Wintergedanken und Zirbelkiefern

Red Barn (Simone Garland)

Bevor er sich am 20. März endgültig verabschiedet, auch wenn uns natürlich die berüchtigten Eisheiligen (Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie im Mai, „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis Sophie vorüber ist!“) noch bevorstehen, möchte ich den Winter noch einmal richtig würdigen  Jetzt, wo ich nach so vielen Wochen ohne meine feine Nase meine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander habe, kann ich ihn endlich (fast) wie sonst genießen.

Draußen verausgaben sich schon seit einiger Zeit die ersten duftenden Winterblüher, die pfeffrig-zitronige Zaubernuss mit den schmalen, filigranen schwefelgelben Blütenstreifen, die sie bei Frost einfach nach innen einrollt, und der intensiv nach Maiglöckchen duftende Geißblattstrauch. Seine Blüten sind weiß und klein mit einer puscheligen Mitte und haben es echt in sich. Und hinten im Garten kann man Schneeglöckchen, Krokusse und die gelben Winterlinge bewundern. Gleich vier Amselmännchen zanken sich derzeit um unseren Garten, dabei ist Platz genug für mindestens zwei Paare. Aber davon wollen sie nichts hören. Das Weibchen sitzt entspannt im Apfelbaum und beobachtet den ganzen Stress. Ihr ist offenbar egal, wer gewinnt.

Schneebäume (Simone Garland)

Den Duft von Nadelbäumen kann ich inzwischen zu meiner Freude auch wieder wahrnehmen. Ich fand es traurig, im Dezember im „sterilen“ Weihnachtszimmer zu sitzen ohne den vertrauten Adventskranz-, Tannen- und Kerzengeruch. Erst kurz vor dem Abschmücken (am Dreikönigstag) kehrte die „Weihnachtsbaum-Melange“ zurück, gerade noch rechtzeitig, und ich war so glücklich, dass ich hätte weinen mögen. Am selben Tag roch ich auch zum ersten Mal nach langer Zeit wieder deutlich das Katzenfutter von Alice. Ich hatte es ausnahmsweise neben den Weihnachtsbaum gestellt, weil ich es ja eh nicht riechen konnte. Plötzlich waren beide Gerüche wieder da. Eine höchst merkwürdige Mischung. Der Baum roch nach trockenen Nordmann-Nadeln, das Futter genauso unappetitlich wie immer (ein bisschen wie der Abfluss in der Küchenspüle), aber Alice und ich waren glücklich, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

Bisher bin ich von den schrecklichen Parosmien, unter denen so viele von uns nach einem „milden Verlauf“ monatelang leiden, noch verschont geblieben und hoffe inständig, dass es so bleibt. Nur manchmal schleicht sich ein feiner, stechender Gas- oder auch ein weit entfernter leichter Rauchgeruch ein, aber bei beiden weiß ich, dass es Phantosmien sind, Geruchshalluzinationen. Manches riecht auch noch „falsch“ oder merkwürdig, etwa die lila Hyazinthe, die eine Weile im Flur stand. Normalerweise duftet sie am Anfang geradezu betäubend (zum Schluß stinkt sie so, dass ich sie nach draußen verbanne), aber diesmal roch sie die ganze Zeit gleich. Sehr unangenehm. Nach Gas. Auch die Winterblüher duften nicht „normal“, schwächer als sonst, ich muss ganz nah herangehen, um sie überhaupt zu bemerken. Aber die Tage roch ich an der Bahnhaltestelle eine Zigarette, die mindestens zehn Meter entfernt war. Zuerst hatte ich sie nicht gesehen und seufzte innerlich. War das eine Phantosmie? Dann hob die Dame die Hand, und ich sah die Zigarette. Das macht mir Hoffnung. Beim endlich wieder erlaubten Friseurbesuch identifizierte ich sogar das Parfum der Dame, die vor mir auf dem Stuhl gesessen hatte. Selten hat mich der Satz: „Sie haben aber eine empfindliche Nase!“ so gefreut.

