Am 10. April starb in Los Angeles mit 84 Jahren die bekannte Bestsellerautorin Anne Perry, nur eine Woche nach der Veröffentlichung ihres neuesten Romans. Insgesamt hat sie mehr als 100 Bücher geschrieben. Geboren wurde sie 1938 als Juliet Marian Hulme in Blackheath in England, sie war erst 2017 aus Schottland in die USA gezogen, um sich für die Verfilmung ihrer Bücher einzusetzen.
Anne Perrys fiktive Welt ist mir durchaus vertraut, denn ich habe zwei ihrer Krimis übersetzt, Band 5 und 7 aus der zweiunddreißigbändigen Thomas Pitt-Reihe. Zusätzlich zu den Thomas Pitt-Romanen schrieb sie noch sechs Bände, in denen Pitts Sohn Daniel die Hauptperson ist. Ich bin ja ein bekennender Fan von Charles Dickens und habe daher eine Schwäche für seine Zeit, angeblich hatte ich sogar ein Woche lang die Ehre, eins seiner ehemaligen Fahrräder zu besitzen, was natürlich eine reine Erfindung des schlitzäugigen Verkäufers war („Believe me, love, this bicycle used to belong to Charles Dickens!“). Das Rad war leider so antik, dass seine Benutzung lebensgefährlich war, daher habe ich es nur wenige Male riskiert.
Als ich erfuhr, dass ich die Anne Perry-Bücher übersetzen sollte, las ich natürlich (!) zur Einstimmung auf die Sprache der Autorin und die viktorianische Atmosphäre alle Vorgänger-Bände, um mich in den nebligen, von Gaslaternen schwach beleuchteten Straßen, den schmutzigen Armenvierteln, den noblen Stadthäusern und den düsteren Pferdekutschen möglichst gut zurechtzufinden. Perrys Romane spielen fast alle im viktorianischen England zur Zeit von Jack the Ripper, und waren nicht nur stilistisch eine Herausforderung. Als ich die erste Szene in „Mord in Devil’s Acre“ übersetzte, die in einem scheußlichen Schlachthof spielt, wurde mir sogar ein bisschen übel, weil ich mir die Szene nicht aus dem Kopf und die Gerüche mir nicht mehr aus der Nase gingen. Als ÜbersetzerIn liest man natürlich ein Buch „anders“ und sehr viel intensiver (und öfter!) als jeder Leser. Irgendwie fehlt mir aber ohnehin beim Lesen die nötige Distanz, allzu leicht geht dabei meine Fantasie mit mir durch. Ich kann mich noch an ein skandinavisches Kochbuch erinnern, das ich lektoriert habe und in dessen Fischrezeptteil mir permanent schlecht war. Ich mag keinen Fisch, nicht mal in einem Kochbuch. Ich fand Anne Perrys Plots sehr gut, aber ihren Stil manchmal etwas holprig. Ganz im Gegensatz zu Charlotte MacLeods geschliffener, witziger Sprache, die mir sehr viel mehr lag, doch bei ihr waren wiederum die Plots oft ziemlich bizarr.
Viele Anne Perry-Fans wissen vielleicht nicht, dass auch das Leben der Autorin bereits früh von einem Mord überschattet wurde. Die kleine Juliet wurde während des Krieges zu Verwandten nach Nordengland umgesiedelt, weil ihre Mutter nach der Geburt des Bruders unter Depressionen litt, und erkrankte zudem mit sechs Jahren an Tuberkulose, woraufhin sie zu einer Pflegefamilie auf die Bahamas geschickt wurde, da man annahm, ein wärmeres Klima würde ihrer Gesundheit guttun. Später lebte sie dann mit ihren Eltern in Neuseeland, wo ihr Vater eine Stelle als Rektor der University of Canterbury annahm, allerdings wohnte sie nicht zu Hause, sondern in einem Internat. Dort traf sie die gleichaltrige Pauline Parker, die ebenfalls kränklich war und ihre beste Freundin wurde. Es sei eine „obsessive“ Beziehung gewesen, sagte Perry später.
