Rooms and Stories – when thou art gone

Hands (Rémi Walle/unsplash)

Krefeld Hauptbahnhof, September 1973. Sie saßen auf der grauen Bank, ganz nah beieinander, hielten sich an den Händen und schwiegen. At the still point of the turning world. Die Luft um sie herum war voller Geräusche. Gongs und Ansagen aus Lautsprechern. Leise und laute Fahrgastgespräche. Schleifende Güterzüge. Quietschen, Rattern, Bremsen. Bahnsteig zwei, bitte Vorsicht. Der Schnellzug wird voraussichtlich fünfundzwanzig Minuten später eintreffen. Bitte einsteigen, Türen schließen, der Zug fährt sofort ab. Achtung, Bahnsteig drei, Zug fährt durch. Ihre Züge waren noch nicht da, etwas Zeit blieb ihnen. Sie rückten noch enger zusammen, sie legte den Kopf an seine Schulter, fühlte sich unglücklich und verzweifelt. Jetzt war es zu spät, sie konnte nichts mehr ändern. Sie hatte nicht erwartet, dass es so weh tun würde. Die beleibte alte Dame, die sich neben ihnen niedergelassen hatte, rief immer wieder ungeduldig nach einem Gepäckträger. Passagiere hasteten und schlenderten vorbei. Sein Zug hatte Verspätung, ihr Zug kam zu früh. At the still point of the turning world.

Trink Ludwigsbrause, das köstliche Getränk mit Pittgewürz, dachte sie. Trink Ludwigsbrause. Mit Pittgewürz. Pittgewürz. Pitt.

Ihr Zug fuhr zurück nach Kempen, seiner würde ihn zur Fähre bringen, um halb eins war er in Ostende, spätabends dann in London, wo man ihn vom Bahnhof abholte. Sie wussten nicht, wann sie einander wiedersehen würden, und waren betrübt, weil nichts, aber auch gar nichts, so schön und wunderbar gewesen war, wie sie es sich vorgestellt und erhofft hatten. Vor allem der letzte Abend. Fast hätten sie alles ruiniert und einander verloren.

Beim Abschiednehmen wollte sie ihn richtig küssen, doch es ging nicht. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten und hoffte, er würde es nicht merken. Beim letzten Lebewohl standen sie in ihren Zügen hinter den trüben Fenstern und hoben still die Hände. Noch konnten sie sich sehen. Noch. Bald nicht mehr. Plötzlich war ihr, als würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen. Alles hatte sie falsch gemacht. Er hätte nie herkommen dürfen, es war ein Fehler gewesen, doch sie hatte ihn unbedingt wiedersehen wollen und alles riskiert. Und jetzt war es zu spät. Am Morgen hatte er ihr noch ein kleines Geschenk gegeben und ein Gedicht in einem Briefumschlag. „Aber das darfst du erst lesen, wenn ich weg bin.“ Music when soft voices die.

Schon ruckte ihr Zug los und sie sah ihn nicht mehr. Die ganze Zeit auf der Bank hatte sie sich beobachtet gefühlt, genau wie in den Tagen zuvor im Dorf, und tatsächlich, ihr Gefühl hatte sie auch diesmal nicht getrogen. Selbst auf dem Krefelder Bahnhof gab es jemanden, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Ein großes blondes Mädchen aus der Parallelklasse. Sie befand sich nun im selben Abteil und grinste wissend, hatte aber genug Anstand, sie nicht zu stören. Morgen würden es wohl auch die anderen erfahren, doch das war ihr egal. Rose leaves, when the rose is dead.

Bockwürste entstehen aus toten Eidechsen, dachte sie. Aus toten Eidechsen. Toten Eidechsen. Eidechsen. Echsen. Nicht aus Rosen. Ich bin für meine Rose verantwortlich.

Zu Hause angekommen, ging sie gleich auf ihr Zimmer. Nur Chris, den kleinen getigerten Kater, nahm sie mit. Er war der Einzige, der sie ablenken konnte. Und das Buch, das P. ihr geschenkt hatte: „Cider with Rosie“ von Laurie Lee. Vorn hatte er ein Rosengedicht für sie hineingeschrieben. Die Rose blüht, ich bin die fromme Biene. Es war falsch gewesen, ihn hierher kommen zu lassen, so schrecklich falsch! In das Dorf, in dem sie jeder kannte, in dem nur wenige Straßen weiter ihr deutscher Freund wohnte, der leider allgegenwärtig war. Das Dorf, in dem jeder alles sah. Sie hatten keine Chance gehabt. Keinen Moment lang hatte sie sich frei gefühlt, alles troff vor Erinnerungen, überall lauerten Spitzel. Natürlich auch in der Eisdiele, auf die sie sich so gefreut hatte. Dort hatten gleich zwei Klassenkameradinnen hinten in der Ecke gesessen, eifrig tuschelnd, die eine hatte gar mit dem Finger auf sie gezeigt. Alles in ihr verspannte sich. Sie hatte ihren englischen Freund mitten ins Feindesland kommen lassen, wo er arglos und verliebt umhergegangen war, ohne die unzähligen Blicke und Erinnerungen auch nur zu bemerken, die sie so quälten. Hier war kein Zentimeter unbelastet, nicht mal in der Natur. Auch nicht in den Hinsbecker Höhen und an der Niers. Vor allem nicht im Gelände am Schwimmbad. Tausendmal war sie schon dort gewesen. Aber mit jemand anderem.

