Was vom Leben übrig bleibt – Versuch eines Nachrufs

Detail aus Ediths Wohnung

Am 7. September 2021 starb meine Tante Edith Janders, geborene Felten, die jüngste Cousine meines Vaters, mit 93 Jahren in einem Kölner Seniorenheim. Vorher hatte sie mit Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen. Als sie sich nach Meinung der Ärzte auf dem Wege der Besserung befand, kehrte sie ins Heim zurück, wo sie wenige Tage später starb. Allein. „Friedlich eingeschlafen. Tiefenentspannt.“ Zum Schluss habe sie ohnehin nur noch geschlafen. Vielleicht stimmt es ja. Beim Besuch eines guten Freundes, der sie in den letzten Wochen aufsuchte, schlief sie tatsächlich so fest, dass er sie nicht zu wecken vermochte.

Das Heim sah keine Veranlassung, die wenigen Personen auf Ediths Kontaktliste, die dort seit Jahren hinterlegt ist, über ihren Krankenhausaufenthalt und ihren Tod zu informieren. Auch Ediths gesetzlicher Betreuer und ihr Nachlassverwalter hielten dies nicht für notwendig. Eine Todesanzeige gab es nicht. Wenn der Zufall uns nicht geholfen hätte, wäre Edith einfach verschwunden und die Urne mit ihrer Asche ohne Trauergäste von einem Fremden bestattet worden. Das dröhnende Schweigen war nicht neu. Als vor einigen Jahren jemand Ediths Bankkarte und Pin entwendete und ihre Konten leer räumte, erfuhren wir davon auch nur zufällig. Wir waren nicht auskunftsberechtigt. Daran hatte Edith nicht gedacht. Sie selbst ahnte von alledem nichts. Wahrscheinlich bemerkte sie auch den mehrfachen Betreuerwechsel nicht mehr.

Detail aus Ediths Wohnung

Dabei hatte sie alles so gut geplant. Damit, dass sie eines Tages ihre Geschäftstüchtigkeit verlieren würde, hat sie nie gerechnet. Da sie keinem zur Last fallen wollte, hatte sie einen Bekannten gebeten, ihr Nachlassverwalter zu sein. Auch um die eigene Beerdigung hatte sie sich beizeiten gekümmert, sogar den Stein, in den später ihr Name eingraviert werden sollte, bereits ausgesucht. Leider ist der schlichte Stein mit dem segelartigen Gebilde nicht mehr auffindbar. Er war eine Kernbohrung aus dem Gemäuer des Kölner Doms, eins von vielen ungewöhnlichen Kunstwerken, die man überall in ihrer Wohnung finden konnte. Möglicherweise wurde er bei der Wohnungsauflösung oder beim „Entrümpeln“ des Heimzimmers entsorgt oder ruht jetzt mit den Gegenständen, die man im Heim für noch rettenswert hielt, in einem Kellerkarton.

Ediths Wohnung, rechts der Domstein

Auf den Fotos, die dem Bestatter vorliegen, und in meinem Computer gibt es ihn noch. Er war vielleicht nicht gleich als Kunstwerk erkennbar, doch für seine Besitzerin war er sehr wertvoll, er verkörperte ein Stück Heimat, war ein Stück Kölner Dom und barg schöne Erinnerungen an eine Ausstellung und einen besonderen Künstler. Edith hat sich immer ausgiebig mit den Künstlern unterhalten, deren Werke sie bei sich aufnahm. Jeder Gegenstand in ihrem Besitz hatte seine Geschichte, oft gar sein eigenes Schicksal. Ediths Vertraute wussten von diesem Stein. Schade, dass keiner sie gefragt hat. Schade, dass Fremde entschieden haben, welche Gegenstände aufbewahrungswert waren und welche nicht.

Edith Janders

Als ich von Ediths Tod erfuhr und im Heim anrief, war es bereits zu spät. Es war schon fast eine Woche vergangen, die Zeit drängte, der Raum musste renoviert und weitervermietet werden. Die Warteliste sei lang (trotz zweitausend Euro Eigenbeteiligung im Monat und tristem Straßenblick). Die stets positive Edith konnte selbst der trostlosen Aussicht noch etwas Positives abgewinnen: „Ich sehe Bäume. Menschen, die vorbeigehen. Besucher. In der Ferne die Fabrik, die ich gut kenne.“ Zu ihrer Freude lag das Haus im südlichen Teil Kölns, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Nur bestattet wurde sie auf eigenen Wunsch nicht in ihrer Heimatstadt.

Obwohl wir verwandt waren und beide in Köln lebten, habe ich Edith erst während der letzten zwanzig Jahre näher kennengelernt, so dass mir die wichtigsten und längsten Kapitel ihres Lebens nicht vertraut sind. Ich kenne sie eigentlich nur als schwerhörige, gehbehinderte, weißhaarige alte Dame. Ein wenig auch als kleines Kind. Über ihre Kindheit hat sie mir einiges erzählt, und auch mein Vater hat in seinen Aufzeichnungen über seine jüngste Cousine, das zierliche „Edithchen“, berichtet. Auch dass sie lange im bekannten Kölner Pelzhaus „Herbst“ gearbeitet hat, hat sie manchmal erwähnt, ich glaube, in der Verwaltung.

Edith und Grete Felten

Geboren wurde sie am 11. Juli 1928 in Köln als zweites Kind von Albert und Grete Felten. Ihr Vater hatte zunächst eine eigene Firma, in der, wenn ich mich recht erinnere, irgendetwas Eternitartiges hergestellt wurde, das die Anfangsbuchstaben seines Namens trug und Alfenit oder so ähnlich hieß. Später hatte er, soweit ich weiß, ein Geschäft. Ediths Bruder Herbert, genannt Hawa, war vier Jahre älter als sie. Viele Familienmitglieder (mein Großvater hatte neun Geschwister) lebten damals in Köln. Edith hat die meisten gekannt, vor allem Onkel Jean, der in der Kölner Freiluga tätig war, einem bekannten schulbiologischen Zentrum, das schon damals Generationen von Stadtkindern die Natur näher brachte.

Edith und Herbert Felten

Ediths frühe Kindheit war glücklich und unbeschwert, als Nesthäkchen wurde sie verwöhnt und liebevoll umsorgt, doch dann kam der Krieg. Gleich zweimal wurden die Häuser, in denen die Familie lebte, ausgebombt. Edith erinnerte sich an schrilles Sirenengeheul, hastiges Packen und endlose bange Nächte in diversen Luftschutzkellern, auch an ein Nachbarskind, das eines Morgens tot vor dem Schutzbunker lag, die Puppe noch im Arm, als sie mit ihren Eltern nach draußen kam. Die wenigen Gegenstände und Fotos, die bei den Bombenangriffen nicht zerstört wurden, mussten mühsam auf der Straße aufgesammelt und gesäubert werden. Ihre Kinder- und Familienfotos waren daher besonders kostbar für sie und blieben immer in ihrer Nähe. Ich hoffe, dass sie nicht auch entsorgt wurden. Einige wenige habe ich vor Jahren von ihren Originalen abfotografiert, als Überraschung für meinen Vater, der damals über seine Kindheit schrieb.