Snow Road (Simone Garland)

Mein tägliches „Riechtraining“ habe ich inzwischen um etliche weitere braune Fläschchen mit ätherischen Ölen erweitert und dabei als unerwartetes Geschenk den Wohlgeruch der Zirbelkiefer neu entdeckt. Schon beim ersten Atemzug stiegen ferne Erinnerungen an Südtirol auf, an die besonderen „Stuben“ (waren die Möbel dort aus Zirbelholz?) und auch an Überbachers große Schnitzwerkstatt und den kleineren Raum, in dem der Herrgottschnitzer saß. Ich finde den Zirbenduft so angenehm, dass ich mich am liebsten vorübergehend in einen Flaschengeist verwandeln und darin baden würde.

Beim Einschlafen stelle ich mir jetzt manchmal vor, ich läge in einem Zirbelkieferwald im Gebirge. In der Ferne sehe ich hohe, schroffe Dolomitenfelsen. Offenbar geht es anderen ähnlich. Zirbenduft wirkt anscheinend entspannend und hilft beim Einschlafen. Es gibt sogar besondere Schlafkissen, die mit frischen Zirbenspänen gefüllt sind. Eins habe ich mir jetzt bestellt. Aus Tirol. Ich kann im Moment einfach nicht genug bekommen von diesem Holzgeruch. Sehr ernüchternd dagegen ist das Fläschchen mit „Lindenblütenduft“. Es stinkt nach altem, staubigem, trockenem Stroh. Dabei hatte ich solche Sehnsucht nach den sommerlichen honigsüßen Lindenblüten. Hoffentlich stinken die großen alten Bäume an der Kirche im Sommer nicht auch nach Stroh.

Far Away (Simone Garland)

Mein Fläschchen mit Fichtennadelextrakt dagegen versetzt mich gleich in weit entfernte samstägliche Zeiten. So rochen die krümeligen grünen Badetabletten bei uns zu Hause. Der Zedernduft in der dritten „Waldflasche“ war zunächst ausgesprochen unangenehm und erinnerte mich nur an eklige Mottenkugeln, doch inzwischen hat sich das gelegt und die Holznote ist deutlich erkennbar. Motten scheinen Zedern auch nicht zu mögen, denn in den USA hängt man nicht von ungefähr Zedernholz als Mottenschreck in die Kleiderschränke. Bei uns waren es früher Lavendelsäckchen. Ob das heute noch jemand macht? Ich habe auch eine kleine Flasche mit Lavendelduft. Der erinnert mich an meine Tanten und ihr „Uralt-Lavendel“. Gab es damals nicht auch „Tosca“? (Der Duft für die gepflegte Frau ab 50!) Ich mochte den Geruch nicht. Die Flakons verschenkte man, wenn einem sonst nichts einfiel für die weibliche Verwandtschaft, hab ich auch schon ewig nicht mehr gerochen! Ob es „Tosca“ noch gibt? Es war schon damals ein „klassischer Duft“, vielleicht aus den 1920er Jahren?

Hier in Köln waren die letzten Monate mild, wieder so ein warmer Winter, wie wir sie seit einiger Zeit gewöhnt sind. Ich habe unsere Kübelpflanzen im Garten diesmal gar nicht erst eingepackt und abgedeckt, nur die besonders empfindlichen in die Garage geräumt. Temperaturmäßig gab es nur äußerst wenige eisige Ausreißer, alle erst in diesem Jahr. Wir haben erst zweimal das Wasser nach draußen abgestellt. Das letzte Mal vorige Woche, da war es nachts einmal -6 Grad.

