koffer, die meine Eltern leer wieder mitnehmen werden, aufs Bett, und meine Mutter macht sich ans Ausräumen. Sie hat wie immer alles perfekt im Griff, agiert überaus praktisch, hat an alles gedacht, ich bin ihr unendlich dankbar und mir wird fast schlecht, wenn ich daran denke, dass sie bald fort sein wird. Geschirr, Wäsche, Bücher, Plätzchen und Schokolade wandern in den Schrank. Alle Fächer haben Schlüssel. „Hoffentlich kommt hier nichts weg“, sagt mein Vater. Die Heimleiterin hat einen Generalschlüssel, wie wir gesehen haben. Wer weiß, ob es noch mehr davon gibt. Mein Vater hat immer Angst, bestohlen zu werden. Ich schließe also vorsichtshalber erst mal alle Fächer ab und verstecke die Schlüssel im jeweils nächsten Fach, doch das ist ziemlich umständlich. Lange halte ich das bestimmt nicht durch. 

Rechts neben der Tür hängt ein Waschbecken, darüber eine Ablage, an den Seiten Handtuchhalter. Meine Zimmergenossin hat sich Bett (das hintere) Schreibtisch (den links) und Schrank (den ersten rechts) bereits ausgesucht und ihre Sachen dort hingestellt und hingelegt. An der Stelle, wo sich die Betten treffen, befindet sich ein kleiner Tisch, auf den wir meinen Radiorecorder stellen. Der französische Kassettenrecorder steht bereits dort.

Die hohen Fenster gehen hinaus auf Birken und den Hof mit dem Eingangsbereich. Wie ein gläserner Käfig ist er konstruiert, es gibt eine Art Falle zwischen zwei großen Türen, beide müssen aufgeschlossen oder per Pfortenknopf aufgedrückt werden, damit Gäste ins Haus gelangen können. Wenn man das Haus betritt und zwischen den Glastüren steht, ist rechts das Pfortenfenster, hinter dem bis auf nachts immer jemand sitzt und aufpasst. Dort muss sich jeder anmelden, der keinen Schlüssel hat. Auch das erinnert mich an die Klosterschule und den Cerberus. Wer das Pech hat, ein Mann zu sein, bleibt bis zu seiner Befreiung durch die Studentin, die er besuchen oder abholen möchte, in der Glasfalle stecken. Die Bewohnerinnen sind also sicher vor bösen Überraschungen. Meiner Mutter gefällt das. Mein Vater ist ungewöhnlich still, ich glaube, es geht ihm nicht gut. Unsere bevorstehende Trennung macht auch ihm zu schaffen.

Sofort ist mir aufgefallen, dass es in diesem Zimmer ganz wunderbar duftet. Keine Spur von Rauch oder Rotwein, nur zart und frisch nach Blumen, ein klein wenig nach Frühlingswald und Gewürzen. Offenbar stammt der Duft aus der großen blauweißen Flasche auf dem linken Schreibtisch, die gleich neben den Riesenplastikflaschen mit Evian steht. Meine Mutter findet den Geruch auch angenehm. „So frisch! Sollen wir mal an der Flasche riechen?“, schlägt sie vor und schreitet, forsch wie sie ist, sofort zur Tat, während ich nervös zur Tür schaue, falls die Französin plötzlich ins Zimmer kommen und uns beim Tischfriedensbruch überraschen sollte. Wir schnuppern und ich bin sofort hin und weg. Wer dieses Eau de Toilette benutzt, kann nur ein besonders netter Mensch sein. „Eau de Roche“ steht auf der Flasche. Wasser, das über Felsen fließt.

immer noch… (BFL)

Ein Klassiker, 1948 kreiert von Edmond Roudnitska, der auch das berühmte „Diorissimo“ entwickelte. 1970 wurde der zitrisch frische Duft leicht verändert, 1983 erneut, seitdem heißt er „Eau de Rochas“. Es gibt ihn zum Glück immer noch! Irgendetwas fehlt heute zwar, aber er duftet immer noch überaus angenehm, leicht herb und zitronig, würzig, blumig und passt zu jedem Alter. Ein Hauch Basilikum und Moos, ein wenig wie Gin Tonic mit Zitrone. Damals wusste ich noch nichts von meiner hochsensiblen Nase, merkte aber, dass der Duft mich beruhigte. Später hat Michelle auch andere sehr schöne Düfte ausprobiert, etwa „L’EauParkKenzo“ und „Verveine“, sie hat mir bei ihren Besuchen auch gleich ihren neuen Duft mitgebracht und ich habe ihn dann ebenfalls aufgetragen und dabei an sie gedacht, doch sie selbst und unser gemeinsames Jahr habe ich offenbar nachhaltig mit „Eau de Roche“ abgespeichert. Ich benutze es bis heute. Immer noch. Nicht jeden Tag, dem außerdem liebe ich ja auch „Eau Sauvage“, aber ziemlich oft. Der olfaktorische Trigger ist absolut zuverlässig. Den etwas anderen Duft des Duschgels und der Seife verknüpfe ich übrigens mit einem bemerkenswerten Urlaub an der Côte d’Azur und mit T. S. Eliot, doch das ist ein anderes Zimmer.