Herbert Felten

Herbert Felten starb im August 1943 mit nur 19 Jahren an der Ostfront und wurde von seinen Eltern so intensiv und untröstlich betrauert, dass nach seinem Tod jahrelang keine Feste mehr gefeiert wurden. Weder Geburtstage noch Weihnachten, was der kleinen Edith sehr zusetzte. Edith hat mir erzählt, wie ihr verzweifelter Vater sich gemeinsam mit ihr auf den Weg machte und versuchte herauszufinden, wie genau Herbert gestorben war, ob er hatte leiden müssen, und dass er nächtelang Briefe an den toten Sohn schrieb und immer wieder dessen Kleidung trug, um ihm möglichst nahe zu sein. Nicht selten saßen die drei Überlebenden im Wohnzimmer beieinander und weinten „im Chorus“, wie Onkel Albert sich ausdrückte. Ich fand einen erschütternden Brief, den er ein halbes Jahr nach Herberts Tod an den gefallenen Sohn geschrieben hat, zwischen den Papieren meines Vaters. Edith hatte ihn kopieren lassen. Mit meinem Vater, der selbst kriegstraumatisiert war und zeitlebens dem Krieg nicht entfliehen konnte, verband sie eine besondere Freundschaft. Mit ihm konnte sie auch im hohen Alter noch über ihren Bruder reden und wurde verstanden. Auch mir erzählte sie oft von ihm. „Der Herbert war so ein sensibler Junge. Vielleicht war es besser für ihn, dass er nicht zurückgekommen ist. Der Krieg hätte ihn bestimmt innerlich zerstört. So wie deinen Vater.“ Herberts Grab befindet sich heute in Sologubowska in Russland. Nach Herberts Tod war nichts mehr wie vorher. Um ihre Eltern hat Edith sich bis zu deren Tod (1974 und 1987) liebevoll gekümmert.

Ich weiß zwar, dass Edith lange verheiratet war, doch ihren Mann habe ich in all den Jahren nur einmal gesehen, es muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, als ich das Ehepaar zum ersten und einzigen Mal in der Südstadt besuchte. Ich vermute, dass er an Ediths Familie nicht sonderlich interessiert war, denn er begleitete sie nie an den Niederrhein. Lutz und Edith wohnten in einem Haus in der Jakobstraße, in dem sich auch der Karrosseriebaubetrieb Janders befand. Lutz wirkte auf mich wie das genaue Gegenteil von Edith, groß, kräftig, jovial, aufbrausend, temperamentvoll.

Ediths Haus in Spanien

Gemeinsam besaßen die beiden ein großes Haus an der Costa Brava, und Edith, die fließend Spanisch sprach, fand in Katalonien dreißig Jahre lang ihre geliebte zweite Heimat. Zunächst wohnten die beiden in Ampuriabrava, dann bezogen sie ein neues Haus in Rosas. Mit mir hat sie über diese Zeit kaum gesprochen, wohl weil ich Spanien nicht kenne. Heute tut es mir leid, dass ich sie nicht mehr gefragt habe. Ich erinnere mich aber sehr gut daran, wie deprimiert sie war, als das schöne Haus nach der Scheidung endgültig verkauft werden musste. Einen herrlichen Blick auf den Hafen habe man von dort aus gehabt, überall Terrassen und wunderbare Aussichten, links die Burg, rechts das Gebirge, hell und lichtdurchflutet seien die Räume gewesen, klar die Luft, morgens habe man die Fischerboote hinaus aufs offene Meer tuckern hören. Hell und lichtdurchflutet war auch Ediths Wohnung in Rodenkirchen, sie bestand zum größten Teil aus Fenstern.

Ediths Haus in Spanien

Viele Freunde und Verwandte hat Edith nach Spanien eingeladen, ich habe Fotos gesehen und mir von der begeisterten Fremdenführerin erzählen lassen, die ihre Gäste großzügig bewirtete und mit dem Auto zu allen möglichen Sehenswürdigkeiten fuhr, zu Kirchen und Burgen, einsamen Buchten, eindrucksvollen Sandstränden und zu den Wirkstätten von Salvatore Dali. Besonders schön seien das gemeinsamen Kochen und die gemeinsamen Mahlzeiten gewesen, die ausgelassenen Feste und das gemeinsame Sonnenbaden und Schwimmen im Meer.

Edith in Spanien

Auf den Bildern sieht sie jung und glücklich aus. Edith liebte die Sonne und war in südlichen Gefilden als Sommermensch sicher ganz in ihrem Element. Leider habe ich sie so nie erleben können. Kennengelernt habe ich sie aber als Kunstliebhaberin und vielseitig interessierte Leserin, die sich sogar beim Zeitungslesen Notizen machte und ganze Ordner mit Zeitungsausschnitten hatte. Ihr Lieblingsbuch „Schweigeminute“ habe ich auf ihren Rat hin mit meinem Literaturkreis gelesen. Alle waren von dem Buch beeindruckt. Genau wie ich war sie eine leidenschaftliche Fotografin. Sie verschickte zu allen Anlässen schöne selbstgestaltete Karten, meine Eltern haben viele davon aufbewahrt. Ich erkenne ihre Handschrift und auch den Duft, den sie später am liebsten mochte. „Wish“ von Chopard, in einem merkwürdigen Flacon, der an einen Diamanten erinnert und in ihrem Sekretär lag. Damals hielt ich ihn allerdings für einen Briefbeschwerer. In ihrer Rodenkirchener Wohnung hatte Edith unzählige Fotos, die sie in prall gefüllten Alben und Kartons aufbewahrte. Und viele Filme, die sie sich abends oder am Wochenende ansah, mit Kopfhörern, weil sie so schlecht hörte. Überhaupt muss Edith es früher geliebt haben, Gäste einzuladen und zu bewirten, ist sehr gern verreist, war immer bereit zu Spontanausflügen und Unternehmungen, war ganz versessen auf Ausstellungen und Museen und hat wohl auch gern gefeiert, besonders Karneval. Eine Freundin meint, dass sie auch ausgefallene Kostüme entworfen habe. Ich weiß auch, dass Lutz und Edith ausgesprochen sportlich waren und früher beide Hockey spielten.

Buchkunst in Ediths Wohnung

Irgendwann fing ich an, die vielen schönen Dinge in ihrer Wohnung zu fotografieren. Vielleicht würde sie sich ja über ein Fotobuch freuen? Ich schenkte es ihr 2013 zum Geburtstag. „Ich kann nicht fassen, dass ich hier zwischen so wunderbaren Schätzen lebe. Das ist wirklich meine Wohnung in deinem Buch! So ganz anders, gesehen durch deine Augen! Ich danke dir sehr dafür!“ Das Buch ist genauso verschwunden wie der Stein. Entsorgt oder möglicherweise in einem der Kellerkartons. Für Edith war es nach der Umsiedelung tröstlich, dass sie ihre Schätze noch bei sich hatte. Im Heim habe ich nur ein einziges Foto gemacht, weil mich das Stillleben aus Brille, Stift und trauriger Vase mit getrockneter Blume anrührte. Die Fensterbank schmückte Edith mit Kerzen und bedrucktem Transparentpapier und liebte es, wenn die Sonne damit Licht- und Schattenspiele machte. An den Wänden hingen ihre Fotos, in Wechselausstellungen, allerdings nur notdürftig mit Tesafilm oder kraftlosen Heftzwecken befestigt, die in der harten Wand krumm wurden und nicht lange hielten, so dass die Seite über ihrem Bett voller Löcher war.