Winter Birds (Simone Garland)

Wie in den letzten Jahren habe ich mir bei meiner Freundin Simone Garland einige ihrer schönen Schneefotos ausgeliehen, denn bei ihr in Kanada kann man die weiße Pracht noch so richtig bewundern. Die Bilder passen perfekt zu meiner ewigen Schnee-Sehnsucht und den Wintererinnerungen aus meiner Kindheit. Wenn ich die weiße Weite betrachte, kann ich all die engen Lockdown-Gefühle ablegen, mich in meinen imaginären dicken Wintermantel kuscheln, die weichen Fäustlinge zurechtzupfen, tief Luft holen, durch den tiefen Schnee stapfen und mir genüßlich die kalten Flocken auf der Zunge zergehen lassen. Jede sieht anders aus, und alle sind sie wunderschöne kleine Kunstwerke. Flockdown statt Lockdown.

Simone hat mir berichtet, dass der jetzige Winter auch in Kanada etwas wärmer und schneeärmer ist als sonst und dass man die Covered Bridges (wie die auf dem nächsten Foto) auch Kissing Bridges nennt (weil sich Verliebte dort so gut heimlich küssen können). In Ontario gibt es nur noch drei dieser Brücken, die abgebildete befindet sich bei West Montrose in der Nähe von St. Jacob’s. Sie ist mit dergleichen Farbe gestrichen wie die Scheune. Barn Red. Scheunenrot. Ich habe mir vor Jahren mal ein kleines Tütchen „Old Fashioned American Milk Paint“ mit Pulver in Barn Red zugelegt, es reicht bestimmt für ein großes Maushaus. Ich muss nur noch den kleinen Karton mit den Milk Paint-Tütchen finden.

Covered Bridge (Simone Garland)

Wie gern würde ich (natürlich am liebsten mit meinem Knuffelkontakt) mal selbst über so eine überdachte lange Brücke gehen! Sie erinnert mich sofort an den Film mit Clint Eastwood und Meryl Streep „Die Brücken am Fluß“ („The Bridges of Madison County“). Die Szene, in der er traurig im Regen auf der Straße steht und Abschied nimmt, werde ich nie vergessen.

Schnee gab es hier bei uns nur ein paar Tage lang. Wie „märchenhaft“ sieht es dagegen auf Simones Winterbildern aus. Sogar die Wasserfälle verwandeln sich in gefrorene Wunderwerke der Natur.  Mir fällt wieder einmal auf, wie schön Rot und Orange mit Weiß harmonieren. Das Weiß bringt sie richtig zum Leuchten. In der kalten Jahreszeit gehören sie eindeutig zu meinen Lieblingsfarben. Wie lange habe ich schon nicht mehr das beruhigende Tropfen von langen Eiszapfen gehört? Das muss mehrere Jahrzehnte her sein. Ach, ich liebe Simones schneebeladene stille Winterfotos. Die erstarrten Wasserfälle. Die spitzen Eiszapfen. Die einsame Scheune. Und den Duft von Zirbelkiefern!

Frozen Falls (Simone Garland)

 

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World Book Day!

Wie immer herrscht großer Andrang vor dem Buchladen (BFL)

Gestern war World Book Day, und wie es sich für Buchfans gehört, haben wir alle sehr viel gelesen, auch die Kleinsten, denn wir haben auch eine Menge Bilderbücher. Im Mausland ist der Buchladen zum Glück immer offen. Auch nachts.

Im Mouse Tales Bookshop (BFL)

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Welche Hautfarbe hat ein Gedicht?

Übersetzungsassistent (BFL)

Gestern las ich im „Guardian“, dass die junge niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld (immerhin Gewinnerin des Man Booker Prize) die Poetin Amanda Gorman nicht mehr ins Niederländische übersetzt. Rijneveld ist von ihrem Vertrag bei Meulenhoff zurückgetreten. Nicht weil die Übersetzung nicht gut wäre, sondern weil die Farbe nicht stimmt. Für schwarze Dichter kommen momentan offenbar nur noch schwarze Übersetzer in Frage. Bei Schauspielern und Synchronsprechern (bitte im ganzen Text an den passenden Stellen Gender*, Binnen-I,  Gender_ mitdenken) kennt man das ja schon. Der Farbzwang gilt inzwischen gar für die Sprecher von Comic Figuren, wobei mein Liebling Donald Duck bisher noch kein Problem hat. Aber der ist ja auch weiß. Anders als Alladins Flaschengeist. Der ist blau. Und hat eine Menge Probleme.

