Fremde Ängste

(Aaron Burden/unsplash)

Als im Februar der Krieg in der Ukraine begann, strömten mit einem Schlag viele alte Ängste in mein Leben zurück. Darunter auch solche, die ursprünglich meinem Vater gehört hatten, der im zweiten Weltkrieg traumatisiert wurde und seinen grausamen Erinnerungen nie zu entrinnen vermochte. In seinen letzten Lebenswochen litt er an Halluzinationen und hielt das Krankenhaus, in dem er nach einem Sturz behandelt wurde, für ein Partisanenlager, in dem man ihn fesselte, folterte und hinrichten wollte. Er starb verzweifelt kämpfend, von der eigenen Tochter verraten, die ihn nicht befreite und ihm seine Waffe nicht brachte. Ein rasender alter Mann. Ein panischer junger Soldat. Umzingelt von Feinden. Mitten im Krieg. Allein und verlassen. Vor meinen Augen. Die Szenen in der Intensivstation haben mich so erschüttert, dass ich danach selbst eine Traumatherapie machen musste, um die unerträglichen Bilder bewältigen zu können. Es tat gut, professionelle Hilfe zu finden, nicht mehr allein zu sein mit den Erinnerungen. Damals glaubte ich noch, der Krieg meines Vaters, der auch mein Leben geprägt hatte und mich am Ende gar mit in die Tiefe zu reißen drohte, wäre vorbei. Dachte, ich wäre nach all der Zeit endlich in Sicherheit.

Mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine brach alles wieder auf. Ich war wie versteinert, Alpträume und Flashbacks kehrten zurück. Es gibt so unendlich viele Trigger. Ortsnamen, Wörter, Geräusche. Bilder von Panzern, Flugzeugen, Kriegsgefangenen, jungen Soldaten, Leichen auf Straßen, rauchenden Trümmern. Manchmal sind es Wörter. Russe. Partisanen. Schützengraben. Vergewaltigung. Folter. Massengrab. Die Bilder in den Nachrichten kenne ich. So sahen die Bilder im Kopf meines Vaters aus. Ganz zum Schluss sprangen sie in meinen Kopf über und nisteten sich für immer ein.

Über den Tagen hängt wieder der alte bedrohliche Schatten. Als Kind hat er mir Panikanfälle gemacht. Ich habe versucht, ihn zu bannen, habe mich schon mit den „vererbten Ängsten“ befaßt, als mein Vater noch lebte, habe darüber in meinen Büchern geschrieben und auch den Artikel „Im Schatten fremder Ängste“ für die Deutsche Angst-Hilfe.

Katharina Altemeier, selbst hochsensible Angstspezialistin und Buchautorin, fand und las den Artikel, nahm Kontakt zu mir auf und fragte, ob ich mir vorstellen könne, im Rahmen ihres Podcasts „Hallo Angst“ über die unheimlichen fremden Ängste zu reden.

Ich hatte etliche Bedenken und Sorgen. Ein echtes Interview, bei dem man sich gegenüber sitzt, konnte ich mir vorstellen. Aber ein Zoom-Interview? Schaffe ich das überhaupt? Also schon rein „technisch“? Wo ich doch Online-Konferenzen so hasse! Da sieht man doch die ganze Zeit sein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm! Und dann muss ich das lange Gespräch auch noch gleichzeitig mit dem Handy aufzeichnen und anschließend die Riesendatei verschicken! Was, wenn alles schief geht? Wenn die Aufnahme nicht klappt? So was kann man doch nicht wiederholen! Katharina beruhigte mich. Das schaffst du! Ich helfe dir! Aber kann ich überhaupt über dieses aufwühlende Thema sprechen, ohne dass mir die Worte wegbleiben? Ich kenne ja die Fragen gar nicht, die sie mir stellen wird, denn es soll ja ein spontanes, authentisches Gespräch werden. Kann ich ihr vertrauen? Katharina hat all meine Zweifel ernst genommen und mich auf ihre feinfühlige und emphatische Art so gut aufgefangen, dass ich mich schließlich auf das gemeinsame Abenteuer eingelassen habe. Vielleicht hätte ich das zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr gewagt oder geschafft, denn das Jahr nahm danach für mich noch einige weitere schlimme Wendungen, die mich völlig verstummen ließen. Aber das wußte ich damals zum Glück noch nicht.

Zur Vorbereitung hörte ich alle Folgen ihres Podcasts „Hallo Angst“, besonders faszinierend fand ich Katharinas eigene Angsterfahrungen. Wie schade, dass sie so weit weg wohnt und wir uns nicht „richtig“ treffen konnten. Es wurde ein intensives, sehr persönliches Gespräch. Den Beitrag (#16) finden Sie hier auf Katharinas Seite, man kann ihn aber auch über Spotify hören.