Steinkunst in Ediths Wohnung

Die Idee mit dem Fotografieren kam nicht von ungefähr. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich auch mein Elternhaus vor dem Verlust ausgiebig fotografiert. Ich ertrage es nicht, wenn Erinnerungen verschwinden. Die geschmackvolle, farbharmonisch eingerichtete Wohnung meiner Tante mit all ihren Kostbarkeiten, die sie aus Ausstellungen und aus der Natur zusammengetragen hatte, lud in der Tat zum Schauen und Fotografieren ein. Dicke Mohnkapseln waren von Künstlerhand nebeneinander arrangiert, verschiedenfarbige flache Kiesel fein übereinander aufgereiht, Holzstückchen zu fragilen Bauten aufgeschichtet, Buchseiten kunstvoll gefaltet, von ihr selbst gesammelte Steine schmückten flache weiße Schalen, und überall hingen zahlreiche kleine und einige wenige große Bilder, am Fenster schwebte ein luftiges Boot oder vielleicht war es auch ein Vogel aus Treibholz und milchigen Pflanzenteilen. Sogar im Flur und im Bad hingen Bilder, alles lud zum Schauen ein. Die Fähigkeit, wie ein Kind zu staunen und sich zu freuen, hat Edith sich bis ins hohe Alter bewahrt, und ihre Begeisterung war durchaus mitreißend. Ihre Wohnung wirkte aber nicht etwa voll, sondern aufgeräumt und genau durchdacht. Alles befand sich an der richtigen Stelle, alles war genau am richtigen Ort, nichts wurde dem Zufall überlassen.

Edith in ihrer Wohnung

Edith besaß ein ausgeprägtes Stilgefühl, einen sicheren ästhetischen Blick, und umgab sich grundsätzlich nur mit ganz bestimmten Farben, auch ihre Kleidung spiegelte ihr Farbempfinden wider, so dass sie fast mit ihrer Umgebung verschmolz. Ediths Farben waren Weiß, Beige, Grau, alle Schattierungen von Erdtönen und Braun bis hin zu einem fast schwarzen Dunkelbraun. In ihrer Wohnung spielte sie gern mit Kontrasten. Was Farben betraf, reagierte sie übrigens erstaunlich emotional. Sie hasste Gelb und Rot so sehr, dass sie nichtsahnend mitgebrachte gelbe oder rote Blumen schlichtweg nicht annahm. Die konnten Besucher wieder mitnehmen. Sie ertrug diese Farben einfach nicht in ihrer Nähe. Sie taten ihren Augen weh.

Ediths Wohnung mit Entenbild

Ich verstehe diese Abneigung, allerdings nur, wenn es meine eigene Kleidung betrifft. Der rote Pullover, in den meine Mutter mich als Kind steckte, versetzte mich geradezu in Panik, und ein gelber, den sie mir gestrickt hatte, machte mich jedesmal so übellaunig und unruhig, wenn ich ihn trug, dass meine Mutter entnervt aufgab. Gelb und Rot waren laute, schrille Farben, die auffielen! Viel zu grell und aggressiv, geradezu giftig! Ich reagiere mit Herzrasen und Beklommenheit, wenn ich diese Farben trage, doch bei anderen und auch bei Blumen stören sie mich kein bisschen. Vielleicht liegt es daran, dass sie in der Natur tatsächlich oft Signal- oder Warncharakter haben? Rot ist die Farbe von Feuer, Glut, Hitze, Krieg, Verwundung, Blut, Aggression und Leidenschaft, und Gelb (meist in Kombination mit Schwarz) kennzeichnet häufig giftige, gefährliche oder radioaktive Stoffe und ist die Farbe des Neids. In der Natur und in meinem Garten liebe ich alle Farben, ganz besonders Gelb und Rot, und auch beim Malen und Basteln bin ich mit meiner Farbpalette erstaunlich experimentierfreudig. Vielleicht wirkten Rot und Gelb auf Edith ähnlich? Übrigens ist meine persönliche Hassfarbe Weiß, weil es mich an Krankenhäuser, Kinderheime, Schmerzen und Tod erinnert. Weiße Bettwäsche und weiße Wände sind für mich unerträglich. Beige und Orange mag ich an mir auch nicht besonders. Meine Lieblinge sind alle Blau- und Lilatöne. Und bei Kleidung auch Braun und Schwarz.

Bei Ediths Beerdigung haben wir (natürlich!) darauf geachtet, dass die Rosenblüten, die ihr ins Grab folgten, auf gar keinen Fall gelb oder rot waren, sondern ganz hell. Das habe ich auch dem Bestatter mitgeteilt. Die Blüten in Ediths Grab waren cremeweiß, nur einige wenige hatten zartrosa Ränder. Es war wirklich nur ein Hauch. Ich hoffe, es hat sie nicht gestört.

Ediths Dachterrasse mit Kranich

Onkel Albert, Ediths Vater, besaß wie viele Feltens eine ausgesprochen künstlerische Begabung und eine tiefe Naturverbundenheit. Edith hatte noch einige Originale ihres Vaters und malte selbst auch manchmal, die drei kleinen Vögel auf Porzellan rettete sie sogar bis in ihr letztes Zimmer. Wie ihr Vater und seine Brüder hatte sie einen grünen Daumen und liebte ihren großen Dachgarten über alles. Dort beobachtete sie die Vögel, hing Nisthilfen auf, eine Kugel für den Zaunkönig, pflegte und hegte ihre riesigen, üppigen Pflanzen. Sie ließ sich eigens einen Wasseranschluss nach draußen legen und genoss den Blick über die Dächer von Köln. Nie habe ich eine schönere Passionsblume gesehen als auf Ediths Dachterrasse, ein wahres Blütenmeer. Zwischen den Kübeln standen Vogelstatuen. Den schlanken Kranich hat sie dem Heim geschenkt, wo er jetzt verloren am Haus steht, doch auch dafür war sie dankbar und besuchte ihn oft. „Da ist er! Mein Kranich! Ein Freund!“ Sie schaute voll Freude auf den Heimgarten und kannte dort jeden Baum, jeden Strauch. „Ist das nicht herrlich hier?“ freute sie sich. Auch ihr metallener Fisch steht jetzt dort, wasserfern, inmitten von Kieseln. Mich hat die Gartenanlage immer nur deprimiert, für Edith war sie ein Lichtblick.

Ediths Dachterrasse mit Fisch

Sehen konnte sie selbst im hohen Alter noch erstaunlich gut. Familienmitglieder erkannte sie bis zum Schluss, vor allem wenn ich ihr alte Fotos zeigte, auf denen längst Verblichene noch jung und frisch aussehen und den Betrachter strahlend anlächeln. „Der Günter! Der Kurt! Die Margot! Tante Auguste! Vati! Dein Opa!“ In diesen Momenten wirkte sie überrascht und bewegt. Sie konnte sich einfach nicht erklären, wieso die Gesichter jetzt alle in meinem Handy waren. „Wie machst du das? Was man heute alles kann! Die Technik!“ Manchmal sagte sie auch Sätze, die mich traurig machten. „Dann gibt es mich also noch!“ „Dann bin ich also nicht vergessen!“ „Ich danke dir, dass du mir meine Familie zurückgibst!“ An den Wänden und auf dem Tisch fanden sich auch im Heimzimmer noch viele Fotos von Personen, die ihr einst lieb gewesen waren. „Freunde. Von früher. Spanien. Ich hatte so viele Freunde.“ Sie nannte etliche Namen, doch für mich waren es Fremde.

Ediths Papierkunst

Bei unserem letzten Besuch im Heim, es war um die Weihnachtszeit, wirkte Edith in sich gekehrt und weit fort. Als sie mich erkannte, sagte sie zu meinem großen Schrecken wörtlich denselben Satz, den auch mein Vater auf der Demenzstation zu mir sagte: „Wie hast du mich hier bloß gefunden?“ Als befände sie sich bereits in einer Anderswelt, weit weg, durch tiefe Abgründe vom Leben getrennt. Sie war an diesem Tag schwer zu erreichen, sprach nicht, starrte ins Leere, aß mechanisch die Plätzchen, die wir mitgebracht hatten, sank immer wieder tief in sich selbst zurück und konnte sich nur mit großer Kraft konzentrieren. Schließlich deutete sie auf das Foto, auf dem sie mit Herbert zu sehen war. „Das sind meine Kinder“ murmelte sie. Sie merkte wohl, dass ich erschrocken war und sah mich ratlos an. „Entschuldige. Verwirrt. Mein Kopf.“ Sie kam nicht mehr wie sonst mit zum Aufzug, sondern blieb still und verloren an ihrem Platz im Speiseraum, sah uns gehen und winkte. Das ist mein letztes Bild von ihr.