Kann man Hautfarben tatsächlich lesen und hören oder ist das jetzt eine neue Art von Rassismus?

Treiben wir es mal kurz auf die Spitze. Was mache ich, wenn im zu übersetzenden Roman Persons of Color vorkommen? Das Problem hatte ich bei John Balls Romanen, etwa „In der Hitze der Nacht“. Muss man die schwarzen Textstellen von farblich passenden Übersetzern übertragen lassen? Hätte ich dem berühmten Virgil Tibbs meine Stimme gar nicht leihen dürfen? Noch dazu als Frau? Noch grundsätzlicher: Darf ein weibliches Wesen (jetzt mal ohne Farbproblem) überhaupt noch die Werke eines männlichen Wesens übersetzen (und umgekehrt)? Zudem gibt es ja bekanntlich immer mehr Geschlechter. Brauchen die alle genau die richtige übersetzerische Entsprechung?

Darf oder soll Marieke Lucas Rijneveld das Buch auch nicht übersetzen, weil sie/er sich als „nichtbinär“ versteht? (Das musste ich auch erst googeln. Jetzt weiß ich zwar, was es bedeutet, aber nicht, wie ich damit grammatikalisch umgehen soll.) Wie Amanda Gorman sich versteht, habe ich nicht herausgefunden. Wohl nicht als „nichtbinär“, sonst wäre das ja kein Thema.

Translation with Witch (BFL)

Es wird immer schlimmer. Schon jetzt bekommt man als Schriftsteller langsam Angst, seiner Fantasie freien Lauf lassen. Möglichst keine Romanfiguren mehr erfinden, die nicht wie man selbst sind. Möglichst die eigene Perspektive verwenden. Darf man überhaupt noch als Frau aus der Perspektive eines Mannes schreiben? Als Erwachsene aus der Kinderperspektive? Oder gar aus der eines japanischen Jungen? Darf man eine schwarze Romanfigur erfinden, wenn man selbst weiß ist? Ist das nicht bereits „kulturelle Aneignung“? Kreisen wir bald nur noch trist und öde um uns selbst (natürlich unter genauer Abbildung der Gesellschaft, die uns umgibt, also mit allen nur denkbaren Ethnien und sexuellen Identitäten, um nur ja niemanden auszulassen oder vor den Kopf zu stoßen)? Werden Fantasie und Sprache immer mehr zensiert? Bekommen Journalisten und Schriftsteller immer dickere Maulkörbe?

Vor einigen Jahren hatte ich eine Lesung (nur für Frauen)  in einem Frauenbuchladen, in dem nur Bücher von Frauen verkauft wurden. Die meisten Anwesenden lasen ausschließlich Bücher von Frauen, wie sich bei der anschließenden Diskussion herausstellte. Ich dachte an die Bronte-Schwestern, die sich Männernamen zulegen mussten, damit sie überhaupt eine Chance hatten. Auch J.K. Rowling hat nicht von ungefähr das Pseudonym Robert Galbraith. Es ist noch nicht lange her, da durften Frauen nicht mal Zeitung lesen. Zu viel Lektüre macht unfruchtbar, steht im alten Medizinbuch meiner Mutter. Das fand ich schon als Kind zum Lachen.

Trans late (geralt/pixabay)

„I had happily devoted myself to translating Amanda’s work, seeking it as the greatest task to keep her strength, tone and style“, schreibt Marieke Lucas Rijneveld, die/der mit Gormans befreundet ist und ebenfalls schon früh berühmt war. Die beiden haben also (außer der Hautfarbe) einiges gemeinsam. Die amerikanische Dichterin hat sich ihren translator wohlgemerkt selbst ausgesucht, doch leider passt sie/er einigen farblich nicht ins Konzept.