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Just Cee – Halloween and Pumpkins

Halloween bei Cee und Uwe

Halloween war schon immer mein Lieblingsfest, aber das hat hier in Deutschland nie jemand verstanden. Bis auf Cee, sie hat mir die schönsten Halloween-Feste meines Lebens beschert! An Halloween verwandele ich mich jedes Jahr in eine Mischung aus Hexe und aufgeregtem kleinem Kind und würde mich am liebsten in die sechziger Jahre in die USA beamen, als noch nicht alles so kommerziell und bluttriefend war. Ich mag es archaisch und magisch. Cee hat mir von einem echten Spukhaus erzählt, zu dem sie als Kind nur mit starkem Herzklopfen gehen und Sweets sammeln konnte. „That was REALLY scary!“ Eigentlich hatten wir geplant, darüber ein Bilderbuch zu machen. Zu spät.

Illustration für „Marigard“ von Caroline Riedel

So ist auch mein Marigard-Roman, den Cee illustriert hat, ein Halloweenbuch, denn der Vater von Marigard ist Amerikaner und natürlich feiern sie „richtig“. Die Handlung beginnt mit Halloween und endet ein Jahr später am gleichen Tag. Die Familie Baker liebt es, sich zu verkleiden und denkt sich jedes Jahr die tollsten Kostüme aus.

Ich konnte das Geisterfest bisher nur wenige Male „richtig“ feiern, immer in Cees Haus, denn sie wusste genau, wie man Garten und Haus stilecht spooky und halloweeny macht. Es stimmte alles, der dämmrige Garten, die flackernden Kerzen, die haarige Riesenspinne im Busch, die leise Geistermusik, vor allem aber die weißhaarige Hexe und ihr geheimnisvoller Mann, der seinen Gästen mal mit schwarzem Netzumhang als eine Art Oktober-Neptun oder mit langen Hörnern, die unheimliche Schatten an die Wand warfen, wie ein Herbstteufel das Gartentörchen öffnete. Selbst unsere Enkel, die man normalerweise kaum beeindrucken kann, haben sich da gegruselt. Ich mich auch.

the wicked Witch of the West

Die Spinne mit den extrem langen, biegsamen, haarigen Beinen, die immer irgendwo anders baumelte, hat Cee mir voriges Jahr in einer riesigen Plastiktüte zusammen mit einer braunen Fledermaus, die jenseits von Halloween gar nicht sonderlich realistisch aussieht, den langen Teufelshörnern, schwarzen Spitzenhandschuhen (ohne Finger) und einem gigantischen schwarzen Spinnennetz vorbeigebracht. Ich fand es schon damals irgendwie traurig, es fühlte sich an wie ein schlechtes Omen, als sei Halloween in Riedels Garten für alle Zeiten vorbei. Leider hat mich mein Gefühl nicht getrogen.

Geistermädchen

Eines Nachmittags stand sie mit der Tasche vor unserer Tür. „Are you sure, you don’t want to keept them, Cee?“ „I have been tidying up. Had the feeling I should toss the ganze alte Krempel out of my life.” Ich wusste nicht, wohin mit der großen Tüte, und verstaute sie daher vorübergehend erst mal in der Waschküche. Leider hat das Kellerhochwasser im vorigen Sommer dann einen Teil der Sachen erwischt, aber Spinne und Fledermaus konnte ich zum Glück retten. Sie baumeln jetzt ganzjährig hier im Haus. Sehr zum Schrecken aller, die ahnungslos in die Nähe der Kellertür kommen. Die Spinne ist echt gewöhnungsbedürftig.

Cees Riesenspinne

Stilechtes Trick or Treat veranstalteten wir nur, wenn alle fünf (also auch die englischen) Enkel an Halloween bei uns versammelt waren. Sicher war es für Uwe und Cee ziemlich viel Arbeit, „But I really enjoy it! It’s such fun!“ Und unsere Enkel genossen es! „Oma, gehen wir dieses Jahr wieder zu DER HEXE?“ Ideal war natürlich auch, dass die American Witch „in dem Haus mit dem Turm“ einen unverkennbar amerikanischen Akzent hatte und jederzeit mühelos in ihre Muttersprache überwechseln konnte. Unsere englischen Enkel fanden das völlig normal. (Ähnlich ging es ihnen mit Nikolaus und Hans Muff alias Knecht Ruprecht, aber das ist wieder eine andere Geschichte, die einen eigenen Eintrag verdient.)

Wicked Witch of the West

Vor einigen Nächten war Caroline wieder in meinen Träumen. Ich glaube, mein Mann und ich befanden uns in Newcastle bei unseren englischen Enkeln, die offenbar einige Jahre jünger waren als in Wirklichkeit, gerade im richtigen Halloweenalter wie vor der Pandemie, die uns brutal zwei Jahre aus dem Familienleben gerissen hat.

Jetzt sind die Kinder zu groß für die magische Nacht. Die Oma allerdings nicht, ihr werden die Feste schrecklich fehlen. Und sie wird jedes Jahr ihre bittersüßen Erinnerungen haben.