Direkt neben der Tür befindet sich eine Sprechanlage, ein flacher Kasten mit mehreren Knöpfen, die man drücken muss, um mit der Zentrale in Kontakt zu kommen.

Leider schrillte oft genug und vor allem spätabends der sogenannte Sammelruf, mit dem jedes Zimmer im Haus gleichzeitig erreicht wurde. Das kurze Knacksen und die laute Stimme kamen immer plötzlich und im falschen Moment, so dass man bis ins Mark erschrak. „Karin bitte in die Pforte, Kariiiiin! Besuch für dich!“ oder „Marianne, Telefon für dich! Es ist dringend!“ Jede von uns hatte mehrmals im Monat Pfortendienst, was ziemlich viel Stress bedeutete. Vor einem stand das große Board mit Namen und Knöpfen, schätzungsweise lebten damals um die 70 Studentinnen im Haus, es war ein internationales Studentinnenheim, und zu meiner Zeit gab es viele indonesische Namen. In meiner Erinnerung studierten alle indonesischen Mädchen Mineralogie. Wenn die ausländischen Studentinnen abends Anrufe von Verwandten oder Freunden von sehr weit weg erhielten, waren die Verbindungen meist schlecht und man konnte vor lauter Knacken die Namen oder die Sprache kaum verstehen. Vor Aufregung drückt man dann den falschen Knopf, rief das falsche Zimmer oder die falsche Person an oder legte den Anruf in die die falsche Etage. „Michiko, ein Anruf aus Japan für dich, deine Eltern, ich lege auf drei!“ Michiko wohnte aber auf zwei und kam kurz darauf völlig aufgelöst hereingestürzt, und ich war schuld an ihrer Aufregung. Die höfliche Michiko sagte nichts, blieb aber sicherheitshalber vor Ort, um den nächsten Versuch persönlich entgegenzunehmen, und ich fühlte mich wie eine Versagerin. Es riefen noch zig andere Leute an, bevor Michikos Eltern endlich wieder durchkamen.

Es gibt auch gute Erinnerungen an die Pfortenabende. Meistens nahm ich nämlich Block und Tuschsachen mit und zeichnete. Malen beruhigt. Merkwürdig verschlungene schwarzweiße Bilder entstanden in der Pforte. Das Schöne war, dass die anderen Studentinnen manchmal hereinkamen („Malst du wieder? Ach, wie toll!“) und mir über die Schulter schauten. Ein angenehmes Gefühl, wie im Zeichensaal in der Schule. Zeichnen kann ich immer, dabei brauche ich nicht zu denken, nur meinen Fingern zu folgen. Heute geht es mir beim Porzellanmalen noch genauso, sogar in Zeiten mit größtem Stress entstehen ganz von selbst spontane Wimmelbilder.

Als ich mich von meinen Eltern verabschiede, zittere ich innerlich. „Wir rufen dich sofort an, wenn wir zu Hause sind“, verspricht meine Mutter. Das wird sie bestimmt tun, sie hält immer, was sie verspricht. Doch meine Vorangst macht das nicht besser. Ich bringe meine Eltern zum Auto, sehe sie wegfahren, winken, schlucke tapfer an meinen Tränen, gehe schnell die Treppe hoch, ohne jemanden anzusehen, schließe die 13 auf, fühle mich einsam und verlassen, hänge das David Hamilton Poster, auf dem zwei Mädchen vor einer verwitterten Mauer stehen und weiße Tauben füttern, und das rothaarige Egon Schiele-Mädchen mit den großen Augen („Sitzende Frau mit hochgezogenem Knie“) übers Bett, versuche zu lesen und warte auf meine unbekannte Mitbewohnerin. Auf dem Bett liegt die rote Decke, die meine Mutter mir extra für das neue Zimmer geschenkt hat. 

Draußen ist es dunkel geworden. Meine erste Nacht in Köln. 

Köln (Tobias Rademacher/unsplash)

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