WER entscheidet das? WER bestimmt, was erlaubt oder erwünscht oder politically correct ist? Der Schriftsteller offenbar nicht, auch nicht der Verlag. Im niederländischen Fall wurde die Debatte von der schwarzen Journalistin und Aktivistin Janice Deul losgetreten. Sie begründet ihre Kritik damit, dass Rijneveld „white“ und „nonbinary“ sei und „no experience in this field“ habe (damit meint sie offenbar den dramatischen Spoken Word Stil). Nur gut, dass sehr viele Menschen auf Twitter diesen Standpunkt ganz und gar nicht teilen.

Translation has no skin colour. 

Übersetzer waren schon immer eine besondere Spezies. Anders als Schriftsteller stehen sie selten im Focus. Aber sie sind ebenso wichtig, denn ohne sie gäbe es keine Weltliteratur. Übersetzer reißen Grenzen ein, überwinden Mauern, öffnen Türen, Herzen und Köpfe.

Wie steht es in Amanda Gormans Gedicht: „To compose a country commited to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Hat Janice Deul diese Stelle überlesen? Vielleicht sollte sie selbst versuchen, das Gedicht zu übersetzen? Sie würde schnell merken, dass man durch die „richtige“ Hautfarbe und Geschlechtsidentität nicht automatisch ein guter Übersetzer oder Lyriker ist.

Gerade höre ich eine andere Stimme in meinem Kopf: „I have a dream that one day my four little children will live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character. I have a dream today.“ Ist dieser Traum schon ausgeträumt?

Literaturübersetzer sind Fährleute, die seit Jahrtausenden kundig und gewandt die weiten, ruhigen und gefährlichen Sprachmeere dieser Welt befahren (einige haben dafür mit dem Leben bezahlt, etwa die Übersetzer von Salman Rushdie), überqueren ruhige und reißende Textflüsse, verbinden freundliche und feindliche Ufer, bauen kühne und kunstvolle Brücken, bringen neues Verständnis und frische Klarheit. Übersetzer vermitteln zwischen Gegensätzen und überwinden Zeit und Raum. Sie bewegen sich frei und demütig in fremden Köpfen und Kulturen, sind unsichtbare Gestaltenwandler. Sie leihen Schriftstellern ihre Stimme, damit sie überall auf der Welt gehört und verstanden werden können.

Nun ist Marieke Lucas Rijneveld gar kein translator, sondern ein writer (wie angenehm neutral doch englische Substantive sind). Möglicherweise wäre Rijneveld gerade deshalb genau richtig gewesen für dieses Buch. Um Lyrik übersetzen zu können, muss man nämlich vor allem hervorragend schreiben können, und wenn man  mit der Autorin befreundet ist, kann man sie im Zweifelsfall immer gleich fragen. Ideal für Übersetzer! Gedichte sicher wohlklingend ans andere Ufer zu bringen, ist übrigens äußerst schwer – wie mißglückt sind fast alle deutschen Gedichte von T.S. Eliot. Lyrik muss man „nachempfinden“, „nachfühlen“, „nachspüren. Das kann man am besten, wenn man selbst schreibt.  Wie wunderbar lesen sich die Übersetzungen von Paul Celan oder von Erich Fried (er hat sich sogar an den wortgewaltigen Dylan Thomas gewagt). Doch offenbar braucht man heute zum Übersetzen nicht nur Leidenschaft, Wissen, Können und Sprachgefühl, sondern auch noch die passende Hautfarbe und Geschlechtsidentität.

The Hill we Climb. Der Weg ist weit, der Aufstieg beschwerlich. Man fragt sich, ob man den Gipfel mit derartigen Abgründen und Hindernissen überhaupt erreichen kann.

Dictionaries (Tessakay/pixabay)

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Besuch in Mousetown!