Kurze Zeit später brach die Pandemie über unsere Welt herein. Lockdowns und Distanzregeln prägten unser Leben. Ich dachte jeden Tag an Edith, rief auch manchmal im Heim an und erkundigte mich, wie es ihr ging, fragte nach, ob sie schon geimpft sei, aber besucht haben wir sie nicht mehr. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie sie sich gefühlt hat, als sie plötzlich nur noch von Masken umgeben war, denn sie konnte ja nichts hören und las meist von den Lippen ab. Beim letzten  Besuch klang ihre Stimme rau und fremd, und ich konnte nichts weiter tun als ihren Arm und ihr Gesicht streicheln und ihre kühle Hand halten. „Das tut mir gut!“ sagte sie. „Dann gibt es mich also doch noch.“

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer. Als mein Mann an Ediths Grab diese Zeilen aus Psalm 139 sprach, dachte ich an ihr glückliches, erfülltes Leben in Spanien, in der wärmenden Sonne, direkt am Rand des Meeres. Jetzt ruht ihre Asche weit weg vom Meer in einem grünen moosigen Wald voller Farne und Steinschalen zwischen den Wurzeln einer jungen Kastanie an einem von ihr selbst gewählten Ort. Er passt zu ihrer Naturnähe. Es war mein erster Besuch in einem Friedwald, und ich war angenehm überrascht. Ich erinnere mich noch, wie sie uns vor einigen Jahren von den Gärten der Erinnerung und Pfaden der Sinne erzählte. Sie hatte in der Zeitung darüber gelesen und das schöne Foto ausgeschnitten, tröstliche Laternenlichter unter herbstlichen Bäumen. „Ein schwerer Gang für mich! Aber so nette Menschen. Verständnisvoll. Freundlich. Sie haben mir sehr geholfen.“ Sie sprach oft ein wenig bruchstückhaft. Und ziemlich laut, weil sie sich selbst nicht hören konnte. Es muss kurz vor der unerwarteten Übersiedlung ins Heim gewesen sein. Vielleicht hat sie gespürt, dass eine tiefgreifende Veränderung bevorstand. Edith hat viel gespürt, auch die Schwingungen anderer Menschen und die Schatten der Zukunft. Genau wie mein Vater.

Friedwald in Bergisch Gladbach

Gemeinsam mit dem netten Herrn sei sie durch die Anlage gegangen und fand, dass ein Laubbaum gut zu ihr passte. „Laubbäume verändern sich. Sehen immer anders aus. Gefällt mir gut.“ Viel Kraft hatte dieser Schritt sie gekostet. „Aber jetzt ist alles geregelt, jetzt bin ich ruhig.“ Vorher hatte sie nächtelang nicht geschlafen vor Aufregung. Hatte sich verfahren an dem Tag. Sie fuhr gern und viel, war stolz darauf, ein kleines Auto zu haben, so mobil zu sein, allerdings war ihr Fahrstil zumindest in späteren Jahren für nichtsahnende Beifahrer ziemlich gewöhnungsbedürftig. Als sie mich einmal im Wagen von Köln an den Niederrhein mitnahm, war ich heilfroh, als wir endlich wohlbehalten am Ziel waren und saß während der Hin- und Rückfahrt mehr oder weniger auf der Kupplung.

Ediths Mohnkapseln

Bei meinem letzten Besuch in der Rodenkirchener Wohnung wohnte Edith bereits im Heim. Die Pflanzen auf der Dachterrasse waren einsam und vertrocknet, die Wohnung war traurig und leer, nur der Sekretär stand noch da, sah im falschen Zimmer noch kleiner und fragiler aus. Wenige Tage vorher hatte sie mich angerufen. „Ich habe nachgedacht. Ich möchte dir meinen Sekretär schenken. Ihr müsst ihn nur noch abholen.“ Lange haben wir nicht den richtigen Platz gefunden, aber jetzt steht er hier im Ahnenzimmer, in seinen Schubladen sind Farben und Stifte und alte Briefe und Fotos. Und ein Flakon „Wish“. Genau in dem Fach, wo er auch bei Edith gelegen hat. Das würde ihr gefallen. Das Entenbild, das ihr Vater gemalt hatte, schenkte sie mir im letzten Jahr in ihrer Rodenkirchener Wohnung. Sie nahm es bei unserem Besuch von der Wohnzimmerwand, wo es so viele Jahre rahmenlos neben dem Schrank gehangen hatte. Sie muss gemerkt haben, wie sehr ich es mochte. „Das sollst du haben. Ich freue mich, dass es dir gefällt.“ Ich weiß sehr wohl, wie wichtig ihr dieses Bild war. Und so schwimmen jetzt fünf Enten bei uns im Flur, in einem Rahmen mit den gedämpften Farben des Entengefieders, dass längst nicht mehr weiß ist, sondern sich in verschiedene Cremetöne verwandelt hat. Ediths Farben.

Ediths Wohnung

Edith war das, was man heute als hochsensibel bezeichnet, feinfühlig, feinsinnig, mit einem sicheren Blick für kleine Dinge, an denen andere achtlos vorübergehen. Sie bemerkte winzige Schneckenhäuser, verfallene Turmgemäuer und bizarre Wolkengebilde. Leider gingen ihr schon früh zwei wichtige Sinne verloren. Sie konnte kaum noch riechen, was sie sehr bedauerte, und war so taub, dass jede Kommunikation mit ihr schwierig war. Ich meine mich zu erinnern, dass auch andere Feltens ziemlich schwerhörig waren.

Da sie nicht mehr gut zuhören konnte, wurden Gespräche meist zu Monologen, bei denen sie irgendwann den Faden verlor, weil sie mit Vorliebe von einem Thema zum nächsten mäanderte. Auch hatte sie die Angewohnheit, mitten im Satz abzubrechen, lange Pausen  einzulegen, dabei in die Ferne zu starren und dann urplötzlich weiterzureden, was ihre Gesprächspartner stark irritierte. Ich habe mehrfach versucht, sie gezielt zu „interviewen“, so richtig mit vorbereiteten schriftlichen Fragen, um mehr über unsere Familie herauszufinden. Viel erfahren habe ich leider nicht. Ihre Hörgeräte funktionierten meist nicht, was sie selbst allerdings weniger störte als ihre Besucher. Telefonate waren schon vor Jahren so gut wie unmöglich. „Ich verstehe dich nicht!“ war ein Satz, der mich sofort hilflos machte. Genau wie „Bitte schrei nicht so laut!“ und „Sprich bitte lauter!“ Das alles machte mich so unsicher, dass ich vor jedem Anruf einen seelischen Anlauf nehmen musste. Meist sagte ich nur schnell, dass und wann wir kommen wollten, und fragte, ob es ihr gelegen kam. Und Edith antwortete: „Das passt mir gut. Ich freue mich auf euch!“ Oft war ihr letzter Satz, noch an der Tür: „Ich muss mich entschuldigen, dass ich schon wieder so viel geredet habe.“ Besuche bei Tante Edith waren schön und interessant, aber sie konnten auch anstrengend sein.

