Gedanken zum Tod von Sidney Poitier
Still und leblos, wie gelähmt, lag die Stadt Wells morgens um zehn vor drei unter dem drückenden Nachthimmel. Die meisten der elftausend Besucher wälzten sich ruhelos in ihren Betten, und die wenigen, die gar keinen Schlaf fanden, verfluchten die unerträgliche Schwüle, die durch keinen Windhauch gelindert wurde. Die Augusthitze von North und South Carolina hing dumpf und schwer in der Luft.
Als ich 1997 (oder war es 1996?) das Angebot bekam, John Balls berühmten Roman „In der Hitze der Nacht“ neu zu übersetzen, war ich richtig aufgeregt. Es gab bereits eine deutsche Übertragung, doch die war vergriffen. Damals gab es weder Amazon noch Ebay, und ich fand später nur mit großer Mühe in einem Krimi-Antiquariat noch ein arg ramponiertes Exemplar. Beim Vergleich stellte ich fest, dass es an vielen Stellen unvollständig übersetzt war, es fehlten gelegentlich sogar ganze Abschnitte. Natürlich kannte ich die berühmte Verfilmung mit Sidney Poitier, die 1967 mehrere Auszeichnungen erhalten hatte, unter anderem den Oscar als bester Film, doch von John Ball, der für dieses Buch den Edgar Award bekam, hatte ich bisher noch nichts gelesen. Später habe ich noch einen weiteren Virgil Tibbs-Roman übersetzt, „Das Jadezimmer“, das mich in völlig neue Welten führte, denn ich ging zur Recherche mehrfach ins Ostasiatische Museum und sprach dort mit sehr netten und hilfsbereiten Spezialisten, um mehr über Jade zu erfahren. Damals hatten Übersetzer noch kein Internet, keine Suchmaschinen, keine Übersetzungsprogramme (wie das hervorragende DeepL) und keine Online-Wörterbücher.
Übersetzen war mühsam, besonders was Recherchieren und das Finden von Zitaten anging, daher war ich ein regelmäßiger Gast in den Bibliotheken vom Amerika-Haus und British Council. Beide gibt es hier nicht mehr, doch die Bücher des British Council, das 1959 in der Hahnenstraße seine Pforten öffnete, wurden 2001 immerhin von der Universitätsbibliothek übernommen. Das Amerika-Haus lag gleich um die Ecke in der Apostelnstraße. Es existierte von 1955 bis 2007. Ich werde immer etwas wehmütig, wenn ich mit der Bahn an den Gebäuden vorbeifahre. Wie viele Filme und Vorträge habe ich dort besucht! Wie viele ausrangierte Bücher und Zeitschriften mit nach Hause genommen! Und wie eindrucksvoll waren all die Regale mit den unzähligen Nachschlagewerken! Selbst einzelne Zeilen aus Liedern oder Gedichten konnte man dort mit genügend Geduld und Detektivarbeit finden. Für mich als Übersetzerin war es äußerst befriedigend, wenn ich wieder eins der vielen Texträtsel und Wortspiele geknackt hatte. Besonders wenn es um die Romane von Charlotte MacLeod ging. Zitate waren ihre Leidenschaft, denn sie hatte lange als Bibliothekarin gearbeitet und war äußerst belesen. Ihren Fans ist es todsicher nie aufgefallen, aber ICH wusste, wie schwierig die Suche und wie schön die Auflösung gewesen waren!
Eigentlich hatte ich erwartet, dass mich Virgil Tibbs, den ich mir beim Übersetzen genauso vorstellte wie den attraktiven Sidney Poitier, faszinieren würde, doch zu meiner Überraschung merkte ich, wie ich mich immer mehr in eine Nebenfigur verliebte. Den Streifenpolizisten Sam Wood, der nachts durch die schwülheißen Straßen fährt und über die schlafende Stadt wacht. In all den Jahren als Übersetzerin ist mir so etwas sonst nie passiert. Richtig erklären kann ich es bis heute nicht, aber sobald Sam im Text auftauchte, bekam ich Herzklopfen und hatte das Gefühl, als stünde er leibhaftig vor mir. Dabei fand ich ihn zunächst nicht sonderlich sympathisch, aber da denkt er auch noch in Südstaatenklischees. Sein Leben beginnt sich zu verändern, als er einen erschreckenden Fund macht.