Als sie am Abend ihren deutschen Freund traf, wurde sie mit Klagen und Vorwürfen überschüttet. „Du liebst ihn wohl immer noch!“ Er war außer sich. „Du musst endlich den Kontakt mit ihm abbrechen!“ Sie war zu müde, um sich zu verteidigen, ihr war nur noch schlecht. Er hatte trotz ihrer Vereinbarung angerufen, als P. da war, hatte sie sogar von der Schule abgeholt und war mit ihr ins Feld gefahren. Ihr Gewissen war so verwirrt, dass sie nicht mehr gewusst hatte, wen sie mit wem betrog. Falls Liebe denn überhaupt Betrug sein konnte. Und es war ja auch nichts passiert.

And so my thoughts when thou art gone. Ich habe den Falschen verraten, dachte sie. Ich habe einen schrecklichen, unverzeihlichen Fehler gemacht. Und jetzt ist er weit fort und entfernt sich mit jeder Minute noch mehr von mir.

Erst in ihrem Zimmer ging es ihr besser. „Ich habe ihn sehr lieb gehabt, als er so still auf meinem Bett saß, die Beine auf dem Tisch, den Block auf den Knien, die Augenlider fast geschlossen, ganz konzentriert“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „So schön sah er aus.“ Er hatte ihr bei den Englischhausaufgaben geholfen, eine Zusammenfassung der Kurzgeschichte „Désiree’s Baby“ für sie geschrieben. With no offspring of their own, Mr. and Mrs. Valmondé  fing es an. Das Wort offspring kannte sie bis dahin noch gar nicht. Sie würde den ganzen Text auswendig lernen und fing gleich damit an.

Spätabends saß sie unten im Wohnzimmer neben dem schwarzen Telefon und wartete auf den Londoner Anruf, war erleichtert, dass ihrem englischen Freund nichts passiert war, stellte sich vor, wie er gemütlich auf dem Sofa saß, die Farbe wusste sie nicht, vielleicht braun oder dunkelblau, und starken Tee mit Milch trank. Danach wurde sie ruhiger. Sie würde ihm schreiben, das war sicher. Und er würde ihr schreiben, das hatte er versprochen, sie freute sich schon auf die Briefe. Hoffentlich waren es viele, viele, viele. Zu Weihnachten oder auch erst im nächsten Jahr würde sie zu ihm nach England fliegen, egal, was alle sagten. Nichts würde sie abhalten. Gar nichts. Und dann, weit weg von ihrem Dorf, würden sie alles richtig machen.

gone (Lou Baier/unsplash)

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Rooms and Stories – Said the Fox

Während der beiden Wochen in Oberammergau wurde ihr Leben unmerklich neu justiert. Der junge Engländer war etwas älter als sie und studierte in Cambridge Philologie und Germanistik. So einen Seelenfreund wie ihn hatte sie noch nie vorher getroffen. Jemand, der auf der Gitarre „Something“ und „Jealous Guy“ für sie spielte und auf dem Plattenspieler „Heart of Gold“ (was hatte Neil Young nur für eine merkwürdig hohe Stimme), der wie sie die Beatles und Simon and Garfunkel liebte. Jemand, der Tagebuch führte und seine Träume aufzeichnete, ohne dadurch auch nur im Geringsten lächerlich zu wirken. Bisher hatte man sie immer für verrückt erklärt, weil sie nachts so ausgiebig träumte und sich morgens sogar noch daran erinnerte. „Du brauchst dringend einen Psychiater“, sagte ihr deutscher Freund. „Das ist nicht normal.“ Er selbst konnte sich an seine Träume nie erinnern, was sie wiederum für nicht normal hielt, aber das sagte sie vorsichtshalber nicht. Jeden Morgen war der junge Engländer DJ und legte „Freßmusik“ für die Jugendhausgäste auf, meist Songs, von denen man garantiert sofort wach wurde, etwa „Whisky in the Jar“ und „The Lion sleeps tonight“ oder „Crocodile Rock“, und sie freute sich schon darauf, ihn nach der langen Nacht endlich wiederzusehen. Meist war er natürlich beschäftigt, doch zwischendurch fanden sie immer wieder Zeit füreinander. Manchmal nahm sie auch an den Exkursionen nicht teil, um bei ihm bleiben zu können. Aus diesem Grund war sie nie in Schloss Linderhof und bestieg auch nie den Kofel, aber das war es wert.

P. hörte ihr nicht nur zu, er sprach auch über seine eigenen Nachtgespinste. Mit ihm konnte sie über C.G. Jung und meaningful coincidences reden, denn die Liebe zur Psychologie hatte sie schon damals. Sie hatte zu Haus bereits angefangen Freud zu lesen, immerhin beschäftigte der sich mit Traumdeutung und hatte ein dickes Buch darüber geschrieben, doch derartige Lektüren waren ein einsames Unterfangen in ihrem konservativen niederrheinischen Dorf. In Oberammergau kaufte sie sich in der Buchhandlung Theodor Hanika „Sprechstunden für die Seele“ von Eric Berne, „Spezialist für Psychiatrie und Psychoanalyse“, und las es während der Heimfahrt fast aus. Als sie etliche Jahre später als Psychiatrie-Übersetzerin an der Uni Köln das Kapitel über Bernes Transaktionsanalyse übersetzte, dachte sie sofort an Oberammergau und musste die ganze Zeit lächeln.

