Rooms and Stories – Sidcup

Sie fühlt sich unsicher im neuen Land, bereits im Zug und im Taxi und erst recht im Linksverkehr in P.‘s rotem Morris Marina, den sie „Meerauto“ tauft. Immer noch kommt sie sich vor wie in einem Farbfilm ohne Skript, ihr Magen ist so aufgeregt, dass sie kaum etwas essen kann, was sich leider während des gesamten Aufenthalts nicht ändern wird.

Sein Haus hat eine blaue Tür und lustige Gardinen. Die Mutter, zart und schmal, von ihm zärtlich Mummikins genannt, eilt gleich nach draußen, um sie freundlich zu begrüßen und verwandelt ihren Namen gleich in Biatta. Später, in ihrem englischen Leben, begegnen ihr noch weitere Aussprachevarianten wie Bihty (Beaty) und, die etwas unangenehme Londoner Version, Bai-A-Ö, inklusive Glottal Stop. Mutter und Schwester sind sehr nett, im Hintergrund bewegt sich auch noch die Großmutter, die aber bis auf ihren lustigen Vornamen in den Tiefen der Erinnerung verloren gehen wird. Dass P.‘s Vater erst wenige Wochen zuvor verstorben ist, tut ihr unendlich leid. Sie hätte ihn gern kennengelernt und wagt sich sie Trauer, die seine Familie empfinden muss, kaum vorzustellen. Alle bemühen sich, sie davon nichts spüren zu lassen, doch sie registriert es trotzdem. Die Familie ist nicht mehr vollständig. Der Vater fehlt. Der leere Platz schmerzt.

Im Zimmer ihres Freundes setzt sie sich auf den Boden und sieht sich lange und genau um, was ihn amüsiert, aber sie findet Räume einfach wichtig. Sie verraten viel über ihre Bewohner und verhalten sich ihr gegenüber gelegentlich durchaus persönlich, heißen sie willkommen oder versuchen sie abzuschrecken oder schnell wieder loszuwerden. Genau wie Häuser. Manche wirken auf sie fast bedrohlich oder so kalt, dass sie fröstelt. Dieses Haus ist freundlich zu ihr. Beim Hereinkommen riecht es nach Lavendel, bald auch nach Toast und Tee. Zu Hause in Deutschland gibt es nie Toast, dafür Graubrot, Weißbrot, Rosinenbrot, Schwarzbrot und Brötchen. Hier gibt es für den Toast sogar eigene Toastständer! Sie hat allen Eau de Cologne mitgebracht, etwas typisch Deutsches, fand sie beim Kaufen, aber das ist ihr plötzlich peinlich.

Sein Zimmer ist hübsch grün gestrichen, mit vielen Büchern, orangefarbenen Vorhängen und einer orangefarbenen Bettdecke. Hier wird sie also schlafen. Einige Gegenstände im Raum kennt sie schon, den blauen Frosch, den gelben Fisch auf dem Kamin, das winzige Enzianfläschchen, das Foto, das P. von ihr im Garten ihres Elternhauses gemacht hat und das zu den besten gehört, die je einer von ihr machen wird. Es scheint fast so, als habe sie ihren Freund dabei sekundenlang in ihre Seele blicken lassen. Er wird noch ein weiteres Seelenbild aufnehmen, doch das weiß sie natürlich noch nicht. Aus einem ihr selbst unerklärlichen Grund hat sie ihm ein kleines Keramik-Rhinozeros mitgebracht, was ihr inzwischen ebenfalls peinlich ist, zum Glück kommentiert er es nicht und stellt es nur ruhig zu den anderen Sachen. Seine Mutter hat frische Rosen für sie auf den Schreibtisch gestellt. Ob sie vom kleinen Prinzen und der Rose weiß? Sicher ist es nur ein Zufall.

Auf dem Bücherregal über seinem Bett entdeckt sie ein Bild von Burg Eltz, das ihr gefällt. Diese Burg muss sie unbedingt besuchen. Am liebsten natürlich mit P., der immer noch nach Cedarwood duftet, auch seine Haare riechen noch vertraut nach Karamell und Nüssen. Sie lässt ihn raten, hinter welchem Burgfenster sie am liebsten schlafen würde, er rät sofort richtig. So gut kennt er sie. Das Türmchen erinnert sie an das Märchen von Rapunzel. Sie liebt Türme. Ein merkwürdiges, irgendwie unheimliches Foto gibt es noch hier im Zimmer, es zieht ihren Blick an wie ein Magnet, offenbar stammt es aus alten Zeiten, viele schwarzweiße fremde Menschen sind darauf zu sehen. Auf der Rückseite steht 1938, es wurde in einem Ballroom in Cambridge aufgenommen. Das Besondere daran ist das zerbrochene Glas im Rahmen. Das scharfzackige Loch hat im Laufe der Zeit die Form eines Herzens angenommen, und man muss aufpassen, dass man sich daran nicht verletzt. Den anderen Familienmitgliedern gefällt die Glaswunde offenbar nicht. Sie überlegt, ob das Glas schon so kaputt war, als er das Bild kaufte. Die Menschen auf dem Bild wirken sorgenfrei und entspannt. Was mag das Glas so zersplittert haben?

