Ohne „Corona“ wäre heute St. Martin und „Kölner Jeckentag“. In meiner Kindheit war das Martinsfest einer meiner Lieblingstage. Schon frühmorgens war ich aufgeregt und konnte es kaum aushalten, bis wir uns gegen fünf endlich „im Dorf“ (Dunkerhofstraße) versammelten und mit unseren bunten Laternen los zogen. Immer mit der Angst, es könnte zu regnen anfangen oder der Wind könnte die Kerzenflamme so umlenken, dass die „Lööt“ aus Papier zu brennen anfing. Wir sangen inbrünstig zum Klang der Blaskapelle unsere plattdeutschen und hochdeutschen Lieder und folgten St. Martin auf seinem mächtigen, schnaubenden Schimmel.
Flankiert von zwei römischen Soldaten ritt er langsam durch die Straßen. Bis zu unserer Schule, wo auf dem weiten Feld das große Martinsfeuer in den Himmel loderte und der frierende Bettler seine Kreise zog. St. Martin schenkte ihm den halben Mantel (warum eigentlich nicht den ganzen?), dann kam das Feuerwerk, und danach liefen wir begeistert in die Schule und bekamen unsere „Bloas“ (Tüte mit Obst und Leckerzeug). Zu Hause gab es „Püfferkes“ und „Mutzemandeln“. Ach, wie lange habe ich keine Püfferkes mehr gegessen! Mit Äpfeln! Und Rosinen! Aber mir fehlt leider das Rezept meiner Mutter.
Das farbensprühende Feuerwerk war so schön, dass ich als kleines Kind nach der Hand meiner Oma griff und später, als Schulkind, nach der Hand meiner Freundin. Noch später, als Teenager, nach der Hand meines Freundes, und dann, als leidenschaftliche Tante, nach der Hand meiner kleinen Nichte. So etwas Wunderbares kann man nur genießen, wenn man die Hand eines Menschen drückt, den man wirklich lieb hat. Ich bin jahrzehntelang an diesem Tag an den Niederrhein gefahren, um dort „richtig“ den Zug zu genießen.
Ähnlich emotional werde ich, wenn ich die Wildgänse oder die Kraniche beobachte, die über unser Haus ziehen (wie gestern!). Dann denke ich an meinen Vater („Kind, komm schnell nach draußen, die Zugvögel sind da!“). Jetzt rufe ich meinen Mann („Jan! Komm schnell runter, die Zugvögel sind da!“) Meistens braucht er zu lange, bis er endlich im Garten ankommt, aber gestern hat er es geschafft. Zum Glück war es nämlich nicht nur ein Zug, es waren gleich drei hintereinander. Ich saß in der Küche, flickte meinen Lieblingspullover, hörte die fernen Rufe und stürzte gemeinsam mit meiner Katze sofort nach draußen. Ich liebe Zugvögel!
Gänse spielen auch an St. Martin eine Rolle, aber keine schöne. Jedenfalls nicht für die Vögel. Für Fans von Gänsekeulen mit Rotkraut und Klößen schon. Warum haben die dummen Tiere ihn auch durch ihr Geschrei verraten, als er sich bei ihnen im Stall versteckte, weil man ihn zum Bischof machen wollte! Eigentlich hätte man sie dafür entsprechend belohnen müssen – und nicht aufessen! Als Kind verstand ich diese Logik nicht. Aber wahrscheinlich hat die Martinsgans ganz andere Wurzeln und mit dem Heiligen kaum was zu tun: Am 11.11. wurden nämlich früher die Steuern und Lehnsabgaben fällig, und die wurden oft in Form von Naturalien „gezahlt“. Also auch mit Gänsen.