Viele Gedanken habe ich mir gemacht über sie in den letzten Wochen, habe mit Freunden und Verwandten gesprochen, in alten Alben geblättert und ihre Karten und Briefe gelesen. Nein, ich ertrage es ganz und gar nicht, wenn Menschen und alles, was ihnen lieb und wichtig war, einfach so verschwinden. Ich musste diesen Nachruf schreiben, auch wenn er zu lang geraten ist, aber es war ja auch ein langes, dichtes Leben. Liebe Edith, ich hoffe, meine Erinnerungen gefallen dir. Es gibt dich noch. Du hast in unseren Leben viele Spuren hinterlassen. Du bist nicht vergessen.

Herbst

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Pandemischer Jahresrückblick

Amsel (pixabay)

Heute vor genau einem Jahr (zwei Tage zuvor hatte die WHO die Pandemie ausgerufen) schrieb ich hier auf meiner Seite: „Über 4.200 Menschen sind bereits an der Erkrankung gestorben.“ Weltweit, wohlgemerkt. In Köln gab es damals gerade mal 61 bestätigte Krankheitsfälle, und die Quarantänefälle lagen noch unter 200. Und die meisten von uns machten sich Sorgen. Wie anders sieht es jetzt aus. Bis heute wurden allein in Köln 35.433 Fälle gemeldet, aktuell infiziert sind 1.658, verstorben 552. Morgen vor einem Jahr wurden zum ersten Mal jegliche Veranstaltungen im Stadtgebiet untersagt, auch die Gottesdienste.

Ich kann kaum fassen, wie sehr sich die Welt in den wenigen Monaten verändert hat. Wieder ist März, wieder nähert sich zuverlässig der Frühling, die Amseln singen schon morgens und abends, bald wird es wärmer, auch wenn es heute stürmisch ist und zwischendurch sogar Hagelkörner herunter prasselten. Die ersten Knospen erscheinen an den Zweigen, die Wacholderdrossel kommt neuerdings zum Frühstück, die Zugvögel kehren zurück. Heute Morgen um gab es als wetterliche Zugabe sogar noch einen richtig lauten Donnerschlag.

vaccine (hakan nural/unsplash)

Heute vor einem Jahr befanden wir uns am Beginn der ersten Welle, verunsichert bis ungläubig, fühlten uns soldarisch und hilfsbereit. Sangen gemeinsam um 9 Lieder. Vorbei. Heute singt und klatscht kein Mensch mehr. Pandemiemüdigkeit. Damals trugen wir noch keine Masken, konnten uns nicht mal vorstellen, mit den unbequemen Lappen vor dem Gesicht herumzulaufen. Die ersten Hamsterkäufer räumten die Klopapierregale leer, als könnten sie mit den weißen Rollen ihr Leben retten. Darüber lächeln wir heute. Wir haben viele neue Wörter gelernt, hören Podcasts, sind wahre Impfstoffspezialisten, kennen mindestens fünf bekannte Virologen und sehen zu, wie die Menschheit in immer mehr kleine Gruppen zerfällt. Und jede hat ihr eigenes Kürzel und wehe, man nimmt ihr was weg. Ich sehne mich zurück nach der Zeit, als das wichtig war, was wir gemeinsam hatten, und nicht das, was uns trennt und unterscheidet.

Gerade stehen wir vor der dritten Welle und schauen mit bangem Blick auf Ostern. Heute denken wir in Millionen. Weltweit gibt es 119.187.414 (bekannte) Fälle (ohne Dunkelziffer), 67.491.954 Menschen sind genesen (was immer das bedeutet, das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht sichtbar), 2.641.707 sind gestorben. Zum Glück gibt es in Deutschland bereits drei zugelassene Impfstoffe (in einigen anderen Ländern sind es noch mehr), auch wenn die Impfungen nur sehr schleppend voranschreiten und sich bei einem der Impfstoffe die Probleme häufen. Gerade heute wurde wieder ein Lieferengpass verkündet. Wir kommen nicht weiter mit den Schutzimpfungen. Deutsche Gründlichkeit und suboptimales Krisenmanagement sind keine gute Kombination. Die Impfstoffe sind zwar ein Hoffnungsschimmer und eine wahre medizinische Hochleistung, aber leider gibt es auch bereits mehrere gefährliche und hochansteckende Virusmutationen aus Südafrika, Brasilien und aus dem Vereinigten Königreich. Sie sind längst auch schon bei uns. Besonders B 1.1.7, momentan ist sie bereits für 50% der Fälle verantwortlich.

Masked  (Engin Akyurt/unsplash)

Letzten März wußten wir noch sehr wenig über dieses Virus und seine Tücken. Dass es so viele Bereiche unseres Körpers schädigen kann, uns (oft leider nicht nur vorübergehend) komplett die Sinne rauben kann, dass selbst milde Verläufe üble Folgen haben können, manchmal erst Monate später, und dass Genesene eher Überlebende sind. Das wirtschaftliche Ausmaß dieser Katastrophe ist noch gar nicht absehbar. Heute wissen viele von uns, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr riechen und schmecken zu können. Wochenlang. Wochen voller Unsicherheit und Angst. Und wie es sich anfühlt, auch nach Monaten noch urplötzlich in eiskalten Schweiß gebadet dazustehen, ohne dass einem warm ist oder man Stress hat, einfach so. Dass einem büschelweise die Haare ausfallen. Das Herz rast wie ein Rennpferd. Wie es sich anfühlt, tagelang so schmerzende Fingergelenke zu habe, dass man keinen Stift mehr halten kann, oder sich so matt und kraftlos zu fühlen, dass man nur noch liegen und vor sich hindämmern kann. Wie bei Jetlag (das verstehen die meisten), nur schlimmer. „Dann mußt man sich eben zwingen!“ oder „Du musst dich zusammenreißen“ sind gut gemeinte Sätze, helfen aber nicht. Hier stellt sich keiner an, das ist traurige, kräfteraubende Realität.

Eine derartige Losigkeit kannte man bisher höchstens bei Depressionen. Kraftlos, motivationslos, zuweilen hoffnungslos. Hört das denn nie auf? Auch nach einem Jahr nicht? Heute gibt es so viele Long Haulers, heute gibt es Long Covid, Post Covid, Chronic Fatigue. Es gibt Brain Fog (Nebel im Kopf), jähe neurologische Aussetzer, bei denen man voll Schrecken seine eigene Adresse nicht mehr weiß, sich in Wörtern verheddert oder sie nicht mehr findet und sich nicht mehr konzentrieren kann. Tage, an denen man in der Küche oder im Keller steht und nicht weiß, warum. Vor Verwirrung und Schrecken zu weinen beginnt. Das passiert auch jungen Menschen, ganz ohne Altersdemenz.