Peter Kaninchen und Manon (BFL)

Letzten Mittwoch hatten die Mäuse zum ersten Mal in ihrem Leben journalistischen Besuch, was alle sehr freute. Das Wetter war so strahlend schön, dass ich etliche Häuser fürs Foto Shooting hinaus in den Garten tragen konnte, wobei ich fast jedes Mal trotz aller Vorsicht gegen irgendeinen Türrahmen oder irgendeine Wand stieß, weil ich ja hinter den meisten Häusern nichts sehen kann. Leider bringt jede unbedachte Bewegung das Mobiliar gleich in große Unordnung und versetzt die Bewohner in ziemliche Unruhe. Das große windschiefe Haus der norwegischen Hexenfamilie Jarlsberg kann man ohnehin nur zu zweit tragen, was die Sache deutlich erschwert. Zwei kostbare Hexenkessel und etliche Pilze, die ich im Hexengarten übersehen hatte, gingen beim Transport zu Bruch, auf zwei bin ich dann auch noch aus Versehen getreten. Die Kessel konnte ich wieder reparieren, aber die Pilze waren so winzig, dass nichts mehr zu machen war. Die Mäuse waren wie immer äußerst geduldig und nahmen mir meine Patzer nicht krumm. Die Pilze haben sie kurzentschlossen verspeist. Sie vertragen auch Giftpilze, denn unsere Maushexen haben einen hocheffizienten Zaubertrank gebraut, der immun gegen Gifte aller Art macht. Genau wie gegen Corona und andere üble Viren. Wir haben äußerst kundige Hexen.

Lupinchen liebt Fliegenpilze (BFL)

Alle Mäuse waren da, Miranda wartete schon vor dem kleinen blauen Käseladen, Chelsea brachte schnell noch eine Ladung Plätzchen und Kuchen in ihr Café „Chelsea’s Cherry on Top“, Cheddar und Mozzarrella sammelten ihre vielen Kinder ein, Dante rückte geduldig die Bücher in seinem Buchladen wieder zurecht, die beim ungeschickten Transport verrutscht waren, und die jüngsten Mauskinder bestaunten erst mal die neuen Produkte vor dem gut bestückten Pflanzenladen. Es gab frisch ausgegrabene Alraunen, die zum Glück noch zu jung waren, um so schrill und ohrenbetäubend zu schreien wie Alraunen es bekanntlich so gern machen.

Die beiden Besucher waren äußerst nett und der „Pressetermin“ machte allen Spaß, sogar Katze Alice kam aus ihrem Versteck, und nun sind wir natürlich alle gespannt, wie der Bericht in der Zeitung wohl aussehen wird. Von Alice soll es auch ein Bild geben. Den Mäusen habe ich auf jeden Fall eine Miniversion des Artikels versprochen, sobald er erscheint. Vielleicht nächste Woche? Den wollen sie dann im Buchladen auslegen. Damit ihn auch alle lesen können.

Mousetown im Frühling (BFL)

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Die Bärentänzerin von Brauron

Als ich das Mädchen im Museumsladen mitten zwischen den vielen anderen Statuen entdeckte, war ich fast erschrocken, sie sah so vertraut aus, es war wie ein zärtliches Wiedererkennen. Sie hatte sogar ein Kaninchen auf dem Arm! Mein Seelentier! Es war Liebe auf den ersten Blick, und die Verkäuferin meinte, die Kleine mit dem Hasen werde ihr fehlen. „Sie ist unsere letzte, und ich weiß nicht, wann der Künstler wieder welche macht.“ Die merkwürdige grüne Farbe war zwar nicht mein Geschmack, aber ich habe das Mädchen natürlich trotzdem gekauft, denn so viel Zuneigung auf einmal, wer konnte da widerstehen!