Trick or Treat

Jedenfalls spielten wir in meinem Traum einträchtig mit Honka dem Krokodil. Plötzlich ging die Tür auf, mein Mann trat ins Zimmer und reichte mir lächelnd den Telefonhörer: „Für dich! Und du wirst dich sehr freuen!“ Erwartungsvoll nahm ich den Hörer und hätte ihn gleich fast fallen lassen, als ich die vertraute Stimme hörte. „Hi Bee! It’s me! Caroline!“ Die Stimme klang kräftig, fröhlich und absolut realistisch. Ich war froh, dass ich schon saß. „Oh my god, Cee! Are you still alive?“ Rief sie aus dem Krankenhaus an? Vielleicht war ja alles nur ein Irrtum gewesen und man hatte sie im letzten Moment retten können? „I’m so relieved! Uwe told me you were dead!” “That’s what they all think!” sagte Cees Stimme belustigt. “But I’m still around and very much alive as you can hear!” Ich hätte weinen können vor Freude. An dieser Stelle brach der Traum leider ab, doch er hat mich den ganzen Tag getröstet. Natürlich war es nur ein Traum, aber dazu muss man wissen, dass Telefone und Handys in meinen Träumen so gut wie NIE funktionieren. Ich kann überhaupt keinen anrufen, obwohl ich es immer wieder verzweifelt versuche, und werde selbst auch nur extrem selten auf diese Weise kontaktiert. In meinem ganzen Leben haben mich nur zwei Personen im Traum angerufen. Die eine ist meine Mutter, die zeitlebens leidenschaftlich gern (nie unter einer Stunde) telefonierte. Das war direkt nach ihrem Tod und nach dem Tod meines Vaters. Sie erinnert mich dann an Termine („Morgen hat Ingrid Geburtstag, vergiss das nicht) oder richtet mir etwas von meinem Vater aus, der genau wie ich Telefonieren gehasst hat. („Es geht ihm gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“), die andere Person war Caroline. Irgendwie macht mir der Traum Hoffnung. Vielleicht gibt es ja immer noch eine Verbindung zwischen uns? Wir haben beide in Bildern gedacht, vielleicht….?

Beware, beware!

Halloween bei Caroline und Uwe war jedes Mal mein Highlight des Jahres, und ich war vorher genau so aufgeregt wie unsere Enkel. Etliche WhatsApps wurden im Vorfeld ausgetauscht.

Von mir: „Please don’t prepare too much!“ Von Cee: „No Aufwand = no party. Will bake a few cupcakes etc. Hope to find some corn-candy, the typical blöde sweet, but the traditional. Formally did the candied apples – we shall see.” Von mir: “When shall we eintrudeln? Sun goes down at quarter past 5 – it should be dämmerig genug after that. What do you think?” Cee ließ es sich nicht nehmen, richtig tolle Sachen aufzutischen, keine Ahnung, wo sie das alles auftrieb. „Just got home with the necessary “waffen” for greedy Halloweeners. Guess some time after 5:30 should offer the right kind of darkness? The usual troopers come later. Have been aquajogging = now platt. Must get started with treats right now!”

Kids and Pumpkins

Cees Hexe erinnerte mich an die wicked witch oft the West aus „Der Zauberer von Oz“, und der gruseliger Anblick verursachte selbst bei mir ein mulmiges Gefühl. Meine Verkleidung bestand meist nur aus einem langen spitzen lila Hexenhut mit Spinnennetz. Beim letzten Besuch habe ich mich mehr ins Zeug gelegt, trug eine Perücke mit langen schwarzen Haaren und eine Maske, und Cee hat mich tatsächlich im Halbdunkel des Vorgartens NICHT ERKANNT! Ich war total stolz auf mich!

Schon im Hof erwarteten uns große antike Kerzenleuchter, in der Nische grinste ein kunstvoll geschnitzer Pumpkin, meist mit langen spitzen Zähnen, und unsere Enkel waren aufgeregt und voller Vorfreude. Genau wie ich.

Halloween bei Cee und Uwe

Da es bereits dunkel war, habe ich von diesen unvergesslichen Abenden leider nur wenige Fotos – und eigentlich muss man die Stimmung ohnehin unbedingt mit allen Sinnen genießen. Thank you so much for everything, Cee. 

 

 

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Just Cee – erste Gedanken

Cee

Noch vor einer Woche hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich Caroline (die ich immer Cee nenne, und sie nennt mich Bee), eine meiner besten Freundinnen ever, so bald und vor allem so plötzlich verlieren würde. Noch am letzten Samstag haben wir lange miteinander telefoniert. Alles war wie immer, nur die Verbindung war nicht so gut, weil Cee vom knisternden Handy aus anrief, da ihr Internet zusammengebrochen war. Am folgenden Tag ist sie gestorben. Erfahren habe ich es erst am Dienstag und bin noch immer geschockt.

Bis heute kann ich die Wahrheit weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen begreifen und schwanke zwischen Unglauben und Fassungslosigkeit. Eine Frau wie Caroline, eine so starke, schillernde, autarke, begabte, eindrucksvolle, zupackende, energiegeladene Persönlichkeit, kann nicht einfach fort sein. Schon gar nicht für immer. Unmöglich. Gleich wird sie mir wieder eine WhatsApp-Nachricht schicken, mich anmailen mit ihrem neuesten Bild oder der neuesten Zeichnung. Unsere Nachrichten gehen in die Tausende, wir haben beide etliche Ordner füreinander (Cee 1, 2, 3, Cee final, Ceex, Ceexx). Oder sie wird mich anrufen oder mit frisch gebackener köstlicher Pumpkin Pie (ihre Spezialität heißt Chiffon Pie und ist extrem sättigend), einem Tablett voll warmer Brownies oder einem Spontangeschenk vor der Tür stehen. An Ostern hat sie mich schon mit Katzenportraits und Mäusezeichnungen auf ausgeblasenen Eiern überrascht. Caroline Riedel ist Malerin. Und meine Illustratorin. My dear dreamteam half.