Es gibt großartige Gruppen wie „AbScent“ (ein englischsprachiges Forum), die sich mit den Folgen von Anosmie, Parosmie und Phantosmie beschäftigen, in denen die Betroffenen Halt und Trost finden. In denen sie aufgefangen und verstanden werden. Mit Nichtbetroffenen können sie sich über ihren Kummer kaum unterhalten. Die Reaktionen sind allzu oft unsensibel und verletzend. „Sei froh, dass du nur einen milden Verlauf hattest.“ Ja, ist man, aber man leidet trotzdem an Folgeerscheinungen. Oft sind sie so schlimm, dass man nicht mehr arbeiten kann. Nicht mehr Sport treiben kann. „Nichts riechen? Das hab ich nach jedem Schnupfen.“ Sie wissen nicht, wovon sie reden. „Du kannst nichts mehr schmecken? Das könnte ich auch mal brauchen, dann würde ich wenigstens ein paar Kilo abnehmen.“ Und dabei lachen sie. „Es wird meiner Meinung nach sowieso viel zu viel Tamtam um das Ganze gemacht.“ Was sie nicht wissen: Den Zustand wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.

apple (iamcristian/unsplash)

apple (iamcristian/unsplash)

In Selbsthilfeforen teilen Betroffene ihre großen und kleinen täglichen Erfolge: „Heute zum ersten Mal nach vier Monaten wieder Kaffee geschmeckt, ohne zu würgen!“ „Ich bin so froh, endlich kann ich wieder Bananen essen!“ Oder die Trauer darüber, was alles nicht mehr geht. „Jetzt hab ich auch noch Äpfel verloren.“ „Ich kann nicht aufhören zu weinen, alles stinkt nach Covid.“ „Covid“ riecht extrem scheußlich, chemisch, eklig. Und die anderen Fehlgerüche und Halluzinationen. Es gibt Betroffene, die sich beim Versuch zu essen regelmäßig übergeben, die nur noch Nahrung zu sich nehmen können, wenn sie sich eine Klammer auf die Nase setzen, wie Taucher sie benutzen, weil sie sich sonst ekeln, weil alles nach Jauche oder faulig riecht. Ranzig und verdorben schmeckt. So viele Menschen entwickeln gerade Essstörungen, Depressionen, Ängste. Wenn alles nur noch nach Zigaretten, Aas oder Gas riecht, auch die eigenen Kinder, Partner oder Haustiere, das eigene Haus und überhaupt die ganze Welt, dann sehnen sich einige sogar zurück in den Zustand des Gar-nichts-Riechens, auch wenn der Zustand ein Alptraum war, weil man sich in so einer leeren Welt nur schlecht zurechtfinden kann. Besonders Verzweifelte überlegen sogar, ob sie sich den Riechkolben operativ entfernen lassen sollen und lieber für immer ohne Geruchssinn bleiben, nur damit die scheußlichen Halluzinationen aufhören. „Ich ertrage das einfach nicht mehr.“ Die Menschen im Forum verstehen das. Die anderen nicht. Sie können es sich nicht vorstellen. „Jammern auf hohem Niveau. Seid froh, dass ihr nicht im Krankenhaus wart und beatmet werden musstet.“ Es stimmt. Und wir sind auch dankbar. Und fühlen uns schlecht und schuldig, weil wir klagen. Doch wenn die Welt stinkt und einem die Gelenke weh tun, wird man jammerig. Überlebensschuld haben wir sowieso. Warum tötet das Virus so viele und verschont andere? Es ist alles so willkürlich.

Lavendel (elly johnson/unsplash)

In Brasilien explodieren wieder die Fallzahlen, kein Wunder bei dem Präsidenten, Italien steht erneut vor einer Katastrophe. Irgendwie haben wir das Jahr überlebt, haben versucht, uns so gut es geht zu schützen, haben erfahren, wie schlimm es ist, voneinander getrennt zu sein.  Für viele lange Monate. Haben uns damit abgefunden, einander über ein Jahr nicht mehr „richtig“ zu sehen oder in den Arm nehmen zu können (wie gut, dass es Zoom und Skype und WhatsApp gibt). Wir entwickeln mitunter merkwürdige Störungen, werden zunehmend eigenbrötlerischer. Vereinzeln und verlernen das Lächeln. Man sieht den Mund ja eh nicht mehr. Schrecken zusammen, wenn wir Filme sehen, in denen Menschen in großen Gruppen auftreten. (Oh Gott, die halten ja gar keinen Abstand! Und keine Masken!) Ich erschrecke selbst im Traum, wenn jemand mir zu nahe kommt. Obwohl ich weiß, dass ich träume!

yellow flower (engin akyurt/unsplash)

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Wintergedanken und Zirbelkiefern

Red Barn (Simone Garland)

Bevor er sich am 20. März endgültig verabschiedet, auch wenn uns natürlich die berüchtigten Eisheiligen (Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie im Mai, „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis Sophie vorüber ist!“) noch bevorstehen, möchte ich den Winter noch einmal richtig würdigen  Jetzt, wo ich nach so vielen Wochen ohne meine feine Nase meine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander habe, kann ich ihn endlich (fast) wie sonst genießen.

Draußen verausgaben sich schon seit einiger Zeit die ersten duftenden Winterblüher, die pfeffrig-zitronige Zaubernuss mit den schmalen, filigranen schwefelgelben Blütenstreifen, die sie bei Frost einfach nach innen einrollt, und der intensiv nach Maiglöckchen duftende Geißblattstrauch. Seine Blüten sind weiß und klein mit einer puscheligen Mitte und haben es echt in sich. Und hinten im Garten kann man Schneeglöckchen, Krokusse und die gelben Winterlinge bewundern. Gleich vier Amselmännchen zanken sich derzeit um unseren Garten, dabei ist Platz genug für mindestens zwei Paare. Aber davon wollen sie nichts hören. Das Weibchen sitzt entspannt im Apfelbaum und beobachtet den ganzen Stress. Ihr ist offenbar egal, wer gewinnt.

Schneebäume (Simone Garland)

Den Duft von Nadelbäumen kann ich inzwischen zu meiner Freude auch wieder wahrnehmen. Ich fand es traurig, im Dezember im „sterilen“ Weihnachtszimmer zu sitzen ohne den vertrauten Adventskranz-, Tannen- und Kerzengeruch. Erst kurz vor dem Abschmücken (am Dreikönigstag) kehrte die „Weihnachtsbaum-Melange“ zurück, gerade noch rechtzeitig, und ich war so glücklich, dass ich hätte weinen mögen. Am selben Tag roch ich auch zum ersten Mal nach langer Zeit wieder deutlich das Katzenfutter von Alice. Ich hatte es ausnahmsweise neben den Weihnachtsbaum gestellt, weil ich es ja eh nicht riechen konnte. Plötzlich waren beide Gerüche wieder da. Eine höchst merkwürdige Mischung. Der Baum roch nach trockenen Nordmann-Nadeln, das Futter genauso unappetitlich wie immer (ein bisschen wie der Abfluss in der Küchenspüle), aber Alice und ich waren glücklich, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

Bisher bin ich von den schrecklichen Parosmien, unter denen so viele von uns nach einem „milden Verlauf“ monatelang leiden, noch verschont geblieben und hoffe inständig, dass es so bleibt. Nur manchmal schleicht sich ein feiner, stechender Gas- oder auch ein weit entfernter leichter Rauchgeruch ein, aber bei beiden weiß ich, dass es Phantosmien sind, Geruchshalluzinationen. Manches riecht auch noch „falsch“ oder merkwürdig, etwa die lila Hyazinthe, die eine Weile im Flur stand. Normalerweise duftet sie am Anfang geradezu betäubend (zum Schluß stinkt sie so, dass ich sie nach draußen verbanne), aber diesmal roch sie die ganze Zeit gleich. Sehr unangenehm. Nach Gas. Auch die Winterblüher duften nicht „normal“, schwächer als sonst, ich muss ganz nah herangehen, um sie überhaupt zu bemerken. Aber die Tage roch ich an der Bahnhaltestelle eine Zigarette, die mindestens zehn Meter entfernt war. Zuerst hatte ich sie nicht gesehen und seufzte innerlich. War das eine Phantosmie? Dann hob die Dame die Hand, und ich sah die Zigarette. Das macht mir Hoffnung. Beim endlich wieder erlaubten Friseurbesuch identifizierte ich sogar das Parfum der Dame, die vor mir auf dem Stuhl gesessen hatte. Selten hat mich der Satz: „Sie haben aber eine empfindliche Nase!“ so gefreut.