Bärenmädchen (BFL)

Mein Vater hat mir bewußt gleich zwei lateinische Namen mit auf den Lebensweg gegeben. Ursula und Beate. Der zweite (glücklich, gesegnet) sollte mich schützen und glücklich werden lassen (nomen est omen), der erste (kleine Bärin, ähnlich wie keltisch Artula) gehörte der Frau, von der er sich trennte, als er meine Mutter kennenlernte. Sollte die Fremde durch ihren Namen in mir weiterleben? Als lebenslange Erinnerung? Oder war es eine Form der Wiedergutmachung, ein Zugeständnis, das den doppelten Gewissensbiss meiner Eltern mildern sollte? Warum hat meine Mutter das erlaubt? Haben sie darüber diskutiert? Gab es Tränen? Wutausbrüche? Ich hätte das sicher nicht zugelassen! Meine Mutter hat mir auf Nachfragen von einer angeblichen Vereinbarung erzählt. Zwei Namen sollte das Kind auf jeden Fall haben. Mein Vater durfte die Namen der Tochter frei wählen, und wäre ich ein Junge geworden, hätte meine Mutter gewählt. Sie hätte mir bestimmt als zweiten Namen den ihres Vaters gegeben. Die Mädchennamen, die ihr am besten gefielen, waren Frauke und Fee, aber das waren einfach zu viele Fs für meinen Nachnamen.

Meinen Bärennamen mochte ich nicht, daher unterschlug ich ihn meistens. Das Tier dagegen wurde zu meinem großen, starken, mächtigen Schutzgeist. Lange habe ich Teddybären gesammelt und sogar auf Therapiebildern große Bären gemalt. Die familiären Erinnerungen, die dahintersteckten, machten mir allerdings weiterhin zu schaffen. Wie mochte sie gewesen sein, die fremde Frau, die man gegen meinen Willen mit mir verknüpft hatte? Eigentlich wollte ich es nicht wissen. „Ignorance is bliss“, wie man so schön sagt. Schön war, dass ich im Laufe der Jahre „zufällig“ gleich mehrere Freundinnen fand, die genauso heißen und mit denen ich mich aus völlig unterschiedlichen Gründen eng verbunden fühle, eine davon nenne ich sogar „Bärenschwester“.

Die letzte „Fügung“ damals im Museumshop war die Tatsache, dass die Verkäuferin ebenfalls Ursula hieß, wie sich an der Kasse herausstellte. Da gab sie mir nämlich den Zettel, auf dem die genaue Bezeichnung des Mädchens stand, „Bärenmädchen“, und wir kamen ins Gespräch. „Ich hab‘ mich mit dem Namen auch nie anfreunden können!“, meinte sie verwundert, als sie die kleine Statue vorsichtig verpackte. „Wenn Sie noch mehr herausfinden sollten, schreiben Sie mir doch bitte! Das interessiert mich jetzt wirklich!“ Es gab offenbar eine geheimnisvolle dreifache Verknüpfung, und am Abend schickte ich ihr gleich eine Mail mit den Daten, die ich im Internet gefunden hatte. Sie schrieb sofort zurück und war begeistert.

Bärenmädchen (BFL)

Die echte „Arktos“ (so heißt dummerweise auch ein graublaues vogelähnliches Pokemon-Wesen, das die Google-Suche sehr erschwert) stammt aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und stellt ein lächelndes Mädchen im Alter von etwa neun Jahren dar, das im Dienst der Artemis Brauronia stand. Die Originalstatue ist aus hellem Marmor, und der Fundort Brauron liegt an der Ostküste von Attika, etwa auf der Höhe von Athen. Dort befand sich einst eine antike Kultstätte der Artemis, der Herrin der Tiere, Göttin der Jagd und der Natur, der Fruchtbarkeit, des Lebens und des Todes. Die geografische Lage war günstig, es gab einen Naturhafen, der Ort war seit der Jungsteinzeit besiedelt, und wenn man den Mythen glaubt, versammelten sich hier die Griechen zum Auslaufen der Schiffe nach Troja, wurden jedoch von Artemis durch widrige Winde (oder totale Windstille, je nach Quelle) an der Weiterfahrt gehindert. Die Göttin wollte damit Agamemnon bestrafen, der sich gebrüstet hatte, ein besserer Jäger als sie zu sein, nachdem er eine Hirschkuh in ihrem heiligen Hain getötet hatte. Die Griechenflotte war jedenfalls komplett bewegungsunfähig, die Männer mochten murren soviel sie wollten. Schließlich weissagte der Seher Kalchas, dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfern müsse, um die Fahrt fortsetzen zu können. Iphigenie ist eng mit Artemis verknüpft, in Brauron soll sich auch ihr Grab befinden. Als Agamemnon schließlich bereit war, seine Tochter zu opfern, erbarmte sich Artemis, brachte die junge Frau nach Tauris und legte an ihrer Stelle eine Hirschkuh auf den Altar.

