Pandemischer Jahresrückblick

Amsel (pixabay)

Heute vor genau einem Jahr (zwei Tage zuvor hatte die WHO die Pandemie ausgerufen) schrieb ich hier auf meiner Seite: „Über 4.200 Menschen sind bereits an der Erkrankung gestorben.“ Weltweit, wohlgemerkt. In Köln gab es damals gerade mal 61 bestätigte Krankheitsfälle, und die Quarantänefälle lagen noch unter 200. Und die meisten von uns machten sich Sorgen. Wie anders sieht es jetzt aus. Bis heute wurden allein in Köln 35.433 Fälle gemeldet, aktuell infiziert sind 1.658, verstorben 552. Morgen vor einem Jahr wurden zum ersten Mal jegliche Veranstaltungen im Stadtgebiet untersagt, auch die Gottesdienste.

Ich kann kaum fassen, wie sehr sich die Welt in den wenigen Monaten verändert hat. Wieder ist März, wieder nähert sich zuverlässig der Frühling, die Amseln singen schon morgens und abends, bald wird es wärmer, auch wenn es heute stürmisch ist und zwischendurch sogar Hagelkörner herunter prasselten. Die ersten Knospen erscheinen an den Zweigen, die Wacholderdrossel kommt neuerdings zum Frühstück, die Zugvögel kehren zurück. Heute Morgen um gab es als wetterliche Zugabe sogar noch einen richtig lauten Donnerschlag.

vaccine (hakan nural/unsplash)

Heute vor einem Jahr befanden wir uns am Beginn der ersten Welle, verunsichert bis ungläubig, fühlten uns soldarisch und hilfsbereit. Sangen gemeinsam um 9 Lieder. Vorbei. Heute singt und klatscht kein Mensch mehr. Pandemiemüdigkeit. Damals trugen wir noch keine Masken, konnten uns nicht mal vorstellen, mit den unbequemen Lappen vor dem Gesicht herumzulaufen. Die ersten Hamsterkäufer räumten die Klopapierregale leer, als könnten sie mit den weißen Rollen ihr Leben retten. Darüber lächeln wir heute. Wir haben viele neue Wörter gelernt, hören Podcasts, sind wahre Impfstoffspezialisten, kennen mindestens fünf bekannte Virologen und sehen zu, wie die Menschheit in immer mehr kleine Gruppen zerfällt. Und jede hat ihr eigenes Kürzel und wehe, man nimmt ihr was weg. Ich sehne mich zurück nach der Zeit, als das wichtig war, was wir gemeinsam hatten, und nicht das, was uns trennt und unterscheidet.

Gerade stehen wir vor der dritten Welle und schauen mit bangem Blick auf Ostern. Heute denken wir in Millionen. Weltweit gibt es 119.187.414 (bekannte) Fälle (ohne Dunkelziffer), 67.491.954 Menschen sind genesen (was immer das bedeutet, das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht sichtbar), 2.641.707 sind gestorben. Zum Glück gibt es in Deutschland bereits drei zugelassene Impfstoffe (in einigen anderen Ländern sind es noch mehr), auch wenn die Impfungen nur sehr schleppend voranschreiten und sich bei einem der Impfstoffe die Probleme häufen. Gerade heute wurde wieder ein Lieferengpass verkündet. Wir kommen nicht weiter mit den Schutzimpfungen. Deutsche Gründlichkeit und suboptimales Krisenmanagement sind keine gute Kombination. Die Impfstoffe sind zwar ein Hoffnungsschimmer und eine wahre medizinische Hochleistung, aber leider gibt es auch bereits mehrere gefährliche und hochansteckende Virusmutationen aus Südafrika, Brasilien und aus dem Vereinigten Königreich. Sie sind längst auch schon bei uns. Besonders B 1.1.7, momentan ist sie bereits für 50% der Fälle verantwortlich.