Clanger – in die Jahre gekommen

Auf dem Kamin thront eine Art gestrickter Ameisenbär, vielleicht auch eine Kreuzung aus Schwein und Maus, mit einem Schild, auf dem „Chief Clanger of Cambridge“ steht. Was genau ein Clanger ist, wird sie erst Jahrzehnte später herausfinden, als sie ihr Tagebuch wieder liest und nachfragt. P. schickt ihr einen Link, und sie hört und sieht tatsächlich die Clangers in Action. Es sind seltsame Fantasiegestalten, die mit anderen merkwürdigen Wesen, etwa einem Metallhuhn, auf einem blauen Planeten hausen und nicht sprechen, sondern nur melodische Pfeiftöne von sich geben. Das Sprechen in den Kinderfilmen übernimmt ein Erzähler mit wohltönender Stimme. Damals, bei der ersten Begegnung in P.‘s Zimmer, registriert sie vor allem und fragt nicht nach. Es gibt auch so schon genug Dinge, die sie nicht kennt und die sie erfragen muss.

Über dem Bett hängen zwei Fotos, eins zeigt seinen Freund D., der sie ständig mißbilligend anzustarren scheint, was sie stark irritiert, das andere zeigt ihn selbst. Oder vielmehr seinen Kopf. Unten im Garten aufgenommen, schwarzweiß und irgendwie scheinen sich die Pflanzen darauf zu bewegen. Offenbar stand, hockte oder saß er hinter einem Ginsterbusch, so dass es aussieht, als schwebe sein abgetrennter Kopf in der Luft. Beheaded, beheaded, survived. Auch sein Gesichtsausdruck ist unheimlich. Er schaut schelmisch zur Seite, erinnert sie an den Puck aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, die dunklen Haare nach hinten gekämmt, mocking lips. Und ein bisschen sieht er auch aus wie die Büsten bei Madame Tussaud, denkt sie. Sie kennt die starren Wachsfiguren aus dem Museum in Amsterdam. Doch hier im Zimmer sieht ihr Freund zum Glück normal und lebendig aus, so dass sie die schlimmen Gedanken abschütteln kann. Auf der Schreibtischlampe klebt ein Schweinchen, dessen Geschichte er ihr nicht erzählen mag, aber es gibt bestimmt eine Geschichte, da ist sie ganz sicher. An der Tür hängt eine große schwarze Spinne. Doch sie mag Spinnen und findet sie lustig.

So entspannt wie auf dem Sofa seines Elternhauses hat sie ihn noch nie gesehen, in der Hand eine riesige Teetasse, eigentlich ist es ein hoher Becher mit Henkel, der „mug“ heißt, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Er schaut sie plötzlich so verliebt an, als gäbe es nur sie beide auf der Welt. Dabei ist er sich eigentlich gar nicht so sicher, ob er wirklich noch so verliebt in sie ist nach der monatelangen Entfernung. Das sagt er einige Tage später auch zu einer Bekannten, die ihn anruft und nachfragt. „No“, sagt er und schaut sie dabei an, „but it’s still nice.“ Sie hört die Antwort, deutet seinen Blick und schon kennt sie die Frage. Vielleicht will er es auch nur nicht zugeben, denkt sie. Hoffentlich ist das so.

Fremd und vertraut zugleich, nah und doch fern, und so wird es bleiben. So auf dem Sofa liebt sie ihn sehr. Wenn er gähnt, sieht er immer noch so spitzzahnig und müde aus wie ein verschlafenes Füchschen. Sein Tee ist heiß, daher schlürft er ihn, und Mummikins sagt: „Oh, Peter! Don’t make such a noise!“ Überhaupt der Tee! Dass viele Engländer so dünn sind (englische Hunde dagegen eher rund, vermerkt sie im Tagebuch) liegt vermutlich an den Giftstoffen im Tee. Denn die Hunde trinken ja keinen. „Ungelogen, der extreme englische Teekonsum haut jeden Ausländer um. Eigentlich mag ich ja gern Tee, aber dieses dunkle Gebräu ist selbst für einen Elefanten zu stark. Ein Engländer schluckt davon pro Tag etwa fünf Liter. Das Zeug ist so heftig, dass man es nur mit Milch vertragen kann.“ Die Milch kommt als erstes in die Tasse, lernt sie, so mischt es sich besser, und so kann man auch besser dosieren. Und so ist es auch nicht zu heiß. An die Teegebräuche gewöhnt sie sich erst in ihrem englischen Leben, als sie aufhört, ihn mit Zucker zu trinken. Die Umgewöhnung dauert nicht lange, danach ist sie dauerhaft teesüchtig und rührt niemals mehr Zitronentee oder andere abartige Mischungen an. Tee wird wie englische Biscuits (Digestives!) zum festen Bestandteil ihres Lebens. „Have a nice cup of tea, dear.“ Das tröstet sogar in den schlimmsten Krisen und bei den schlimmsten Schmerzen von Leib und Seele. Zu jeder Jahreszeit. Auch „Rose’s Lemon and Lime“ Jelly wird sie ewig lieben nach diesem ersten Stay. Richtige englische Marmelade ist in Deutschland nur schwer zu bekommen, vor allem „Lemon and Lime“, man muss sie daher von Freunden und Verwandten importieren lassen.