Artemis (pixabay)

Im Tempel der Artemis verbrachten damals adlige junge Mädchen einige Jahre als „Arktoi“ – mit Tanz, Wettläufen und Webkunst. Hier wurden sie auf ihre Rolle als Frau vorbereitet („Arkteia“ war der Name für das Initiationsritual) und blieben dort, bis sie das Brautalter erreichten. Richtige „Bärenfeste“ wurden hier gefeiert, wie immer sie ausgesehen haben mögen. Vom antiken Tempel sind heute nur noch die Fundamente erhalten. Das größtes Gebäude des Heiligtums war die große „Stoa der Arktoi“ (Halle der Bärinnen).

Ich freue mich immer, wenn ich meine Ursula sehe. Sie steht im Zimmer meines Mannes, damit sie nicht allein ist, und ist umgeben von antiken Göttinnen und anderen kleinen Büsten und  Statuen. Natürlich nur Nachbildungen und längst nicht so viele wie im Arbeitszimmer von Sigmund Freud, aber ich muss beim Anblick der stummen Schönheiten trotzdem an ihn denken. Sowohl im Arbeitszimmer in Wien als auch in seinem Haus in London habe ich seine eindrucksvolle Sammlung in der Vitrine und auf dem Schreibtisch mehr als einmal bewundert.

Sehr angerührt hat mich auch der im heutigen Serbien entdeckte geheimnisvolle und wohl älteste erhaltene Satz der Menschheit, den der amerikanische Linguist Toby Griffen entziffern konnte und folgendermaßen übersetzt hat: „Bärgöttin und Vogelgöttin sind wirklich die Bärgöttin“. Er steht auf zwei 7.000 Jahre alten Tonscherben (Spinnwirteln) und wurde in Jela, in der Nähe von Belgrad, gefunden. Die Zeichen in der Vinca-Schrift (Bär – Göttin – Vogel – Göttin – Bär – Göttin – Göttin) sind im Kreis herum geschrieben und vorwärts und rückwärts lesbar.

Bärenmädchen (BFL)

Die griechische Jagdgöttin Artemis, in deren Namen die Wurzel „Art“ ja noch zu sehen ist, geht wohl auf eine ältere Bär- und Vogelgöttin zurück, daher dienten ihr auch die kleinen „Bärinnen“. Artio war die Bärgöttin der Kelten, und Ursa Major (große Bärin) bezeichnet das Sternzeichen des Grossen Bären. In der griechischen Mythologie gibt es übrigens eine interessante Verknüpfung zwischen dem Großen und Kleinen Bären, der Mutter Kallisto, die von Hera aus Eifersucht (Zeus hatte Kallisto vergewaltigt und sie war schwanger geworden) in eine Bärin verwandelt wurde und verdammt war, durch die Wälder zu streifen, und Kallistos Sohn Arkas, der sie fast getötet hätte, weil er nicht ahnte, dass er im Wald plötzlich seiner eigenen Mutter in Bärenform gegenüberstand. Zum gegenseitigen Schutz wurden die beiden von Zeus vorsichtshalber schnell emporgeschleudert und sicher am Himmel „verstirnt“, und seither kann man sie gemeinsam am Nordhimmel bewundern. Mit meinem zweiten Vornamen habe ich mich endgültig versöhnt. Ursula ist ein magischer Name, und es ist fast schon eine Ehre, ihn zu tragen.

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