Ähnlich schwer tat ich mich bei einem anderen Heiligen, dessen Fest erst wenige Tage zurückliegt: St. Hubertus, der ein erklärter Gegner der Jagd wurde, nachdem ihm ein weißer Hirsch mit einem leuchtenden Kreuz in den Geweihstangen begegnete (Jägermeister!). Daraufhin änderte er sein Leben und wurde erst zum friedlichen Einsiedler und später (wie St. Martin!) widerstrebend zum Bischof. Warum wurde ausgerechnet dieser friedfertige Mann und erste Jagdgegner zum Schutzpatron der Jäger (und der Metzger und Büchsenmacher)? Eigentlich hätte man ihn doch zum Schutzpatron der Waldtiere machen müssen? Ihm zu Ehren fand am 3. November jedenfalls zuerst eine Messe (mit feierlichem Hörnerklang) und dann eine Treibjagd statt, und am Ende lagen die armen Tiere reihenweise tot auf dem Boden. Mein Vater brachte an diesem Tag stets bedauernswerte leblose Wesen mit nach Hause, meist geflügelt oder mit langen weichen Ohren. Ich weigerte mich, sie zu essen. Bis heute rühre ich kein Wild an. Niemals. Gänsebraten habe ich übrigens auch noch nie gegessen.
Doch zurück zu St. Martin. Im benachbarten Kempen, einer wahren Martinshochburg und für seine Lichterumzüge zu Recht berühmt, war alles noch prächtiger. Da zogen (und ziehen!) etwa 2 000 Kinder sogar an mehreren Tagen durch das alte Städtchen mit den schmalen Gassen. Die Besuche dort waren überwältigend. Noch viel mehr Musik, eine schier endlose Prozession von Kindern mit leuchtenden „Fackeln“ (so nennt man am Niederrhein die Laternen). Inzwischen sind allerdings die meisten Fackeln auch in Kempen in Plastik „eingepackt“ und haben eine ungefährliche Beleuchtung und keine echten Kerzen wie in meiner Kindheit. Und zum Schluss gibt es ein Feuerwerk, das direkt aus der Burg in den Himmel steigt und an den Seiten wie flüssige Lava herabströmt. Ich habe eine CD mit unseren Martinsliedern (kann man im Internet beim St-Martin-Verein Kempen erstehen). Ich muss nur aufpassen, dass mir beim Hören nicht die Tränen kommen.
Vielleicht gibt es ja sogar eine Verknüpfung von St. Martin und Halloween, denn früher wurden im Herbst auf dem Land auch Laternen aus ausgehöhlten Rüben umhergetragen. Und am Ende der Erntesaison wurde ein Feuer auf den Feldern angezündet, zum Dank für die Ernte und als Abschied vom Jahr. Solche Herbstfeuer gibt es auch in Ländern, die mit St. Martin nichts am Hut haben, etwa in England, wo am 5. November im ganzen Land „Bonfires“ angezündet werden und unter lautem Geknalle der „Guy“ verbrannt wird. („A penny for the guy, Miss!“ höre ich meine kleinen Schüler durch die Jahrzehnte rufen.) Das Fest erinnert angeblich an Guy Fawkes, aber die Wurzeln liegen sicher tiefer.
Am Niederrhein sind die Zugvögel im Herbst und Winter tatsächlich ein Naturschauspiel, denn in „meiner“ Gegend überwintern ungefähr 170 000 Wildvögel, vor allem an den Krickenbecker Seeen, und wenn die eintreffen, ist das schon sehenswert. Mein Vater ließ mich früher oft die Namen der Vogelarten aufsagen: Nilgans, Blässgans (von November bis Februar am Niederrhein), Graugans, Kanadagans, Kurzschnabelgans, Ringelgans, Saatgans, Weißwangengans, Brandgans (knallroter Schnabel, leicht zu erkennen).
Am Niederrhein brüten sogar Weißstörche, und einige bleiben auch im Winter dort, weil sie auch dann noch genug zu fressen haben. Im Kreis Wesel finden sich im Winter rund 25 000 arktische Gänse ein. Ich war tief beeindruckt, wie nahe wir an die Tiere heran kamen. Wenn man klein ist, kann eine flügelschlagende, zischende oder schreiende Gans ganz schön eindrucksvoll sein. Wir besuchten die Wasservögel jeden Sonntag nach der Messe. Es war ein schönes Ritual, neben meinem Vater am Ufer zu stehen und immer wieder nach seiner großen, warmen Hand zu greifen. Blöd war bei den Gänsen nur, dass ich ewig brauchte, bis ich ihren Namen richtig schreiben konnte. Ich schrieb nach Gehör und verstand nicht, wieso ein Wort mit z gesprochen, aber mit s geschrieben wurde. Noch schlimmer war es nur noch bei Artzt.