Gleich nach der Heimkehr erstand sie im einzigen Schreibwarenladen des Ortes ein dickes leeres Buch, orangerot, eine andere Farbe hatte der Laden nicht vorrätig, und begann, alles ihr Wichtige aufzuschreiben. Vor allem die Nachtgespinste, denn sie hatten es verdient. Mit wenigen Pausen führte sie danach regelmäßig Tagebuch, später schrieb sie auch direkt ins Handy (Träume sind am klarsten, wenn man gerade aufgewacht ist) oder in den Computer. Ihr englischer Freund war der erste, der sie Bee nannte, und der einzige, der ihr ein Buch über Bienen schenkte. Mit Zeichnungen, denn Bücher ohne Bilder sind keine richtigen Bücher. Sie nannte ihn P. oder Pitt und schenkte ihm Tütchen mit Pit Brause. Im Garten in Oberammergau zeigte er ihr das Bienenkapitel in „Winnie-the-Pooh“. You never can tell with bees. Zuerst verstand sie take statt tell, aber das störte ihn nicht. Als sie fat und thick verwechselte, korrigierte er sie sanft, und danach verwechselte sie es nie wieder. Aber dass sie statt jealous guy zuerst yellow sky verstand, verriet sie ihm lieber nicht.

P. liebte Bücher, las Gedichte und kannte sich aus in der Artusepik, gelegentlich entdeckte sie ihn gar als jungen Prinzen inmitten der Tafelrunde. Er kannte sie alle, Parzival, Herzeloyde, Igraine, Merlin und Morgane, den grünen Ritter, Lancelot und Guinevere, die schöne Isolde, den mutigen Tristan und den gehörnten Marke. Und er kannte König Artus. Höchstpersönlich. Aus nächster Nähe. Und Merlins Grab und die Weißdornhecke im Wald Brocéliande. Von P. hörte sie zum ersten Mal von Minnesang, den Winter- und Sommerliedern von Neidhard von Reuental, über die sie später eine Seminararbeit schreiben sollte, und erfuhr die wahre Bedeutung von muot und frôuwe. Bisher kannte sie nur das Nibelungenlied (in hochdeutscher Übersetzung) und hatte sich beim ersten Lesen heimlich ein winzig kleines Bisschen in den jungen Giselher verliebt. Schade, dass er auf so tragische Weise ums Leben kam. Am schlimmsten fand sie den gemeinen Betrug an der starken Brunhilde. Das war so demütigend, kein Wunder, dass sie den Kerl an den Wandnagel hängte. Siegfried und Gunther waren ihr herzlich egal. Später studierte sie wie P. Mittelhochdeutsch, besuchte im ersten Semester gleich ein Seminar über das „Nibelungenlied“, Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, und wählte als Staatsexamensthema seinen „Tristan“. Dèr werlde und disem lebene enkumt mîn rede niht ebene.

P. war jemand, von dem man ungewöhnliche Begriffe, Wortspiele und Namen lernen konnte, seine Wortfindigkeit und seine erfrischenden Gedankensprünge waren überwältigend – er erfand sogar nicknames für ihre Eltern: Anna Pfirsich und Kurt Sühngut. Er war jemand, der ihr Möglichkeiten zeigte, die wirklich zu ihr passten, was neu und angenehm war, denn bisher erwarteten Eltern und Freund vor allem, dass sie klaglos fremden Wünschen entsprach. Volksschullehrerin sollte sie werden, was sie schon jetzt mit Panik erfüllte. Aber das ging schnell und sie konnte während des Studiums sogar zu Hause wohnen bleiben. Dabei wollte sie viel lieber richtig studieren und ganz schnell ganz weit weg! Hier war jemand, der ihr das zutraute, ihr sogar dazu riet, sie bestärkte in ihrem eigenen Gefühl. Jemand, der abgedreht und einfallsreich war, Doublethink beherrschte und in verspielten Schwüngen und kühnen Hakenschlägen dachte, auch wenn sie seinen Humor und seine Ironie zunächst so gar nicht verstand, weil sie das Leben viel zu ernst nahm. Hier war jemand, der zärtliche Vorsicht oder vielleicht auch vorsichtige Zärtlichkeit in ihr Leben brachte. Das war sie nicht gewöhnt. Jemand, mit dem sie sich Dinge traute, die sie sonst nie gewagt hätte. Rollenspiele waren ihr ein Graus, aber am Gruppenabend in Oberammergau spielte sie gemeinsam mit ihm ein altes Ehepaar, das schon seit Jahrzehnten zusammen war, was ihr erstaunlich leichtfiel und an seiner Seite sogar Spaß machte.

Hier war jemand, der ihr freundlich den Unterschied zwischen sympathy und pity erklärte, bei dem das Wort seltsam einen ganz eigenen, seltsamen Klang bekam und die Farbe der Frösche noch grüner wurde. Jemand, der ihr zaghaftes Englisch förderte, ein Muttermal auf dem linken Schulterblatt hatte, von einem Hauch Cedarwood umgeben war und dessen Haar nach Vanille, Nüssen und Karamell roch, was sie verwundert ihrem Tagebuch anvertraute. Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber es stimmt! Jemand, der bei herzhaftem Gähnen einem jungen Fuchs mit spitzen kleinen Eckzähnen ähnelte und beim Lächeln manchmal zuerst den linken Mundwinkel hochzog. Jemand, der Rehe mochte und wach und munter war, so lange er genug geschlafen hatte, was im Normalfall offenbar sehr lange dauern konnte. Jemand, der wie sie zu lesen vermochte, was der Wind in den Sand schrieb. Sie sprachen über Max Frisch, Theodor Storm und Arthur Schnitzler, drei Schriftsteller, die sie später im Studium intensiv erforschen würde. Sie kannten, mochten und bedauerten Reinhard und Elisabeth, Hero und Leander, Romeo und Julia und Pyramus und Thisbe. Das hätte ihnen eigentlich schon damals zu denken geben müssen.