Besonders glücklich war die Ehe ihrer Eltern nicht. Als Juliet 15 Jahre alt war, ertappte der Vater seine Gattin, die auch noch ausgerechnet als Eheberaterin tätig war, im Bett mit einem Klienten namens Walter Perry und reichte die Scheidung ein. Das Sorgerecht wurde (natürlich) dem Vater zugesprochen, doch der hatte offenbar nicht vor, Juliet gemeinsam mit ihrem Bruder mit zurück nach England zu nehmen, sondern wollte sie lieber zu Verwandten in Südafrika schicken. Die beiden Mädchen, die fürchteten, getrennt zu werden, gerieten immer mehr in Panik und redeten sich ein, dass sie nur gemeinsam nach Südafrika gehen könnten, wenn Paulines Mutter tot wäre. Daher beschlossen sie, Honorah Parker zu ermorden, und erschlugen sie während eines Spaziergangs im Victoria Park in Christchurch mit einem Ziegelstein. Mindestens zwanzig Mal schlugen sie zu. Die Tat erregte großes Aufsehen und wurde einer der spektakulärsten Kriminalfälle Neuseelands, zumal man damals einen lesbischen Hintergrund vermutete, den aber beide Mädchen weit von sich wiesen. Aufgrund ihres Alters entgingen sie der Todesstrafe, kamen aber für fünf Jahre ins Gefängnis. Mit der Auflage, einander nie wiederzusehen, wurden sie aus der Haft entlassen und nahmen eine neue Identität an. Juliet kehrte gemeinsam mit ihrer Mutter und deren späteren Mann Walter Perry nach England zurück und nannte sich fortan Anne Perry. Ihre Vergangenheit hielt sie geheim.
Sie entdeckte ihre Liebe für historische Kriminalromane und begann zu schreiben, ihr erstes Buch „The Cater Street Hangman“, ein Thomas Pitt-Roman, erschien 1979, nachdem es sechs Jahre lang keinen Verlag gefunden hatte. Perrys zweiter Ermittler ist übrigens der Privatdetektiv William Monk, ein ehemaliger Polizist, der sein Gedächtnis verloren hat und gemeinsam mit seiner Frau Hester Latterly, einer ehemaligen Krankenschwester, Kriminalfälle aufklärt. Die Monk-Reihe ist zeitlich etwa dreißig Jahre vor der Pitt-Serie angelegt.
Police Inspector Thomas Pitt ermittelt ebenfalls im Duo, nämlich gemeinsam mit seiner Frau Charlotte (geborene Ellison), die als Tochter einer reichen, vornehmen Familie Zugang zu den Gesellschaftsschichten hat, die ihrem Mann normalerweise verschlossen bleiben würden. Oft genug hilft sie ihm (auch gegen seinen Willen) bei den Ermittlungen, indem sie Bekannte und Freunde ihrer Eltern oder auch ihren Vater oder andere Verwandte gekonnt „aushorcht“. Um die beiden Kinder kümmert sich derweil das Dienstmädchen Gracie. Der erste Band „Der Würger von der Cater Street“ wurde 1998 verfilmt.
Berühmt wurde Anne Perrys Geschichte durch den Film „Heavenly Creatures“ von Peter Jackson, in dem die junge Kate Winslet die Rolle der Juliet spielte. Anne Perry erfuhr nach eigenen Aussagen erst am Tag vor der Erstaufführung von dem Film und hatte große Angst, ihre Freunde würden sich danach von ihr abwenden, was aber nicht der Fall war. Der Film machte sie nur noch bekannter und kurbelte den ohnehin erfolgreichen Buchverkauf weiter an.
Es gibt auch einen deutschen Dokumentarfilm („Anne Perry – Interiors“) über die Schriftstellerin und ihren Umgang mit dem Mord und mit ihrer Schuld, aber man kann ihn im Moment leider hier weder streamen noch kaufen. Schade, ich hätte ihn mir gern angesehen und Anne Perry noch etwas besser kennen gelernt.