Sie hat drei meiner Bücher illustriert. Die beiden Winnie-Bände sind erschienen, der Marigard-Roman liegt immer noch bei mir. Für jedes der vielen Kapitel gibt es eine Zeichnung. Ihre Ungeduld war berechtigt. „When are you going to publish it? I hope I will still be alive then!“

Skizze von Caroline Riedel

Übrigens schellt sie nie. Unsere Klingel ist so laut, dass sie Katz und Mensch bis ins Mark erschreckt. Cee klopft sacht mit dem Zeigefinger ans Türholz, und ich weiss sofort, dass sie es ist. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Ende Januar? Februar? Neulich war sie noch kurz an der Tür, wollte aber nicht hereinkommen. Dafür dass wir im selben Stadtteil leben, ist unser letztes „echtes“ Treffen lange her, auch wenn es sich anfühlt wie gestern. Wir waren nämlich in ständigem Kontakt, früher per Mail, seit etwa fünf Jahren auch per WhatsApp, weil man da besser Fotos und Filme teilen kann und schneller reagiert. Auch mitten in der Nacht, wenn man ein nightowl ist (wie Cee) oder Schlafstörungen hat (wie ich). Sie hat mit mir über den Tod meiner betagten Alice getrauert und sich mit mir auf die neuen Kitten gefreut, bittet mich regelmäßig um die neuesten Fotos. „Any kitten pics to brighten up my day?“ Nur noch eine, höchstens zwei Wochen, wenn alles klappt! Auf jeden Fall wird sie sofort auf der Matte stehen, um die Kätzchen ordentlich durchzuknuddeln, „I‘m really looking forward to krauling them“, wenn sie dann endlich hier eingezogen sind. „I am almost as excited as you!“ Ich muss nur ganz fest daran glauben, dann wird das Wunder geschehen. Ganz bestimmt wird es so sein.

Dearest Cee, I am missing you like hell. 

Es ging ihr nicht gut in letzter Zeit, mir war bewusst, dass sie ernstlich krank war, selbst wenn ich es einfach nicht wahrhaben wollte. Vor kurzem hatte sie die erste Chemotherapie, die so „gut“ anschlug, dass sie nicht nur alle „bad cells“, sondern auch die „good ones“ auslöschte, danach bekam sie Bluttransfusionen, um wieder zu Kräften zu gelangen. Im Mai hat sie dann trotz aller Vorsicht auch noch Omikron erwischt, und seitdem konnte sie nicht mehr richtig hören, was sie total nervte.

Cee

Doch darüber wollte sie am Samstag nicht reden, „Let’s talk about something nice! I need some cheering up!“ Zum Beispiel Pferde. Oder Katzen. Oder ihre geliebte Hündin Milli. „She is so wonderfully erzogen!“ Und über meine sehnsüchtig erwarteten Kitten. Sie erzählte auch von der tollen neuen Serie,  die sie sich abends mit ihrem Mann im Fernsehen ansieht und deren Namen ich leider vergessen habe, weil man sie ohnehin nicht über Netflix oder Firestick empfangen kann, und über die Abiturfeier ihres Enkels. Anstrengend sei es gewesen, sie habe viel laufen müssen, „but I had Uwe’s and Anton’s elbows. They are simply wonderful.“ Cee liebt ihre Familie über alles. Liebte. Nein, liebt. Sie ist ja noch da, ich weiß es genau, denn vor zwei Nächten war sie in meinem Traum und hat mir ihre neuen Illustrationen gezeigt. Sie waren dreidimensional, was mich sehr beeindruckte.  Typisch Caroline. Nein, sie ist nicht fort. Das kann und darf nicht sein.