Neben P. stand sie eines Abends bei der Besteigung der Klammspitze in Waldes Schatten wie an des Lebens Rand. Und frühmorgens in der Brunnenkopfhütte sah sie ihn im Traum lächeln, während der Bergnebel dick und weiß durch das geöffnete Fenster ins Zimmer quoll. Es war so viel schöner, ihn schräg von oben aus der Höhe des Etagenbetts zu betrachten als einfach nur zu schlafen wie alle anderen, doch sie gab Acht, ihn nicht zu intensiv anzuschauen, denn das hätte ihn möglicherweise geweckt. Sie dachte, dass ihre blauen Augenblicke dazu wohl imstande sein könnten.

In Oberammergau fand sie den Kompass, der sie schon bald nach Köln und England führen sollte. Als sie nach fünfzig Jahren unerwartet ihre alten Briefe an ihn liest, denn er hat sie alle aufbewahrt (genau wie sie seine, und es sind viele!), überrascht sie die ferne ruhige, sichere, weiche Mädchenstimme. Auf den Umschlägen sind Zeichnungen von Kupferraupen, Blechratten, Bleivögeln, Goldmücken, Porzellanfischen und Traumkatzen zu sehen, gleich neben tiefsinnigen oder lustigen Sätze wie Les fleurs sont très contradictoires! oder Alle Sterne sind voll Blumen oder Pepsi Cola is best oder Setze mir ein Denkmal, cher, ganz aus Zucker, tief im Meer oder Ma rose, elle est unique au monde, denn sie war nicht nur das Reh, sondern auch die Rose, für die man verantwortlich war und die man vor Zugwind schützen musste. On ne voit bien qu’avec le cœur. Damals war das noch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte. Und P. war der Fuchs, der gezähmt werden wollte, daher zähmte sie ihn. Zähmen, das bedeutet, sich vertraut machen. 

When the hour of departure drew near… “Ah”, said the fox. “I shall cry.” So geschah es. Doch das kam erst später. Da weinten beide. Der Fuchs und das Reh. Und der Frosch und die Rose. Und sogar die Bienen.

Der Abschiedsabend im leeren Aufenthaltsraum muss so geschmerzt haben, dass ihre zuverlässige Erinnerung ihn für alle Zeiten ausgeblendet hat. Nur nächtliches Gewittergrollen hinter Fenstern und seine ausgezogenen Schuhe vor der Tür sind ihr im Gedächtnis geblieben. An die traurige Zugfahrt dagegen erinnerte sie sich genau. Zu Hause stürzte gleich wieder die schwere alte Gegenwart auf sie ein, genau wie befürchtet, und Oberammergau erschien wie ein Traum. Zum Glück gab es Gegenbeweise: den kleinen Holzfuchs, das hölzerne Reh (inzwischen fehlt ihm ein halbes Bein), den winzigen Frosch, ein Tütchen Pit Brause, das Bild von König Ludwigs geschnitztem Himmelbett, in dem sie so gern einmal geschlafen hätte (hatten sie  tatsächlich gemeinsam auf Neuschwanstein in Ludwigs Schlafgemach gestanden?), Fotos, auf denen P. allein und mit ihr zu sehen war. Es gab ihn also wirklich. Oberammergau war nicht versunken. Und die Karte vom Jugendhaus, auf deren Rückseite in seiner unverkennbaren Handschrift mit den großen runden Unterlängen die vertrauten Goethe-Zeilen standen. Ob ihr damals das kühn ersetzte Wort überhaupt auffiel? Möglicherweise überlas sie es aus reiner Lyrikblindheit, weil sie das Gedicht bereits kannte. Oder hielt es gar für einen Flüchtigkeitsfehler. Was es natürlich keineswegs war. Sie hätte ihn besser kennen müssen. Nach einem halben Jahrhundert springt es ihr sofort ins Auge. „Über allen Gipfeln ist Ruh. Über den Wipfeln spürest du kaum einen Bauch.” Nicht mal den Hauch von einem Bauch.

“Did you actually mean to write Bauch?”  “Of course – bringing the great poem down to earth.” Of course. 

Fox (Nathan Anderson/unsplash)

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Rooms and Stories – Auf der Schwelle

Der graublaue Augenblick, den ich so deutlich vorhergespürt hatte, gehörte einem dunkelhaarigen jungen Engländer, der gleich bei meiner Ankunft im Flur des Europäischen Jugendhauses stand und belustigt zusah, wie ich meinen schweren roten Koffer die Eingangsstufen hochwuchtete. „Du hast zu viel mitgebracht“, meinte er, womit er eindeutig richtig lag, vor allem, wenn man an mein unsichtbares Gepäck dachte. Zu Irmis und meiner Enttäuschung gab es bisher nur Deutsche in unserer Gruppe, die im Laufe des Tages noch sehr viel größer und deutscher wurde, als ein ganzer Bus mit jungen Pfälzern aus Frankenthal eintraf, deren Dialekt für mich zunächst unverständlich war. „Babbelanebleed“ und „Gebabbele“ waren die ersten Lautfolgen, die ich eindeutig identifizieren konnte.