Snow Road (Simone Garland)

Mein tägliches „Riechtraining“ habe ich inzwischen um etliche weitere braune Fläschchen mit ätherischen Ölen erweitert und dabei als unerwartetes Geschenk den Wohlgeruch der Zirbelkiefer neu entdeckt. Schon beim ersten Atemzug stiegen ferne Erinnerungen an Südtirol auf, an die besonderen „Stuben“ (waren die Möbel dort aus Zirbelholz?) und auch an Überbachers große Schnitzwerkstatt und den kleineren Raum, in dem der Herrgottschnitzer saß. Ich finde den Zirbenduft so angenehm, dass ich mich am liebsten vorübergehend in einen Flaschengeist verwandeln und darin baden würde.

Beim Einschlafen stelle ich mir jetzt manchmal vor, ich läge in einem Zirbelkieferwald im Gebirge. In der Ferne sehe ich hohe, schroffe Dolomitenfelsen. Offenbar geht es anderen ähnlich. Zirbenduft wirkt anscheinend entspannend und hilft beim Einschlafen. Es gibt sogar besondere Schlafkissen, die mit frischen Zirbenspänen gefüllt sind. Eins habe ich mir jetzt bestellt. Aus Tirol. Ich kann im Moment einfach nicht genug bekommen von diesem Holzgeruch. Sehr ernüchternd dagegen ist das Fläschchen mit „Lindenblütenduft“. Es stinkt nach altem, staubigem, trockenem Stroh. Dabei hatte ich solche Sehnsucht nach den sommerlichen honigsüßen Lindenblüten. Hoffentlich stinken die großen alten Bäume an der Kirche im Sommer nicht auch nach Stroh.

Far Away (Simone Garland)

Mein Fläschchen mit Fichtennadelextrakt dagegen versetzt mich gleich in weit entfernte samstägliche Zeiten. So rochen die krümeligen grünen Badetabletten bei uns zu Hause. Der Zedernduft in der dritten „Waldflasche“ war zunächst ausgesprochen unangenehm und erinnerte mich nur an eklige Mottenkugeln, doch inzwischen hat sich das gelegt und die Holznote ist deutlich erkennbar. Motten scheinen Zedern auch nicht zu mögen, denn in den USA hängt man nicht von ungefähr Zedernholz als Mottenschreck in die Kleiderschränke. Bei uns waren es früher Lavendelsäckchen. Ob das heute noch jemand macht? Ich habe auch eine kleine Flasche mit Lavendelduft. Der erinnert mich an meine Tanten und ihr „Uralt-Lavendel“. Gab es damals nicht auch „Tosca“? (Der Duft für die gepflegte Frau ab 50!) Ich mochte den Geruch nicht. Die Flakons verschenkte man, wenn einem sonst nichts einfiel für die weibliche Verwandtschaft, hab ich auch schon ewig nicht mehr gerochen! Ob es „Tosca“ noch gibt? Es war schon damals ein „klassischer Duft“, vielleicht aus den 1920er Jahren?

Hier in Köln waren die letzten Monate mild, wieder so ein warmer Winter, wie wir sie seit einiger Zeit gewöhnt sind. Ich habe unsere Kübelpflanzen im Garten diesmal gar nicht erst eingepackt und abgedeckt, nur die besonders empfindlichen in die Garage geräumt. Temperaturmäßig gab es nur äußerst wenige eisige Ausreißer, alle erst in diesem Jahr. Wir haben erst zweimal das Wasser nach draußen abgestellt. Das letzte Mal vorige Woche, da war es nachts einmal -6 Grad.

Winter Birds (Simone Garland)

Wie in den letzten Jahren habe ich mir bei meiner Freundin Simone Garland einige ihrer schönen Schneefotos ausgeliehen, denn bei ihr in Kanada kann man die weiße Pracht noch so richtig bewundern. Die Bilder passen perfekt zu meiner ewigen Schnee-Sehnsucht und den Wintererinnerungen aus meiner Kindheit. Wenn ich die weiße Weite betrachte, kann ich all die engen Lockdown-Gefühle ablegen, mich in meinen imaginären dicken Wintermantel kuscheln, die weichen Fäustlinge zurechtzupfen, tief Luft holen, durch den tiefen Schnee stapfen und mir genüßlich die kalten Flocken auf der Zunge zergehen lassen. Jede sieht anders aus, und alle sind sie wunderschöne kleine Kunstwerke. Flockdown statt Lockdown.

Simone hat mir berichtet, dass der jetzige Winter auch in Kanada etwas wärmer und schneeärmer ist als sonst und dass man die Covered Bridges (wie die auf dem nächsten Foto) auch Kissing Bridges nennt (weil sich Verliebte dort so gut heimlich küssen können). In Ontario gibt es nur noch drei dieser Brücken, die abgebildete befindet sich bei West Montrose in der Nähe von St. Jacob’s. Sie ist mit dergleichen Farbe gestrichen wie die Scheune. Barn Red. Scheunenrot. Ich habe mir vor Jahren mal ein kleines Tütchen „Old Fashioned American Milk Paint“ mit Pulver in Barn Red zugelegt, es reicht bestimmt für ein großes Maushaus. Ich muss nur noch den kleinen Karton mit den Milk Paint-Tütchen finden.

Covered Bridge (Simone Garland)

Wie gern würde ich (natürlich am liebsten mit meinem Knuffelkontakt) mal selbst über so eine überdachte lange Brücke gehen! Sie erinnert mich sofort an den Film mit Clint Eastwood und Meryl Streep „Die Brücken am Fluß“ („The Bridges of Madison County“). Die Szene, in der er traurig im Regen auf der Straße steht und Abschied nimmt, werde ich nie vergessen.

Schnee gab es hier bei uns nur ein paar Tage lang. Wie „märchenhaft“ sieht es dagegen auf Simones Winterbildern aus. Sogar die Wasserfälle verwandeln sich in gefrorene Wunderwerke der Natur.  Mir fällt wieder einmal auf, wie schön Rot und Orange mit Weiß harmonieren. Das Weiß bringt sie richtig zum Leuchten. In der kalten Jahreszeit gehören sie eindeutig zu meinen Lieblingsfarben. Wie lange habe ich schon nicht mehr das beruhigende Tropfen von langen Eiszapfen gehört? Das muss mehrere Jahrzehnte her sein. Ach, ich liebe Simones schneebeladene stille Winterfotos. Die erstarrten Wasserfälle. Die spitzen Eiszapfen. Die einsame Scheune. Und den Duft von Zirbelkiefern!

Frozen Falls (Simone Garland)

 

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World Book Day!

Wie immer herrscht großer Andrang vor dem Buchladen (BFL)

Gestern war World Book Day, und wie es sich für Buchfans gehört, haben wir alle sehr viel gelesen, auch die Kleinsten, denn wir haben auch eine Menge Bilderbücher. Im Mausland ist der Buchladen zum Glück immer offen. Auch nachts.

Im Mouse Tales Bookshop (BFL)

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Welche Hautfarbe hat ein Gedicht?

Übersetzungsassistent (BFL)

Gestern las ich im „Guardian“, dass die junge niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld (immerhin Gewinnerin des Man Booker Prize) die Poetin Amanda Gorman nicht mehr ins Niederländische übersetzt. Rijneveld ist von ihrem Vertrag bei Meulenhoff zurückgetreten. Nicht weil die Übersetzung nicht gut wäre, sondern weil die Farbe nicht stimmt. Für schwarze Dichter kommen momentan offenbar nur noch schwarze Übersetzer in Frage. Bei Schauspielern und Synchronsprechern (bitte im ganzen Text an den passenden Stellen Gender*, Binnen-I,  Gender_ mitdenken) kennt man das ja schon. Der Farbzwang gilt inzwischen gar für die Sprecher von Comic Figuren, wobei mein Liebling Donald Duck bisher noch kein Problem hat. Aber der ist ja auch weiß. Anders als Alladins Flaschengeist. Der ist blau. Und hat eine Menge Probleme.