Sam gab Gas und ließ den Wagen vorwärtsschießen. Im Lichtstrahl seiner vier Scheinwerfer wurde der Gegenstand immer größer, bis Sam das Auto mitten auf der Straße anhielt, nur wenige Meter vor dem leblosen Männerkörper, der ausgestreckt auf der Fahrbahn lag.
Es ist der Dirigent Enrico Mantoli, der für die anstehenden Musikfestspiele der Stadt verantwortlich ist, doch das weiß Sam zu dem Zeitpunkt noch nicht. Und ich wusste damals noch nicht, dass Musik für den Schriftsteller John Ball so eine große Rolle spielte. Er hatte in seinem Leben viele Berufe ausgeübt, unter anderem war er auch Musikkritiker und PR-Manager. In seinen Büchern wimmelt es nur so vor musikalischen Anspielungen.
Sam streckte die Hand aus und legte sie vorsichtig auf den Hinterkopf des Mannes, als könne die Berührung den anderen trösten.
Ob meine Gefühle mit diesem kleinen Satz angefangen haben? Der Mann auf der Straße ist natürlich tot. Ermordet. Bill Gillespie, der Polizeichef von Wells, wird im Film von Rod Steiger gespielt, der für die Rolle einen Oscar erhielt. Im Buch besitzt er (zunächst) ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und ist so groß, dass er verächtlich auf die meisten Menschen herabschauen kann. (Ich stellte ihn mir vor wie einen Bekannten meiner Mutter, der ebenfalls riesig war und den ich nicht ausstehen konnte.) Für Sam, den er zum Bahnhof schickt, um dort nach Tatverdächtigen zu suchen, hat er wenig übrig, und für den Schwarzen, der in dem Bereich des Bahnhofs aufgegriffen wird, der nur für „Farbige“ bestimmt ist, spürt er (zunächst) nur Verachtung. Ich erinnere mich an intensive Gespräche mit dem Lektor. Wie soll man die vielen rassistischen Begriffe übersetzen? Neger? Nigger? Auch Sam nennt den Fremden „nigger boy“ und hält ihn aufgrund seiner Hautfarbe automatisch für den Mörder. Sympathisch ist mir dieser Polizist in dem Kapitel eigentlich immer noch nicht, auch wenn ich nachvollziehen kann, dass er seinen Chef nicht mag. Ich mochte seinen Chef auch nicht. Gillespies schwarzes Gegenüber bleibt bewundernswert cool und ungerührt.
Nach seinem Namen gefragt, antwortet der Fremde mit ruhiger und gelassener Stimme „Ich heiße Tibbs. Virgil Tibbs.“
Fast wie „Mein Name ist Bond. James Bond.“ Als Übersetzerin sorgte ich dafür, dass die Beamten ihn duzten, im Englischen gibt es diese Feinheit natürlich nicht. Dann kommt die Überraschung, zumindest beim ersten Lesen oder Filmsehen. Nachdem er seine Brieftasche inspiziert hat, fragt Gillespie grimmig:
„Und womit verdienst du in Pasadena, Kalifornien, so viel Geld?“ Der Gefangene zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde mit seiner Antwort. „Ich bin Polizeibeamter“, sagte er.
Im Film haben der besonnene Virgil Tibbs und sein genialer Darsteller Sidney Poitier die Herzen des Publikums da natürlich schon längst gewonnen. Auch der Buch-Virgil schafft das mühelos. Aber wann ist mir bloß diese komische Sache mit Sam Wood passiert? Dazu muss ich wohl noch weiterlesen.
Sam konnte Schwarze aus Prinzip nicht leiden, zumindest nicht, wenn er persönlich mit ihnen zu tun hatte. Es verwirrte ihn daher sekundenlang, als er plötzlich feststellte, dass er für den schlanken Mann neben sich ein Gefühl der Bewunderung verspürte. Sam war ein Sportler und genoss es daher, wenn jemand, gleichgültig wer es auch war, dem neuen Polizeichef von Wells erfolgreich die Stirn bot.