Masked  (Engin Akyurt/unsplash)

Letzten März wußten wir noch sehr wenig über dieses Virus und seine Tücken. Dass es so viele Bereiche unseres Körpers schädigen kann, uns (oft leider nicht nur vorübergehend) komplett die Sinne rauben kann, dass selbst milde Verläufe üble Folgen haben können, manchmal erst Monate später, und dass Genesene eher Überlebende sind. Das wirtschaftliche Ausmaß dieser Katastrophe ist noch gar nicht absehbar. Heute wissen viele von uns, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr riechen und schmecken zu können. Wochenlang. Wochen voller Unsicherheit und Angst. Und wie es sich anfühlt, auch nach Monaten noch urplötzlich in eiskalten Schweiß gebadet dazustehen, ohne dass einem warm ist oder man Stress hat, einfach so. Dass einem büschelweise die Haare ausfallen. Das Herz rast wie ein Rennpferd. Wie es sich anfühlt, tagelang so schmerzende Fingergelenke zu habe, dass man keinen Stift mehr halten kann, oder sich so matt und kraftlos zu fühlen, dass man nur noch liegen und vor sich hindämmern kann. Wie bei Jetlag (das verstehen die meisten), nur schlimmer. „Dann mußt man sich eben zwingen!“ oder „Du musst dich zusammenreißen“ sind gut gemeinte Sätze, helfen aber nicht. Hier stellt sich keiner an, das ist traurige, kräfteraubende Realität.

Eine derartige Losigkeit kannte man bisher höchstens bei Depressionen. Kraftlos, motivationslos, zuweilen hoffnungslos. Hört das denn nie auf? Auch nach einem Jahr nicht? Heute gibt es so viele Long Haulers, heute gibt es Long Covid, Post Covid, Chronic Fatigue. Es gibt Brain Fog (Nebel im Kopf), jähe neurologische Aussetzer, bei denen man voll Schrecken seine eigene Adresse nicht mehr weiß, sich in Wörtern verheddert oder sie nicht mehr findet und sich nicht mehr konzentrieren kann. Tage, an denen man in der Küche oder im Keller steht und nicht weiß, warum. Vor Verwirrung und Schrecken zu weinen beginnt. Das passiert auch jungen Menschen, ganz ohne Altersdemenz.

Es gibt großartige Gruppen wie „AbScent“ (ein englischsprachiges Forum), die sich mit den Folgen von Anosmie, Parosmie und Phantosmie beschäftigen, in denen die Betroffenen Halt und Trost finden. In denen sie aufgefangen und verstanden werden. Mit Nichtbetroffenen können sie sich über ihren Kummer kaum unterhalten. Die Reaktionen sind allzu oft unsensibel und verletzend. „Sei froh, dass du nur einen milden Verlauf hattest.“ Ja, ist man, aber man leidet trotzdem an Folgeerscheinungen. Oft sind sie so schlimm, dass man nicht mehr arbeiten kann. Nicht mehr Sport treiben kann. „Nichts riechen? Das hab ich nach jedem Schnupfen.“ Sie wissen nicht, wovon sie reden. „Du kannst nichts mehr schmecken? Das könnte ich auch mal brauchen, dann würde ich wenigstens ein paar Kilo abnehmen.“ Und dabei lachen sie. „Es wird meiner Meinung nach sowieso viel zu viel Tamtam um das Ganze gemacht.“ Was sie nicht wissen: Den Zustand wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.

apple (iamcristian/unsplash)

apple (iamcristian/unsplash)