Der junge Engländer, mit dem ich im Laufe des Tages noch weitere Augenblicke austauschen sollte, war als „Haushelfer“ und „Programm-Mitarbeiter“ Teil des Betreuerteams, er war Student, stammte aus London und war erst vor wenigen Tagen in Oberammergau eingetroffen. Er sollte bis Ende August bleiben und wir waren seine erste Gruppe. Die Neuankömmlinge wurden auf die verschiedenen Schlafräume des Jugendhotels verteilt, Irmi und ich landeten in einem Vierbettzimmer, wieder in Etagenbetten, und Irmi, der es offenbar nichts ausmachte, unten zu schlafen, überließ mir auch diesmal großzügig den oberen Schlafplatz.

Wir verbrachten den Großteil des Tages mit den ausgelassenen Pfälzern und erforschten den hübschen Ort mit den bunt bemalten Häusern. Dass hier so auffallend viele Männer biblische Bärte trugen, lag sicher daran, dass die meisten bei den Oberammergauer Passionsspielen mitmachten. Die gab es schon seit 1633, lasen wir verwundert, damals hatten die Bewohner während der Pest gelobt, alle zehn Jahre „das Leiden und Sterben Christi“ aufzuführen, falls keine weiteren Bewohner mehr von der Seuche dahingerafft würden. Tatsächlich starb fortan wunderbarerweise niemand mehr an der Pest, woraufhin die Oberammergauer ihr Gelübde einhielten. Ganze fünf Stunden dauert eine Aufführung. Die dreistündige Pause mitgerechnet, muss man sogar acht Stunden einplanen. Zu meiner Erleichterung stand keine Aufführung auf unserem Programm. Die letzte war erst 1970 gewesen.

Nach dem anstrengenden Tag voller Stimmen und Eindrücke und der unbequem durchwachten Zugnacht kam ich mir so unwirklich vor, als wäre ich ohne Skript und Regieanweisung rein zufällig mitten in ein malerisches Filmset geraten. Ich wollte nur noch schlafen, wenn doch bloß meine innere Anspannung nicht gewesen wäre. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ich plötzlich wieder dem jungen Engländer mit den graublauen Augen gegenüberstand und endlich begriff, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte. Auch diesmal befanden wir uns im Flur. Ich war schlagartig wach und entschied, nicht wie geplant mit den anderen Mädchen nach oben zu gehen, sondern bei ihm zu bleiben. Nach und nach verschwanden sämtliche Jugendgäste in ihren Zimmern, bis zum Schluss nur noch wir beide übrig waren.

Gemeinsam gingen wir nach draußen und machten es uns auf den Haustürstufen bequem. Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinandersaßen und in dem später für uns typischen Sprachengemisch aus Deutsch und Englisch über unsere Länder, über Gott und die Welt, Bücher, Gedichte, Filme und Musik redeten, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. In der Erinnerung waren es etliche Stunden, in Wirklichkeit trennten wir uns wohl schon nach zweieinhalb Stunden gegen Mitternacht, und ich musste mich im Dunkeln in mein Bett tasten. Ich war glücklich, aufgeregt, gespannt, verwirrt und besorgt. Etwas überaus Wichtiges war geschehen, in der Rückschau erscheint es mir heute eindeutig und überklar. Wir hatten eine geheimnisvolle Schwelle gefunden, die vor allem den Lauf meines Lebens auf Dauer in andere Bahnen lenken würde, und wir hatten diese Schwelle gleich am ersten Abend gemeinsam und ohne zu zögern überschritten.

Danach ergab sich alles von selbst. Eine Weile noch gingen wir vertraut Hand in Hand weiter, dann trennten sich unsere Pfade. Doch ein feiner spinnwebzarter Faden ist bis heute geblieben, denn wir haben einander in all der Zeit nie ganz aus den Augen verloren.

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Rooms and Stories – Alpen-See-Express

night train (Gruu/pixabay)

Es gibt Momente, Stunden, Tage, Nächte, in denen das Leben unerwartete Wendungen nimmt, die seinen weiteren Lauf in andere, neue Bahnen lenken. Augenblicke, in denen sich Fenster mit Landschaften auftun, von deren Existenz man bis dahin nichts ahnte. Augenblicke, in denen sich fremde Schicksale miteinander verweben. Augenblicke, in denen sich Türen öffnen, vor deren Schwellen man nachdenklich verweilen, an denen man achtlos vorübergehen kann oder über die man beherzt treten muss. Inzwischen weiß ich, dass ich diese Augenblicke und Schwellenzeiten fast immer vorher spüre, als würden sie ihre Schatten in beide Richtungen werfen, ins Vorher und Nachher.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1973 befinde ich mich im Alpen-See-Express, der von Dortmund nach Garmisch-Partenkirchen unterwegs ist. Ich gehe noch zur Schule, werde im nächsten Jahr Abitur machen. Gemeinsam mit meiner Freundin Irmi bin ich auf dem Weg nach Oberammergau. Wir haben eine internationale Jugendreise mit „Fahr mit“ nach Bayern gebucht, stellen es uns schön vor, Gleichaltrige aus anderen Ländern und Kulturkreisen kennenzulernen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee hatte und warum es ausgerechnet Oberammergau wurde. Ich meine, dass wir ursprünglich in den Norden, ans Meer, wollten. Endlich bin ich richtig weit weg von zu Hause und von meinem Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin. Er findet die Idee überhaupt nicht gut und hat alles versucht, sie mir auszureden, aber ich habe mich nicht abbringen lassen. Diese Reise ins Europäische Jugendhaus muss einfach sein.

