Gestern las ich im „Guardian“, dass die junge niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld (immerhin Gewinnerin des Man Booker Prize) die Poetin Amanda Gorman nicht mehr ins Niederländische übersetzt. Rijneveld ist von ihrem Vertrag bei Meulenhoff zurückgetreten. Nicht weil die Übersetzung nicht gut wäre, sondern weil die Farbe nicht stimmt. Für schwarze Dichter kommen momentan offenbar nur noch schwarze Übersetzer in Frage. Bei Schauspielern und Synchronsprechern (bitte im ganzen Text an den passenden Stellen Gender*, Binnen-I, Gender_ mitdenken) kennt man das ja schon. Der Farbzwang gilt inzwischen gar für die Sprecher von Comic Figuren, wobei mein Liebling Donald Duck bisher noch kein Problem hat. Aber der ist ja auch weiß. Anders als Alladins Flaschengeist. Der ist blau. Und hat eine Menge Probleme.
Kann man Hautfarben tatsächlich lesen und hören oder ist das jetzt eine neue Art von Rassismus?
Treiben wir es mal kurz auf die Spitze. Was mache ich, wenn im zu übersetzenden Roman Persons of Color vorkommen? Das Problem hatte ich bei John Balls Romanen, etwa „In der Hitze der Nacht“. Muss man die schwarzen Textstellen von farblich passenden Übersetzern übertragen lassen? Hätte ich dem berühmten Virgil Tibbs meine Stimme gar nicht leihen dürfen? Noch dazu als Frau? Noch grundsätzlicher: Darf ein weibliches Wesen (jetzt mal ohne Farbproblem) überhaupt noch die Werke eines männlichen Wesens übersetzen (und umgekehrt)? Zudem gibt es ja bekanntlich immer mehr Geschlechter. Brauchen die alle genau die richtige übersetzerische Entsprechung?
Darf oder soll Marieke Lucas Rijneveld das Buch auch nicht übersetzen, weil sie/er sich als „nichtbinär“ versteht? (Das musste ich auch erst googeln. Jetzt weiß ich zwar, was es bedeutet, aber nicht, wie ich damit grammatikalisch umgehen soll.) Wie Amanda Gorman sich versteht, habe ich nicht herausgefunden. Wohl nicht als „nichtbinär“, sonst wäre das ja kein Thema.
Es wird immer schlimmer. Schon jetzt bekommt man als Schriftsteller langsam Angst, seiner Fantasie freien Lauf lassen. Möglichst keine Romanfiguren mehr erfinden, die nicht wie man selbst sind. Möglichst die eigene Perspektive verwenden. Darf man überhaupt noch als Frau aus der Perspektive eines Mannes schreiben? Als Erwachsene aus der Kinderperspektive? Oder gar aus der eines japanischen Jungen? Darf man eine schwarze Romanfigur erfinden, wenn man selbst weiß ist? Ist das nicht bereits „kulturelle Aneignung“? Kreisen wir bald nur noch trist und öde um uns selbst (natürlich unter genauer Abbildung der Gesellschaft, die uns umgibt, also mit allen nur denkbaren Ethnien und sexuellen Identitäten, um nur ja niemanden auszulassen oder vor den Kopf zu stoßen)? Werden Fantasie und Sprache immer mehr zensiert? Bekommen Journalisten und Schriftsteller immer dickere Maulkörbe?
Vor einigen Jahren hatte ich eine Lesung (nur für Frauen) in einem Frauenbuchladen, in dem nur Bücher von Frauen verkauft wurden. Die meisten Anwesenden lasen ausschließlich Bücher von Frauen, wie sich bei der anschließenden Diskussion herausstellte. Ich dachte an die Bronte-Schwestern, die sich Männernamen zulegen mussten, damit sie überhaupt eine Chance hatten. Auch J.K. Rowling hat nicht von ungefähr das Pseudonym Robert Galbraith. Es ist noch nicht lange her, da durften Frauen nicht mal Zeitung lesen. Zu viel Lektüre macht unfruchtbar, steht im alten Medizinbuch meiner Mutter. Das fand ich schon als Kind zum Lachen.