Cee

Bei unserem ersten Treffen (in der Kassenschlange der längst verschwundenen Schlecker-Filiale im Weidener Einkaufscenter, wir hatten beide tonnenweise Katzenfutter gekauft) spürte ich sofort, dass wir irgendwie zusammengehörten. Cee fiel mir auf, weil sie „anders“ aussah als die üblichen Center-Kunden. Sie strahlte etwas aus, das mich faszinierte. Beim Bezahlen hörte ich ihren amerikanischen Akzent und sprach ich sie einfach auf Englisch an (auf Englisch habe ich zum Glück weniger Hemmungen) und lud sie, was ich sonst noch nie gemacht habe, SOFORT zu mir nach Hause ein, um ihr meine Katzen zu zeigen. American cats! Maine Coons! Diese Frau war besonders, ich musste sie festhalten, denn wer wusste schon, ob wir uns erneut so schicksalhaft zufällig über den Weg laufen würden. Mein Mann war an jenem Tag in Berlin, sonst hätte er sich bestimmt gewundert über meine spontane Abschleppaktion, doch so waren nur die Katzen zu Hause, die sich komischerweise gar nicht wunderten, und wir hatten alle Zeit der Welt. Cee rief kurz ihren Mann an und sagte, sie werde später kommen, „because I met someone really nice“. Damals lebten noch alle meine Coone, und in Cees Haus logierte der imposante Kater Porgy, der einen wie ein vornehmer alter Landlord musterte, wenn man zu Besuch kam, während Cees nächste Katze Paxi extrem scheu war und sofort wie ein übergewichtiger schwarzweißer Blitz davon schoß, wenn sie einen nur hörte. Selbst das schönste interaktive Spielzeug vermochte sie nicht aus ihren Verstecken hervorzulocken. Ich habe sie nie gestreichelt. Eine herbe Niederlage für eine leidenschaftliche Cat Woman.

An jenem ersten Abend redeten wir über Gott und die Welt, als würden wir uns schon ewig kennen. Vielleicht kannten wir uns ja auch tatsächlich schon ewig. Vielleicht aus einem anderen Leben. Es war Freundschaft auf den ersten Blick, und die Spontanabschleppung gehört zu den wenigen Aktionen, auf die ich äußerst stolz bin. Das war Kairos, die unwiederbringliche Gelegenheit, die man beim Schopfe packen muss, bevor sie für immer dahin ist. Auch sprachlich waren wir genau auf derselben Wellenlänge, unterhielten uns in einem lustigen deutsch-englisch-amerikanischen Mischmasch, und sie fluchte genauso gern und heftig auf Amerikanisch wie ich auf Englisch („I so am glad Uwe can’t hear us, he’s such a gentleman“). Wir lachten und schimpften über genau dieselben Sachen, und ich fand ihren Sinn für Humor und ihre erfrischende Direktheit überaus entspannend und genial.

Cee

Cee liebte nicht nur Katzen und Hunde, sondern auch Pferde, gegen die sie leider lange extrem allergisch war. Am Samstag haben wir uns noch gewundert, dass ihre Allergie sich in Luft aufgelöst hat. Gerade war sie noch mit ihrem Mann bei einem wundervollen Pferde-Event gewesen (in der Lanxess-Arena?) und beschrieb mir ihre Favoriten in allen Einzelheiten, vor allem ein Pferd, dessen Mähne und Schweif lang und seidig wie Schleier über den Boden flossen. Beim zweiten Auftritt sei die Mähne dann zu einem dicken Zopf geflochten gewesen. „And in the end we could walk up to the horses and pet them! Trick riders were a French troop. Fabulous!”

Schon als kleines Kind skizzierte Cee ganze Blöcke und Bücher voll mit Pferden. Sie konnte sie sogar mit geschlossenen Augen zeichnen. Auch für die Malerin gehörten Pferde zu den liebsten Motiven. Zufällig kannte ich einen Reiterhof in der Nähe und wir beschlossen an jenem ersten Abend, schon in der nächsten Woche gemeinsam dorthin zu fahren.

Viele Male waren wir seither dort, gehören zu den „Stammgästen“, bewunderten die eleganten Tiere, schlenderten durch die Ställe, unterhielten uns mit den netten Besitzern. Ich fotografierte mit zwei Kameras nicht nur alles, was mir gefiel, sondern vor allem das, was Cee gefiel, also (gefühlt!) Millionen Pferdekörper, Pferdebeine und Kruppen aus allen möglichen Perspektiven, gern auch von hinten. Wie gut, dass es Digitalkameras gibt, sonst hätte ich jedes Mal glatt zig Filme verknipst. Es war immer ein Vergnügen, anfangs musste Cee vorher Antihistamine einnehmen, doch beim letzten Besuch brauchte sie die nicht mehr. Für eine Frau, die bei einer Pferdeshow mal ihre Tabletten vergessen hatte und daraufhin einen anaphylaktischen Schock erlitt (komplett mit Notarzt und allem), war dies wirklich erstaunlich. Zu Hause angekommen, bearbeitete ich die horses sofort und mailte sie ihr. Dabei gab regelmäßig mein Mailspeicher den Geist auf, bis ich mir endlich genügend Speicherplatz kaufte. Unsere Mailwechsel waren immer höchst bildgewaltig. Außerdem legten wir vorsichtshalber auch noch diverse private Pinwände auf Pinterest füreinander an, damit Cee meine Bilder auch schnell finden konnte. Mit ihrem Computer stand sie nämlich auf Kriegsfuß. Mit ihrem Scanner erst recht. Sogar mit ihrem Handy. Mit allem Technischen. But so what. Schließlich war sie Künstlerin!

Cee

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Spring is like a perhaps hand

(Daniele Franchi/unsplash)

Seit der Krieg in der Ukraine wütet, gehen mir einige Zeilen aus zwei ganz unterschiedlichen Gedichten nicht mehr aus dem Kopf. Sie flüstern, summen, tönen, klingen, rufen verstörend in meine Gedanken hinein und wollen nicht verschwinden.