Kein Wunder, dass ich jedes Jahr im November sentimental werde. Auch dieses Jahr, obwohl St. Martin gestrichen ist. Fantasievolle und kinderfreundliche Menschen haben sich einige Alternativen ausgedacht: Lichterfenster, Martinsfenster, St. Martin mit Laterne zu Hause im Wohnzimmer oder draußen im Garten. Mal sehen, ob es funktioniert. Ich versuche es jetzt einfach mal mit diesem Beitrag als „virtuelles“ Fenster. Schade, dass es so wenige schöne Fotos von den Laternenzügen gibt, ich versuche jedes Jahr wieder, welche zu machen, aber meine Ausbeute fällt immer mager aus, entweder sind die Lichtverhältnisse grottenschlecht oder die Laternen „verhüllt“. Und weil hier die Kinder nicht „richtig“ laufen. Nicht so wie am Niederrhein.
Wir wohnen neben einer Schule, so dass ich in unmittelbarer Nähe des Martinsfeuers bin, ich höre es im Haus draußen prasseln und krachen, und der Rauch weht meistens genau in unseren Garten. Im vorigen Jahr war das Feuer eine Katastrophe, denn der Hausmeister hatte feuchtes Heu zwischen das Holz gepackt. Der Gestank hing bis zum nächsten Morgen im Flur, aber darüber habe ich im letzten November schon geschrieben. In diesem Jahr gibt es nicht mal ein Feuer, obwohl das Holz schon seit einiger Zeit bereit liegt.
Auch die berühmte Fünfte Jahreszeit wird diesmal nicht gebührend eingeläutet, denn Karneval ist ebenfalls abgesagt. Kein Maskenball, keine Jecken auf den Straßen und in den Bahnen. Stattdessen Alkoholverbot, auch draußen, Feiern untersagt, bei Verstößen wird konsequent eingeschritten. So ruhig wie heute war es hier am 11. 11. noch nie. Für Touristikbranche, Kneipen und Kostümgeschäften eine Katastrophe. Stattdessen gibt es eine Demonstration gegen die Corona-Schutzbestimmungen (seufz) und einen Zeppelin über der Innenstadt mit der Aufschrift „Bliev zohuss“ (gute Idee!). Auf der anderen Seite steht „Bleibt gesund“. Wie heute in Düsseldorf der Hoppeditz erwacht, kann man sich im Internet ansehen. Aber zu Düsseldorf haben wir Kölner ja ein eher gespanntes Verhältnis. Wir haben den Ähzebär, aber der fällt nächstes Jahr auch aus. Ich habe mich lange gefragt, warum ausgerechnet der Elfte im Elften der Auftakt der Narrensaison ist und glaube jetzt, die Antwort zu kennen. Genau wie beim echten Karneval beginnt nämlich direkt nach diesem Tag die Fastenzeit (die vor Weihnachten natürlich), und da muss man sich einfach noch ein letztes Mal aufbäumen und so richtig über die Stränge schlagen und „die Sau rauslassen“.
In Großbritannien begeht man übrigens heute den Poppy Day oder Remembrance Day und gedenkt der Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Das habe ich nach meinem Leben in England an diesem Tag auch noch im Hinterkopf. Ich besitze sogar eine kleine Mohnblume, wie man sie sich dort an diesem Tag ansteckt.
So viele Gedanken und Gefühle an einem einzigen Tag. Übrigens sind viele der Fotos zu diesem Beitrag von einem Fotografen aus Kempen, den ich heute bei pixabay entdeckt habe.