„I had happily devoted myself to translating Amanda’s work, seeking it as the greatest task to keep her strength, tone and style“, schreibt Marieke Lucas Rijneveld, die/der mit Gormans befreundet ist und ebenfalls schon früh berühmt war. Die beiden haben also (außer der Hautfarbe) einiges gemeinsam. Die amerikanische Dichterin hat sich ihren translator wohlgemerkt selbst ausgesucht, doch leider passt sie/er einigen farblich nicht ins Konzept.
WER entscheidet das? WER bestimmt, was erlaubt oder erwünscht oder politically correct ist? Der Schriftsteller offenbar nicht, auch nicht der Verlag. Im niederländischen Fall wurde die Debatte von der schwarzen Journalistin und Aktivistin Janice Deul losgetreten. Sie begründet ihre Kritik damit, dass Rijneveld „white“ und „nonbinary“ sei und „no experience in this field“ habe (damit meint sie offenbar den dramatischen Spoken Word Stil). Nur gut, dass sehr viele Menschen auf Twitter diesen Standpunkt ganz und gar nicht teilen.
Translation has no skin colour.
Übersetzer waren schon immer eine besondere Spezies. Anders als Schriftsteller stehen sie selten im Focus. Aber sie sind ebenso wichtig, denn ohne sie gäbe es keine Weltliteratur. Übersetzer reißen Grenzen ein, überwinden Mauern, öffnen Türen, Herzen und Köpfe.
Wie steht es in Amanda Gormans Gedicht: „To compose a country commited to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Hat Janice Deul diese Stelle überlesen? Vielleicht sollte sie selbst versuchen, das Gedicht zu übersetzen? Sie würde schnell merken, dass man durch die „richtige“ Hautfarbe und Geschlechtsidentität nicht automatisch ein guter Übersetzer oder Lyriker ist.
Gerade höre ich eine andere Stimme in meinem Kopf: „I have a dream that one day my four little children will live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character. I have a dream today.“ Ist dieser Traum schon ausgeträumt?
Literaturübersetzer sind Fährleute, die seit Jahrtausenden kundig und gewandt die weiten, ruhigen und gefährlichen Sprachmeere dieser Welt befahren (einige haben dafür mit dem Leben bezahlt, etwa die Übersetzer von Salman Rushdie), überqueren ruhige und reißende Textflüsse, verbinden freundliche und feindliche Ufer, bauen kühne und kunstvolle Brücken, bringen neues Verständnis und frische Klarheit. Übersetzer vermitteln zwischen Gegensätzen und überwinden Zeit und Raum. Sie bewegen sich frei und demütig in fremden Köpfen und Kulturen, sind unsichtbare Gestaltenwandler. Sie leihen Schriftstellern ihre Stimme, damit sie überall auf der Welt gehört und verstanden werden können.
Nun ist Marieke Lucas Rijneveld gar kein translator, sondern ein writer (wie angenehm neutral doch englische Substantive sind). Möglicherweise wäre Rijneveld gerade deshalb genau richtig gewesen für dieses Buch. Um Lyrik übersetzen zu können, muss man nämlich vor allem hervorragend schreiben können, und wenn man mit der Autorin befreundet ist, kann man sie im Zweifelsfall immer gleich fragen. Ideal für Übersetzer! Gedichte sicher wohlklingend ans andere Ufer zu bringen, ist übrigens äußerst schwer – wie mißglückt sind fast alle deutschen Gedichte von T.S. Eliot. Lyrik muss man „nachempfinden“, „nachfühlen“, „nachspüren. Das kann man am besten, wenn man selbst schreibt. Wie wunderbar lesen sich die Übersetzungen von Paul Celan oder von Erich Fried (er hat sich sogar an den wortgewaltigen Dylan Thomas gewagt). Doch offenbar braucht man heute zum Übersetzen nicht nur Leidenschaft, Wissen, Können und Sprachgefühl, sondern auch noch die passende Hautfarbe und Geschlechtsidentität.
The Hill we Climb. Der Weg ist weit, der Aufstieg beschwerlich. Man fragt sich, ob man den Gipfel mit derartigen Abgründen und Hindernissen überhaupt erreichen kann.