Spring is like a perhaps hand. Das perhaps hat mich sofort fasziniert. So beginnt ein Liebesgedicht von E.E. Cummings (e.e. cummings). Im eigentlichen Kontext sind die ersten Zeilen überhaupt nicht bedrohlich. Doch die Sprache wirkt wie so oft bei diesem Lyriker irgendwie fremd, überraschend, verändert, aus den Fugen geraten, sieht anders aus als gewohnt und erinnert mich mit einem Mal an unsere so plötzlich gewaltsam fragmentierte, veränderte Welt voller Schreckensmeldungen und Kriegsbilder.

Cummings schreibt manche Wörter groß, die im Englischen normalerweise klein geschrieben werden. Andere, die sonst groß sind, schreibt er klein, etwa das englische Wort für ich. Aus I wird i, wodurch es sofort bescheidener wirkt, unwichtiger, zweifelnder, fragiler. Auch das wirkt plötzlich ganz neu. Seit dem 24. Februar 2022 ist mein ich im Angesicht des ukrainischen Leids so klein geschrumpft, dass ich es kaum noch finde. Und so ist der lang ersehnte Frühling in diesem Jahr nicht fröhlich, sanft und zärtlich, sondern durch den sinnlosen Krieg auch gewalttätig, laut und grausam. Auch wenn die Obstbäume und Blumen hier genauso wundervoll blühen wie immer, auch wenn morgen Ostern ist. 2021 war mein Frühling steril und kalt und ich hatte mich so auf den duftenden Garten gefreut, doch jetzt erscheint mir die Schönheit der Natur fast wie Hohn. Ich werde die erschreckenden Bilder und väterlichen Erinnerungen in mir einfach nicht los, kann den überschwänglichen Frühling nicht ansehen, ohne traurig zu werden. Noch trauriger.

„Spring is like a perhaps hand (which comes carefully out of Nowhere) arranging a window, into which people look”….

Es ist nicht leicht, Gedichte zu übersetzen, man muss sie fühlen, ihnen nachspüren, sie vorsichtig und feinfühlig hinübertragen in die andere Sprache, sie geschickt und intuitiv nachdichten, daher ist es gut, dass deutsche Lyrikausgaben inzwischen oft zweisprachig sind. Jede Übersetzung ist schließlich  subjektiv, ein anderer würde wahrscheinlich andere Sprachwege wählen. Keine Übersetzung ist wie die andere. Die folgende stammt von Lars Vollert.

„Frühling ist wie eine vielleicht hand (die vorsichtig kommt aus dem Nirgends) die richtet ein fenster her, in das leute schauen“…

Bis zu diesem Frühling habe ich das Gedicht völlig anders gelesen, wie ein Liebesgedicht eben, doch jetzt wirkt das große englische Nowhere mit einem Mal bedrohlich (und unheimlich), zumindest auf mich. Im deutschen Text merkt man nichts davon, hier überrascht die kleingeschriebene vielleicht hand, die vorsichtig kommt aus dem Nirgends. Doch in meinem Kopf ist sie gar nicht klein. Hier wächst sie, wird größer und größer, mutiert zur gigantischen HAND, die gewaltsam aus dem NIRGENDS krallt und gnadenlos zupackt, denn sie gehört einem Riesen. In meinem Kopf richtet die vielleicht HAND (warum vielleicht? Ist es am Ende gar  keine Hand?) auch nicht vorsichtig ein Fenster her, sie zerschlägt es, reißt es aus der Wand, zeigt denen, die ins Fenster schauen, Zerstörung und Schrecken. Die vielleicht HAND in meinem Kopf hat den FINGER am Abzug, schleudert Panzerfäuste, steuert Panzer, wirft Bomben. Die riesige HAND bringt Tod und Vernichtung. Und vielleicht ist sie gar nur noch unbarmherzige Waffe und gar keine Hand mehr.

Natürlich gibt es unendlich viele andere, gute, hilfreiche, heilende, tröstende, flehende, besänftigende, bittende, streichelnde große und kleine, junge und alte Hände. Es gibt gelbe und blaue Hände, auf die Menschen ihre guten Wünsche und Hoffnungen schreiben. Aber mich verfolgt im Echo der Zeilen nur immer das Bild der gnadenlos packenden RiesenHAND.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Das zweite Gedicht, an das ich im Moment oft denken muss, hat sich für immer in meinem Kopf eingenistet. Es ist „Todesfuge“ von Paul Celan, einem meiner Lieblingslyriker. „Todesfuge“ gehört zu den gewaltigsten und traurigsten Gedichten, die ich kenne. Es begleitet mich schon ein halbes Jahrhundert. Ich kann es auswendig, seit wir in der Schule eine Interpretation darüber schreiben mussten. Besonders gut war meine Interpretation nicht, denn schon damals spürte und hörte ich Gedichte viel lieber als sie zu sezieren und zu analysieren. Als ich „Todesfuge“ zum ersten Mal las, war ich am Boden zerstört, obwohl ich zunächst gar nicht wußte, worum es ging. Schwarze Milch der Frühe. Wenn ich allein bin und mich stark genug fühle, lese ich mir das Gedicht laut vor. Rezitiere es in die Nacht. Spreche es auf Band. Höre Celan zu, wie er es liest. Einige Stellen schmecken besonders bitter.