Kann man Hautfarben tatsächlich lesen und hören oder ist das jetzt eine neue Art von Rassismus?

Treiben wir es mal kurz auf die Spitze. Was mache ich, wenn im zu übersetzenden Roman Persons of Color vorkommen? Das Problem hatte ich bei John Balls Romanen, etwa „In der Hitze der Nacht“. Muss man die schwarzen Textstellen von farblich passenden Übersetzern übertragen lassen? Hätte ich dem berühmten Virgil Tibbs meine Stimme gar nicht leihen dürfen? Noch dazu als Frau? Noch grundsätzlicher: Darf ein weibliches Wesen (jetzt mal ohne Farbproblem) überhaupt noch die Werke eines männlichen Wesens übersetzen (und umgekehrt)? Zudem gibt es ja bekanntlich immer mehr Geschlechter. Brauchen die alle genau die richtige übersetzerische Entsprechung?

Darf oder soll Marieke Lucas Rijneveld das Buch auch nicht übersetzen, weil sie/er sich als „nichtbinär“ versteht? (Das musste ich auch erst googeln. Jetzt weiß ich zwar, was es bedeutet, aber nicht, wie ich damit grammatikalisch umgehen soll.) Wie Amanda Gorman sich versteht, habe ich nicht herausgefunden. Wohl nicht als „nichtbinär“, sonst wäre das ja kein Thema.

Translation with Witch (BFL)

Es wird immer schlimmer. Schon jetzt bekommt man als Schriftsteller langsam Angst, seiner Fantasie freien Lauf lassen. Möglichst keine Romanfiguren mehr erfinden, die nicht wie man selbst sind. Möglichst die eigene Perspektive verwenden. Darf man überhaupt noch als Frau aus der Perspektive eines Mannes schreiben? Als Erwachsene aus der Kinderperspektive? Oder gar aus der eines japanischen Jungen? Darf man eine schwarze Romanfigur erfinden, wenn man selbst weiß ist? Ist das nicht bereits „kulturelle Aneignung“? Kreisen wir bald nur noch trist und öde um uns selbst (natürlich unter genauer Abbildung der Gesellschaft, die uns umgibt, also mit allen nur denkbaren Ethnien und sexuellen Identitäten, um nur ja niemanden auszulassen oder vor den Kopf zu stoßen)? Werden Fantasie und Sprache immer mehr zensiert? Bekommen Journalisten und Schriftsteller immer dickere Maulkörbe?

Vor einigen Jahren hatte ich eine Lesung (nur für Frauen)  in einem Frauenbuchladen, in dem nur Bücher von Frauen verkauft wurden. Die meisten Anwesenden lasen ausschließlich Bücher von Frauen, wie sich bei der anschließenden Diskussion herausstellte. Ich dachte an die Bronte-Schwestern, die sich Männernamen zulegen mussten, damit sie überhaupt eine Chance hatten. Auch J.K. Rowling hat nicht von ungefähr das Pseudonym Robert Galbraith. Es ist noch nicht lange her, da durften Frauen nicht mal Zeitung lesen. Zu viel Lektüre macht unfruchtbar, steht im alten Medizinbuch meiner Mutter. Das fand ich schon als Kind zum Lachen.

Trans late (geralt/pixabay)

„I had happily devoted myself to translating Amanda’s work, seeking it as the greatest task to keep her strength, tone and style“, schreibt Marieke Lucas Rijneveld, die/der mit Gormans befreundet ist und ebenfalls schon früh berühmt war. Die beiden haben also (außer der Hautfarbe) einiges gemeinsam. Die amerikanische Dichterin hat sich ihren translator wohlgemerkt selbst ausgesucht, doch leider passt sie/er einigen farblich nicht ins Konzept.

WER entscheidet das? WER bestimmt, was erlaubt oder erwünscht oder politically correct ist? Der Schriftsteller offenbar nicht, auch nicht der Verlag. Im niederländischen Fall wurde die Debatte von der schwarzen Journalistin und Aktivistin Janice Deul losgetreten. Sie begründet ihre Kritik damit, dass Rijneveld „white“ und „nonbinary“ sei und „no experience in this field“ habe (damit meint sie offenbar den dramatischen Spoken Word Stil). Nur gut, dass sehr viele Menschen auf Twitter diesen Standpunkt ganz und gar nicht teilen.

Translation has no skin colour. 

Übersetzer waren schon immer eine besondere Spezies. Anders als Schriftsteller stehen sie selten im Focus. Aber sie sind ebenso wichtig, denn ohne sie gäbe es keine Weltliteratur. Übersetzer reißen Grenzen ein, überwinden Mauern, öffnen Türen, Herzen und Köpfe.

Wie steht es in Amanda Gormans Gedicht: „To compose a country commited to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Hat Janice Deul diese Stelle überlesen? Vielleicht sollte sie selbst versuchen, das Gedicht zu übersetzen? Sie würde schnell merken, dass man durch die „richtige“ Hautfarbe und Geschlechtsidentität nicht automatisch ein guter Übersetzer oder Lyriker ist.

Gerade höre ich eine andere Stimme in meinem Kopf: „I have a dream that one day my four little children will live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character. I have a dream today.“ Ist dieser Traum schon ausgeträumt?

Literaturübersetzer sind Fährleute, die seit Jahrtausenden kundig und gewandt die weiten, ruhigen und gefährlichen Sprachmeere dieser Welt befahren (einige haben dafür mit dem Leben bezahlt, etwa die Übersetzer von Salman Rushdie), überqueren ruhige und reißende Textflüsse, verbinden freundliche und feindliche Ufer, bauen kühne und kunstvolle Brücken, bringen neues Verständnis und frische Klarheit. Übersetzer vermitteln zwischen Gegensätzen und überwinden Zeit und Raum. Sie bewegen sich frei und demütig in fremden Köpfen und Kulturen, sind unsichtbare Gestaltenwandler. Sie leihen Schriftstellern ihre Stimme, damit sie überall auf der Welt gehört und verstanden werden können.

Nun ist Marieke Lucas Rijneveld gar kein translator, sondern ein writer (wie angenehm neutral doch englische Substantive sind). Möglicherweise wäre Rijneveld gerade deshalb genau richtig gewesen für dieses Buch. Um Lyrik übersetzen zu können, muss man nämlich vor allem hervorragend schreiben können, und wenn man  mit der Autorin befreundet ist, kann man sie im Zweifelsfall immer gleich fragen. Ideal für Übersetzer! Gedichte sicher wohlklingend ans andere Ufer zu bringen, ist übrigens äußerst schwer – wie mißglückt sind fast alle deutschen Gedichte von T.S. Eliot. Lyrik muss man „nachempfinden“, „nachfühlen“, „nachspüren. Das kann man am besten, wenn man selbst schreibt.  Wie wunderbar lesen sich die Übersetzungen von Paul Celan oder von Erich Fried (er hat sich sogar an den wortgewaltigen Dylan Thomas gewagt). Doch offenbar braucht man heute zum Übersetzen nicht nur Leidenschaft, Wissen, Können und Sprachgefühl, sondern auch noch die passende Hautfarbe und Geschlechtsidentität.

The Hill we Climb. Der Weg ist weit, der Aufstieg beschwerlich. Man fragt sich, ob man den Gipfel mit derartigen Abgründen und Hindernissen überhaupt erreichen kann.

Dictionaries (Tessakay/pixabay)

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