Eigentlich sollte ich jetzt auf dem ruckeligen Schlafwagenbett liegen, aber das Vierer-Abteil im Wagen 99 ist unangenehm stickig. Fast eine Stunde lang habe ich versucht einzuschlafen, doch Beklommenheit, Herzklopfen und die Geräusche der Schlafenden haben mich gestört, daher habe ich meinen Platz (95, oben) verlassen, was im Dunkeln gar nicht so einfach war.

Jetzt bin ich draußen im Gang, um die Lichter der Nacht, die verlassenen Bahnhöfe und die ländliche Finsternis vorbeifliegen zu sehen. Manchmal klappe ich mir einen Sitz herunter, doch lieber noch stehe ich an den schwarzen Fenstern. Ich bin allein, alle anderen scheinen zu schlafen. In dieser Nacht begegnet mir nur der Schaffner, der kurz nach dem Rechten sieht und mir stumm zunickt. Ich stelle mir vor, ich wäre ein guter Geist, der über die Träumenden wacht. So lange ich hier bin und aufpasse, kann ihnen nichts passieren.

Ein Fenster ist oben einen Spalt breit offen und ich genieße es, wenn der Wind mich trifft und mein Haar zaust. Sicher sitzt ein erfahrener Lokführer vorn im Führerstand, um uns wie ein fürsorglicher Vater sicher an unser Ziel zu bringen. Ich vertraue ihm und fühle mich auf merkwürdige Weise geborgen.

Ich sehe mich in der Scheibe. Jung, schmal, müde, langes dunkles Haar, Mittelscheitel, großäugig, nachtblass. Ich weiß, dass dieser Zug mich in ein neues Lebenskapitel fährt, und verspüre Angst und Vorfreude. Tatsächlich bin ich so aufgeregt, dass ich während der ganzen Nacht kein Auge zutun werde. Ich mag die gleichmäßigen Bahngeräusche, vor allem das rhythmische Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm.

Irgendwann bin ich so müde, dass sich mein Kopf übergroß und wattig anfühlt. Trotzdem kehre ich nicht ins Abteil zurück. Der enge leere Gang bleibt mein Zimmer in dieser langen Nacht.

In Oberammergau gibt es jemanden, dem ich mit jedem Kilometer näherkomme. Ich spüre es nicht nur, ich weiß es.

night train (Vince Gx/pixabay)

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Rooms and Stories – Köln Klettenberg

Turtle (Ana Singh/unsplash)

Früher war die Wohnungssuche äußerst mühselig, besonders für Studenten (dieses Problem ist offenbar geblieben, aber zumindest gibt es heute Immo Scout). In den 1970er und 1980er Jahren gab es weder Mails noch Internet und die meisten von uns hatten nicht mal ein eigenes Telefon, also blieben uns nur öffentliche Telefonzellen, die Vermittlung des ASTA/Studentenwerks (heute natürlich Studierendenwerk) und das schwarze Brett in der Mensa, wo regelmäßig Zimmer und Wohnungen angeboten wurden, sowie die Kölner Tageszeitungen, die mittwochs und samstags seitenweise Mietangebote abdruckten. Um einen der begehrten Besichtigungstermine zu ergattern, musste man sich bereits dienstags- oder freitagsabends zu Dumont in der Breite Straße begeben, um bei Wind und Wetter für die frisch gedruckte Ausgabe Schlange zu stehen, was eine gefühlte Ewigkeit dauerte, aber man lernte dabei gelegentlich auch nette Leute kennen oder traf alte Bekannte. Am besten ging man zu zweit, eine Person besorgte die Zeitung, während die andere mit genügend Münzen in der Tasche eine Telefonzelle in der nahegelegenen Ladenstadt blockierte oder, netter gesagt, „reservierte“.

In meinem Fall war die zweite Person meine damals beste Freundin Karla. Wir waren während unserer gesamten Studienzeit nahezu unzertrennlich, haben uns inzwischen aber seit fast dreißig Jahren aus den Augen verloren. Unsere Zimmersucheinsätze waren häufig, erfolglos und frustrierend. Die meisten Wohnungsanbieter hoben nicht ab oder waren dauerbesetzt, weil sie den Hörer neben den Apparat gelegt hatten oder mit anderen Interessenten redeten. Die wenigen, zu denen man durchdrang, waren verärgert, weil man sie zu dieser Uhrzeit oder überhaupt störte, oder teilten einem unfreundlich mit, dass man zu spät komme oder dass sie keine Studenten als Mieter wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir Karlas Wohnungen auf diese Weise fanden, wohl aber an unseren Frust an den Suchabenden. Meistens endeten wir danach im „Bepi“ und trösteten uns mit Pizza, Lasagne oder Tortellini alla Panna.