An diesem ersten Abend geht sie mit ihrem englischen Freund in einen kleinen Wald in der Nähe. „Englische Bäume ähneln den deutschen“, spottet sie später in ihrem Tagebuch. „Wir fanden einen Pfad (foot path), streiften durch hohes Gras und stiegen über ein merkwürdiges Gatter (wooden stile)“. Ihre Körper sind immer noch auffällig distanziert, Hände und Lippen finden kaum zueinander, was sowohl an der langen Abwesenheit als auch an ihrem deutschen Freund liegt, den sie irgendwie mitgebracht hat und der sie unablässig mißbilligend beobachtet. Genau wie D. auf dem Foto. Auf Schritt und Tritt.

In der ersten Nacht, P. bleibt bis Mitternacht bei ihr, es ist die Nachtigall und nicht die Lerche, findet sie keinen Schlaf, weil die Zimmerwände anfangen zu schwanken, alles ist in Bewegung, der Boden wird zur Straße und zum ratternden Gleisbett, das Bett zum steigenden und fallenden Flugzeug. Ihre Ohren rauschen und knacken, ihr Körper steigt wieder hoch in den Himmel. Sie weiß nichts von ihrer „Hochsensibilität“, die bewirkt, dass alle Reize und Eindrücke intensiver verarbeitet werden, auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum, und ungewöhnlich lange und intensiv nachhallen. Nach Fährfahrten hat sie später manchmal tagelang das Gefühl, dass die Erde bebt und die Wände sich hin und her bewegen. Weil die anderen mit dieser merkwürdigen Variante ihrer Propriozeption so gar nichts anfangen können („Was du immer hast!“), fürchtet sie mal wieder, „nicht normal“ zu sein, und hält sicherheitshalber den Mund. Doch es ist nur die Hochsensibilität. Wie schade, dass Elaine Aron diese Besonderheit erst in den 1990er Jahren erforscht und benannt hat. Sie hätte diese Erklärung dringend früher gebraucht.

Mitten in der Nacht versucht sie schließlich, den schwankenden Wänden zu entkommen, indem sie aufsteht und sich ans Fenster stellt. Sie schaut hinunter auf den schlafenden Marina, in dessen Windschutzscheibe sich beruhigend und blaß der Mond spiegelt. „Der englische Mond ähnelt dem deutschen. Kein großer Unterschied.“ vermerkt sie im Tagebuch. Der amerikanische sieht völlig anders aus, wie sie von ihrem Vater weiß und später mit eigenen Augen sehen wird.

Die Türen im Haus lassen sich nicht abschließen, was sie etwas verunsichert. Sie steht jedes Mal Heidenängste aus, jemand könnte unverhofft ins Bad kommen. Die Haustüre hat als einzige einen Schlüssel, dafür aber keine Klingel, sondern einen Türklopfer. Sie hat tatsächlich noch nie im Leben einen Türklopfer gesehen. Und auch noch nie so komische eckige Stecker und Steckdosen. Die Wände im Gäste-WC sind lilafarben, an einer Seite hängt ein lustiges buntes Poster, auf dem Mäuse mit Hilfe eines Igels und eines Frosches die Sommerernte einbringen. Auf dem Boden neben der Toilette steht eine Sprühdose mit der Aufschrift „Air Mist“, was ihr deutsches Gehirn täglich aufs Neue zu Heiterkeitsausbrüchen verleitet. Es gibt auch „Body Mist“, wie sie bald bei „Boots the Chemists“ herausfindet. In Riesenmengen. Genau wie „Air Mist“. Und im Bad gibt es ein Schild, das man draußen an die Tür hängen kann und auf dem „engaged“ steht, was doch eigentlich verlobt heißt, auch das findet sie lustig. P. dagegen verstimmt ihre Feststellung, weil er dabei offenbar eher an ihren deutschen Freund denkt, dabei hat sie den diesmal gar nicht gemeint. Sie vermisst die vertrauten deutschen Klinken, hier gibt es offenbar nur Drehgriffe.

Im Morgengrauen schläft sie schließlich doch noch ein, ist aber schon wieder um halb sieben wieder wach. Und sehr müde. Zweieinhalb lange Stunden später klopft P. an die Tür und stellt erstaunt fest, dass sie schon auf ist. Jetzt wird sie London „richtig“ sehen, darauf freut sie sich. Wäre sie doch nur nicht so aufgeregt. Und wäre doch nur nicht alles so fremd. Auch ihr englischer Freund. Einfach alles. Warum ist sie nicht schon zu Weihnachten hergekommen? Vielleicht wäre dann jetzt alles leichter. Aber das hätten ihre Eltern ihr nie verziehen. Aber vielleicht wäre es im Winter auch nur noch fremder gewesen. Weihnachten in England. Sicher ganz anders und ungewohnt und dazu die vorwurfsvolle Familie in Deutschland.

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