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau“.

Diese Zeilen hat mein Kopf während der letzten Wochen ohne mein Zutun verändert und wiederholt sie nun täglich für mich wie ein Mantra. Der Tod hat viele Meister, alle sind Gestaltenwandler, unzählige gibt es von ihnen, überall auf der Welt, in allen Erdteilen, sie kommen und gehen, verschwinden und kehren zurück, immer und immer wieder. Mit wechselnden Waffen und Lügen bringen sie Vernichtung und Zerstörung, machen fassungslos und hilflos, und seit einiger Zeit scheinen sie immer mehr zu werden. Besonders jetzt. Dabei dachte ich, dass der Krieg, der mein Leben so lange begleitet hat, endlich vorbei wäre. Aber das ist er nicht. Er ist zurückgekehrt. Das Land ist gerade ein anderes als bei Celan, die Augenfarbe ist gleich. Doch das ist Zufall.

Der Tod ist ein Meister aus Russland sein Auge ist blau er trifft dich mit Panzern und Bomben er trifft dich genau.

Flag (Tatiana Shyshkina)

 

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Helga Pisters – zum Geburtstag

 

Annäherung (Helga Pisters)

Helga Pisters, Hermann Götting (privat)

Heute, am 18. März, hätte die Fotografin Helga Pisters Geburtstag. Sie wäre 85 Jahre alt geworden. Gesehen haben wir uns zum letzten Mal vor der Pandemie, als sie den riesigen schwarzen Karton mit Fotos von Hermann Götting, dem berühmten Kölner „Sachensammler“, für mich öffnete und mir erlaubte, ihre Fotos für meine Beiträge über Hermann hier auf meiner Homepage zu zeigen.

Es war einer dieser typischen unerträglichen Kölner Sommertage, und wir litten beide sehr unter der schwülen Hitze. In ihrer Wohnung hoch über den Dächern des Belgischen Viertels stand die Luft. Es war so warm, dass wir während der ganzen Zeit Wasser tranken. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment umzufallen, und fragte mich, wie Helga das wohl aushielt. Sie war aufgeregt, quirlig und lebhaft, erzählte Geschichten über „Hermännchen“ und über die vielen wunderbaren Gegenstände in ihrer Wohnung. Ich konnte mich nie satt sehen an den unzähligen kostbaren Flohmarktfunden, die sie im Laufe der Jahre mit ihrem Mann zusammengetragen hatte. Ich bin auch eine Sachensammlerin, aber so schöne Stücke wie Helga werde ich nie besitzen. Ich blieb nicht sehr lange an diesem Tag, wir waren beide völlig erschöpft, es war einfach kein guter Tag für Besuche.

Hermann Götting, Helga Pisters (privat)

Helga Pisters wirkte viel jünger als sie war, ihr genaues Alter erfuhr ich erst aus ihrer Todesanzeige. Am 23. Januar 2022 ist sie gestorben, und ich war erschrocken, als ich morgens unerwartet ihr Bild in der Zeitung fand. Sie war eine bemerkenswert kreative Fotografin mit klarem, kühnen, genauen, oft  poetischen Blick, und kannte beneidenswert viele Künstler, Zirkusartisten und schrille Nachtschattengewächse wie Hermann. Ich überlegte, ob ich wohl genug über sie wußte, um einen kleinen Nachruf schreiben zu können. Doch ich kannte sie nicht wirklich gut und hatte nicht einmal ein Foto von ihr.  Ich wohnte zwar auch lange im Belgischen Viertel, nur einen Katzensprung entfernt um die Ecke, doch wir lernten uns erst kennen, als ich fortgezogen war. Doch ihre Bilder waren mir da schon vertraut, ich kannte die Portraits von den Roncalli Künstlern, die vielen von Bernhard Paul und seiner Familie, auch ihr Buch und den Zirkuskalender, und natürlich die Fotos von Hermann.

Helga Pisters, Selbstportrait

Wenige Tage, bevor die Todesanzeige erschien, war ich noch an ihrem Haus vorbei gegangen, hinter dessen unscheinbarer Tür sich eines der spektakulärsten Treppenhäuser des Viertels verbirgt, und hatte mich gefragt, wie es ihr wohl gehen mochte. Es blieb bei dem Gedanken. Nie hätte ich gewagt, spontan zu klingeln. Wir hatten uns immer etwas umständlich telefonisch verabredet. Doch nun hat der schwarze Hermann-Karton seit letztem Mittwoch auf merkwürdige Weise den Weg zu mir gefunden. Ich kann noch gar nicht glauben, dass Helgas Hermann Götting-Sammlung jetzt mir gehört. Und nun habe ich auch Bilder von ihr und kann einen Nachruf schreiben. Didi Pisters schenkte mir außerdem eine Serie mit Vogelscheuchen, die Helga irgendwann fotografiert und zu einem Heft hatte binden lassen. Dabei hatte ich ihm gar nicht gesagt, dass ich Vogelscheuchen liebe. Sie haben mich schon als kleines Kind fasziniert. Auf den niederrheinischen Feldern gab es sehr viele dieser stummen, windzerzausten  Gestalten.