Karlas erstes Zimmer war möbliert und lag strategisch äußerst praktisch in Klettenberg. Genau an der Endhaltestelle der Straßenbahn, die dort im großen Bogen dreht und anschließend in die Stadt zurückkehrt. Zu dem mittelgroßen, leider ziemlich dunklen Raum gehörte ein großzügiger gemauerter Balkon, von dem aus man (unsichtbar, beide) Melonenkerne auf den gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter schnipsen oder laut und durchdringend wie eine Katze (nur ich) miauen konnte, woraufhin unten im Garten sämtliche Menschen aufgeregt hin und her liefen und wie wild nach dem vermeintlichen Tier suchten, während wir in unsrem Versteck leise kicherten. Im Haus gegenüber wohnte ein Pärchen, das wir Romeo und Julia nannten, denn genauso verhielten sie sich, gut sichtbar für alle interessierten Zuschauer. Ich glaube, sie legten es darauf an, beobachtet zu werden, denn sie zogen die Vorhänge und Gardinen nie zu. Im Sommer waren sie mitunter auch gut zu hören.

Auf Karlas Balkon trank ich zum ersten Mal Rotwein, war zum ersten Mal beschwipst und fand das Leben schlagartig ungemein erheiternd und sorgenfrei. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dabei sogar eine merkwürdige Vision, in der weiße und blaue Seelen munter im Wind an einer Wäscheleine flatterten, womit Karla mich tagelang aufzog. Da ich die Zahl der Weinflaschen, die ich insgesamt in meinem Leben konsumiert habe, an einer Hand abzählen kann (meine Alkoholunverträglichkeit lässt sich nur bei Gin gelegentlich auf Kompromisse ein), ist die in Karlas Beisein getrunkene Menge lebenslaufmäßig geradezu beachtlich und mir daher gut in Erinnerung. Normalerweise bekomme ich schon von homöopathischen Mengen Hautausschlag, Kopfschmerzen und Herzrasen. Nicht so an jenem Abend auf dem Balkon. Karla hatte gekocht, ich glaube, ein Nudelgericht, und ich weiß noch, wie angenehm entspannt ich mich fühlte. Ich wüßte gern, wie dieser Wunderwein hieß.

Der Raum war spartanisch möbliert und Teil einer Art WG, die von einer sehr netten anderen Studentin und dem gewöhnungsbedürftigen Sohn der Vermieter mitbewohnt wurde, es gab kein Telefon und nur ein gemeinsames Bad im Flur. In Karlas Zimmer gab es zwar fließend Wasser, aber leider keine Kochnische. Karla organisierte sich schon bald zwei Kochplatten und hatte die geniale Idee, dahinter und darüber alles aufzuhängen, was sie ärgerte, suboptimale Scheine von der Uni, kryptische Bescheide von Ämtern und unsensible Briefe von Leuten, die sie nicht mochte. Mit der Zeit war ihre Collage über und über mit Fettflecken bedeckt, was nicht nur interessant anzusehen war, sondern auch der verletzten Seele ungemein guttat. Ich weiß nicht mehr genau, ob Karla schon in dieser Wohnung anfing, Schildkröten zu sammeln, weil der Mann, den sie liebte, mich an eine Schildkröte erinnerte und wir ihn daher Turtle nannten. Auf jeden Fall denke ich beim Anblick von Schildkröten bis heute sofort an sie. Und an ihn.

Karlas Zimmer waren immer voller Musik, in jener ersten Wohnung sangen Wolf Biermann, Hannes Wader, Joni Mitchel und Arlo Guthrie für uns, aber vor allem André Heller und Leonard Cohen. Letzteren hatten wir gemeinsam an einem dunklen kalten Abend in der Cinemathek entdeckt. Es war Karlas Idee gewesen, sich den Film „Bird on a Wire“ anzusehen, auf dem Weg dorthin meinte sie noch entschuldigend: „Der gefällt dir bestimmt nicht!“ Nie hat sie falscher gelegen! Leonard Cohen wurde meine große Liebe und ist bis heute mein favourite Singer Songwriter, nur seine letzten Alben mag nicht, weil ich die grabestiefe, trockene alte Stimme nicht ertrage. Sie deprimiert mich, klingt nach klebrigen Mundwinkeln und macht mir Angst vor Alter und Tod. Die junge, sehnsuchtsvolle Stimme dagegen hat bis heute nichts von ihrem knisternden Wallungsfaktor eingebüßt und mich im Laufe meines Lebens oft getröstet und verstanden und bei mindestens zwei meiner männlichen Freunde zu erschreckend heftigen Eifersuchtsanfällen geführt. Eifersucht auf eine STIMME! Ich habe ihn bisher trotzdem immer und überall bei mir gehabt, lange hing sogar ein Portrait von ihm an meiner Wand. Mit Karla hörte ich vor allem seine frühen Platten „Songs of Leonard Cohen“ und „Songs from a Room“.