Sam ist auch sonst ziemlich beeindruckt von Tibbs, vor allem als er mitbekommt, wie gründlich und sorgfältig – ganz im Gegensatz zu seinem schlampigen Vorgesetzten – er die Leiche untersucht. Im Polizeirevier gibt es noch getrennte Toiletten für „Weiße“ und „Farbige“. Sam ist emphatisch, gibt zu bedenken, dass dort nicht einmal Handtücher sind. Und er denkt auch daran, Virgil ein Frühstück anzubieten. Und kurz darauf beginnt der kalifornische Cop, seine bewundernswerte messerscharfe Beobachtungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, bis zu dem Satz, der in die Film- und Romangeschichte eingehen sollte. Darauf angesprochen, dass Virgil ein ziemlich ausgefallener Name für einen „black boy“ ist, und wie man ihn denn zu Hause, da wo er herkommt, nennt, antwortet der Fremde: „Dort nennt man mich Mr. Tibbs.“ Ein verbaler Schlag ins Gesicht.
Sam ist derweil bei den Endicotts, Freunden des Toten, um sie über die Ermordung von Maestro Mantoli zu informieren. Er tut dies äußerst behutsam und feinfühlig. Ist es vielleicht dort passiert? Duena, die schöne Tochter des Toten, schläft noch. Sam verliebt sich später in sie, und sie sich in ihn. Genau wie ich. Ich war sogar ein winziges Bisschen eifersüchtig auf sie. John Ball mochte Sam sicher auch, sonst hätte er ihn nicht so einfühlsam beschrieben. Sam Wood hat sich bereits auf Seite 42 ziemlich verändert und findet inzwischen zu seiner eigenen Überraschung den kalifornischen Kollegen richtig sympathisch. Gillespie dagegen ist so wütend auf Virgil, der ihn seiner Meinung nach durch seine Ermittlungen bloßgestellt hat, dass er ihn erneut zu demütigen versucht.
„Wer zum Teufel hat dir gesagt, du solltest dein großes schwarzes Maul aufreißen?“
Er wirft ihn sogar hochkant hinaus, doch sein Triumph ist nicht von Dauer. Mr. Endicott bittet nämlich ausdrücklich darum, dass Mr. Tibbs in dem Fall weiter ermittelt, und Gillespie muss sich fügen.
Beim nochmaligen Lesen fällt mir auf, dass an keiner Stelle im Buch die Sichtweise von Tibbs gewählt wird. Tibbs wird nur distanziert und meist verzerrt oder kritisch durch die Augen der anderen betrachtet, deren Gedanken fast immer durch Vorurteile und Rassismus geprägt sind. Ihre Sichtweise entlarvt sie. Virgil Tibbs, dessen scharfsinnige und analytische Arbeit an Sherlock Holmes erinnert, kommt derweil der Lösung immer näher. Doch vorher nimmt Sams Schicksal noch einige dramatische Wendungen, an denen er fast zerbricht. Sein unfähiger Chef lässt ihn einsperren, weil er urplötzlich Sam für den Mörder hält, Duena besucht ihn unerwartet im Gefängnis und küsst ihn sogar, einen Moment lang schöpft er Hoffnung, doch dann verdächtigt man ihn fälschlich der Vergewaltigung einer Minderjährigen, und zum Schluss ist er tatsächlich ein anderer geworden. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er mit Duena zusammen bleiben kann.
Wenn ich das Buch heute lese, spüre ich meine alten Gefühle nicht mehr, aber ich bin jetzt auch deutlich älter als damals und sitze nicht mehr einsam und allein Tag und Nacht übersetzend am Schreibtisch und sehne mich nach einer starken Schulter. Die Filmfigur war übrigens total enttäuschend. Kein Wunder. Mein literarischer Sam Wood sah immerhin haargenau aus wie Paul Newman.
Sidney Poitier, berühmt für seine Filme „Flucht in Ketten“, „Lilien auf dem Felde“ und „In der Hitze der Nacht“, starb am 6. Januar 2022 mit 94 Jahren in Los Angeles. Auch er lebte in Kalifornien, genau wie Virgil Tibbs. Ich hatte ganz vergessen, dass er nach mehreren Ehen seit 1976 mit der kanadischen Schauspielerin Joanna Shimkus verheiratet war, die ich im Film „Die Abenteurer“ so eindrucksvoll fand. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, Anika Poitier.