Ganz nah (Helga Pisters)

In den letzten Wochen denke ich noch häufiger an Helga Pisters, denn sie mußte wie gerade so viele ukrainische Kinder als kleines Mädchen mit der Mutter ihre Heimat verlassen. Der Leinenrucksack, den die Mutter bei der Flucht getragen hatte, hing wie ein Mahnmal aus Stoff über Helgas Sofa. Bei meinem ersten Besuch ließ sie mich raten, was das merkwürdige Gebilde wohl sein könnte. Ich hatte natürlich keine Ahnung, und sie erzählte mir, dass sie aus Ostpreußen stamme, in der Nähe von Königsberg. Die schreckliche Flucht hat sie nie vergessen. In einem weiteren ihrer vielen Kartons sind Bilder aus ihrer verlorenen Heimat, Fotos, die sie als erwachsene Frau bei einem Besuch gemacht hat. Zweimal war sie dort. Beim ersten Wiedersehen war das Haus unbewohnt und verfallen, die Bilder erschreckend und trostlos. Das Haus ohne Seele. Beim zweiten Besuch war das Haus gerettet, es waren neue Menschen eingezogen. Den Fotos hat sie einen bewegenden Text vorangestellt.

Geboren in Marienfelde, Kreis Preußisch Holland (Ostpreußen)

Ein winziges unverputztes Ziegelsteinhäuschen – Fachwerk ist dortzulande unbekannt – ohne Ranken in die einsame weite Landschaft gesetzt, nur zwei Fenster an den Längsseiten, die Giebel mit Brettern verschalt. Gab es überhaupt einen Keller? Obstbäume, Wiesen, Wassergraben, Teich, ein bescheidener Garten, Schweinekoben, Hühnerstall… keine Gartenmöbel. Ungezählte Häuschen solcher Art gab es im deutschen Osten am Rande der Dörfer, in der Nähe der Herrengüter… bis tief nach Russland, bis nach Witebsk. Sie beherbergten einfache, oft kinderreiche Familien – doch hier gab es nur ein kleines, gesundes, blondes, neugieriges Mädchen, für das die Eltern sich mühten. Sie schienen glücklich… „Was wollt ihr mehr?“ … würde die Mutter auch später noch gesagt haben. Vater war rasch zufriedenzustellen, und Mutter war allem „Feinen“ gegenüber misstrauisch gewesen. Sie konnte nur ostpreußisch kochen, auch nach Kriegsbeginn brauchte man nicht zu hungern. Später im Westen beim „Italiener“ essen zu gehen kostete sie Überwindung. Wenn sie etwas größer gewesen wäre, hätte sie den Schlüssel in der Dachrinne verstecken können. Wurde überhaupt ängstlich abgeschlossen? Die Haustür stand meist offen, das blonde Kind ging ein und aus. Geflügel spähte neugierig in den Flur.

Hitze stand im ostpreußischen Sommer ums Häuschen, im Winter brachte der Vater vom Dienst die Kälte in die warme Stube, die Schneeflocken schmolzen rasch auf seiner Joppe. Manchmal war es langweilig… die Erwachsenen trugen dies gottergeben. „Ich hab’ nichts zu spielen“ – „Mach dich was!“ Wäscheklammern, Kastanien, Knöpfe mussten genügen. Wenn Mutter mal nicht da war, öffneten sich die Wunder ihres Nähkastens. In der Schublade des nackten Esstischs lag ein Kalender des Vaters, dort gab es auch Papier, Tinte und Feder und einen Bleistiftstummel, keine Farbstifte, mal ein Rotstift, er war stumpf.

Draußen immer die Stille, nur bei Wind hört man die ferne Bahn – Schwalben – Fliegen summen. Neugier und Sehnsucht treiben das wachsende Kind… Es muss doch etwas Schönes geben… es träumt von Bildern; an der Wand hängen nur die Fotos der Großeltern, die Eltern als Brautpaar, ein Blumensträußchen glitzert im Glasfach des Stubenschranks, vielleicht stehen da auch einige bunte, nie benutzte Gläser als Hochzeitsgeschenke. Wo ist etwas Schönes? Das Kind findet es noch nicht, es läuft weg, die Mutter holt es mit fester Hand zurück.

Bald werden hier alle vertrieben, nur die Tiere bleiben zurück, auch das Häuschen, es überdauert in seiner Traurigkeit Jahrzehnte, bis die junge Frau es wieder besuchen wird.

Sie hat weit weg all das gefunden, was sie dunkel in der Kindheit ersehnte. Ausgefallenes, Farbiges, Köstliches, Kunst. Sie findet immer etwas Besonderes. Alles betrachtet sie heute kennerisch, aber eigentlich ist es immer noch mit der tiefen Freude der Kindheit. Das ist so, wenn man im Ziegelhäuschen einfach und bescheiden gelebt hat.“ (Helga Pisters) 

Aus der Ferne (Helga Pisters)

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