Das Bett in der Klettenberger Wohnung stand auf dünnen Wackelbeinen, man hatte ein wenig Sorge, es durch eine unbedachte Bewegung zum Zusammenbruch zu bringen, doch es erwies sich letztendlich als erstaunlich robust. Zum Glück hatte Karla eine extra Matratze, wenn es zu spät, zu unbequem oder zu gefährlich war, um allein mit der Straßenbahn heimzufahren. Also relativ häufig. Ich wohnte zu dieser Zeit noch in dem katholischen Studentinnenheim mit der strenger Hausordnung in der Nähe des Volksgartens, von dem ich bereits geschrieben habe, zuerst im Doppelzimmer, später in einem im Sommer stark überhitzten Einzelzimmer unter dem Dach, wo bei höheren Außentemperaturen die Luft stand und die Kerzen nur so dahinschmolzen. Männliche Besucher waren im Heim ausdrücklich unerwünscht und durften eigentlich nur im Gemeinschaftsraum im Keller getroffen werden. Feste Freunde waren damit in den meisten Fällen so gut wie erledigt und blieben dem Ort freiwillig fern. Mit einer Ausnahme: Es gab eine Studentin, die ein großes Eckzimmer bewohnte und gleich zwei Partner hatte, die voneinander nichts ahnten und sich nach einem genial ausgeklügelten Plan regelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten bei ihr einfanden. Es funktionierte perfekt, und wir haben sie alle heimlich beneidet. Ich habe mich oft gefragt, wie sie es geschafft hat, dass sie nie bei der Heimleitung verpetzt wurde und dass ihr Doppelleben nie aufflog.

Die wenigen Male, die Karla bei mir übernachtet hat, gab es jedenfalls mehrfach ärgerliche „Zwischenfälle“. Einmal wurde die Heimleiterin gerufen, weil ich zwei Tassen aus meinem Küchenfach mit in mein Zimmer genommen hatte. Ich war allein in der Küche, nahm wie immer die geniale Abkürzung durch Sakristei und Kapelle (direkt neben meinem Zimmer) und habe während der ganzen Zeit keine Menschenseele gesehen. Trotzdem muss es eine Spitzelin gegeben haben, ich hegte auch einen gewissen Verdacht, konnte aber nichts beweisen. Die Heimleiterin betrat schon kurz darauf nach höflichem Anklopfen das Zimmer, um sich zu vergewissern, dass auch nichts Anstößiges im Gange war, sah uns harmlos beim Tee sitzen, entschuldigte sich peinlich berührt und verschwand. Nicht auszudenken, wenn Karla ein männliches Wesen gewesen wäre. Nach neun Jahren Klosterschule und drei Jahren katholischem Studentinnenheim war ich übrigens recht lange ziemlich paranoid, und ich schaue mich bis heute immer noch mißtrauisch um, bevor ich etwas Unnettes über andere Leute sage.

Während der Einzelzimmerzeit machte es abends deutlich mehr Spaß, nach Kino- oder Theaterbesuchen gemeinsam mit zu Karla nach Klettenberg zu fahren als allein in das schräge Zimmer zurückzukehren, denn sie konnte im Gegensatz zu mir gut kochen, hatte genug Platz und einen eigenen Plattenspieler. Zudem war ihr Zimmer auch im Sommer angenehm kühl. Es war eine ganz besondere Stimmung, wenn Leonard Cohen in der Dunkelheit von weither ganz allein nur für uns sang. „Suzanne“, „Winter Lady“ und „So long Marianne“ waren damals meine besonderen Favoriten. Das letzte dieser Lieder hat, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, tatsächlich einmal (von der richtigen Person gesungen) eine eigentlich bis dahin intakte Beziehung schlagartig und nachhaltig ruiniert, doch das ist eine längere, ziemlich komplizierte Geschichte. Auch der klagende Wienersound von André Hellers Musik und Poesie beamt mich bis heute zurück in Karlas Zimmer, doch diese Musik höre ich bewußt nur selten, denn sie ist so eng mit Karla verknüpft, dass sie mich traurig macht. Besonders gern hatten wir beide „Schön ist’s ein Narr zu sein“, das ich bis heute auswendig kann. „Die Narren des Königs saßen am Ufer der Nacht, lauschten dem Tamburin des Mondes, das die Stille bewacht. Sie zogen den Schnee mit Netzen ans Land und schmückten ihn mit Dukaten. Und ihre Kappen leuchteten, wie Segel von Piraten.“

Bei Karla sprachen und sangen die Dichter, allen voran Bert Brecht. Besonders oft hörten wir in meiner Erinnerung die „Ballade von der Hanna Cash“, gesungen von Hannes Wader. Einige Zeilen daraus sind mir im Kopf geblieben: „Das war die Hanna Cash mein Kind, die die Gentlemen eingeseift, sie kam mit dem Wind und sie ging mit dem Wind, der durch die Gassen läuft“. Ich höre noch Hannes Waders Stimme und seine Gitarre: „Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt, eine kleine graue Katze, zwischen Hölzer eingeklemmt, zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle“.  Auch der „Barbarasong“ hat ein fernes Echo, diesmal ist es eine Frauenstimme: „Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da musste so viel geschehen, Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.“ Auch die Seeräuber Jenny lässt in meiner musikalischen Erinnerung bis heute die Köpfe rollen.

Karla gab ihr kühles Klettenbergzimmer auf, als wir Köln verließen, um als Assistent Teachers in England zu arbeiten. Dort trennten sich unsere Wege vorübergehend, doch wir blieben telefonisch und brieflich in Kontakt und trafen uns regelmäßig in London oder bei mir in Gravesend. Karla wohnte leider bei einer arg gestörten Gastfamilie, deren männliches Oberhaupt sich selbst für „tall, dark, and handsome“ hielt. Tall und dark war er tatsächlich. Handsome eindeutig nicht. Not at all!

Zurück in Köln waren wir wieder zusammen. Bis eines Tages der Schnee in unsere Seelen fiel und wir einander aus für mich unerklärlichen Gründen gänzlich und wohl für immer verloren.

Turtle (Francesco Ungaro/unsplash)

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