In Selbsthilfeforen teilen Betroffene ihre großen und kleinen täglichen Erfolge: „Heute zum ersten Mal nach vier Monaten wieder Kaffee geschmeckt, ohne zu würgen!“ „Ich bin so froh, endlich kann ich wieder Bananen essen!“ Oder die Trauer darüber, was alles nicht mehr geht. „Jetzt hab ich auch noch Äpfel verloren.“ „Ich kann nicht aufhören zu weinen, alles stinkt nach Covid.“ „Covid“ riecht extrem scheußlich, chemisch, eklig. Und die anderen Fehlgerüche und Halluzinationen. Es gibt Betroffene, die sich beim Versuch zu essen regelmäßig übergeben, die nur noch Nahrung zu sich nehmen können, wenn sie sich eine Klammer auf die Nase setzen, wie Taucher sie benutzen, weil sie sich sonst ekeln, weil alles nach Jauche oder faulig riecht. Ranzig und verdorben schmeckt. So viele Menschen entwickeln gerade Essstörungen, Depressionen, Ängste. Wenn alles nur noch nach Zigaretten, Aas oder Gas riecht, auch die eigenen Kinder, Partner oder Haustiere, das eigene Haus und überhaupt die ganze Welt, dann sehnen sich einige sogar zurück in den Zustand des Gar-nichts-Riechens, auch wenn der Zustand ein Alptraum war, weil man sich in so einer leeren Welt nur schlecht zurechtfinden kann. Besonders Verzweifelte überlegen sogar, ob sie sich den Riechkolben operativ entfernen lassen sollen und lieber für immer ohne Geruchssinn bleiben, nur damit die scheußlichen Halluzinationen aufhören. „Ich ertrage das einfach nicht mehr.“ Die Menschen im Forum verstehen das. Die anderen nicht. Sie können es sich nicht vorstellen. „Jammern auf hohem Niveau. Seid froh, dass ihr nicht im Krankenhaus wart und beatmet werden musstet.“ Es stimmt. Und wir sind auch dankbar. Und fühlen uns schlecht und schuldig, weil wir klagen. Doch wenn die Welt stinkt und einem die Gelenke weh tun, wird man jammerig. Überlebensschuld haben wir sowieso. Warum tötet das Virus so viele und verschont andere? Es ist alles so willkürlich.

Lavendel (elly johnson/unsplash)

In Brasilien explodieren wieder die Fallzahlen, kein Wunder bei dem Präsidenten, Italien steht erneut vor einer Katastrophe. Irgendwie haben wir das Jahr überlebt, haben versucht, uns so gut es geht zu schützen, haben erfahren, wie schlimm es ist, voneinander getrennt zu sein.  Für viele lange Monate. Haben uns damit abgefunden, einander über ein Jahr nicht mehr „richtig“ zu sehen oder in den Arm nehmen zu können (wie gut, dass es Zoom und Skype und WhatsApp gibt). Wir entwickeln mitunter merkwürdige Störungen, werden zunehmend eigenbrötlerischer. Vereinzeln und verlernen das Lächeln. Man sieht den Mund ja eh nicht mehr. Schrecken zusammen, wenn wir Filme sehen, in denen Menschen in großen Gruppen auftreten. (Oh Gott, die halten ja gar keinen Abstand! Und keine Masken!) Ich erschrecke selbst im Traum, wenn jemand mir zu nahe kommt. Obwohl ich weiß, dass ich träume!

yellow flower (engin akyurt/unsplash)

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Wintergedanken und Zirbelkiefern

Red Barn (Simone Garland)

Bevor er sich am 20. März endgültig verabschiedet, auch wenn uns natürlich die berüchtigten Eisheiligen (Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie im Mai, „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis Sophie vorüber ist!“) noch bevorstehen, möchte ich den Winter noch einmal richtig würdigen  Jetzt, wo ich nach so vielen Wochen ohne meine feine Nase meine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander habe, kann ich ihn endlich (fast) wie sonst genießen.

Draußen verausgaben sich schon seit einiger Zeit die ersten duftenden Winterblüher, die pfeffrig-zitronige Zaubernuss mit den schmalen, filigranen schwefelgelben Blütenstreifen, die sie bei Frost einfach nach innen einrollt, und der intensiv nach Maiglöckchen duftende Geißblattstrauch. Seine Blüten sind weiß und klein mit einer puscheligen Mitte und haben es echt in sich. Und hinten im Garten kann man Schneeglöckchen, Krokusse und die gelben Winterlinge bewundern. Gleich vier Amselmännchen zanken sich derzeit um unseren Garten, dabei ist Platz genug für mindestens zwei Paare. Aber davon wollen sie nichts hören. Das Weibchen sitzt entspannt im Apfelbaum und beobachtet den ganzen Stress. Ihr ist offenbar egal, wer gewinnt.

Schneebäume (Simone Garland)

Den Duft von Nadelbäumen kann ich inzwischen zu meiner Freude auch wieder wahrnehmen. Ich fand es traurig, im Dezember im „sterilen“ Weihnachtszimmer zu sitzen ohne den vertrauten Adventskranz-, Tannen- und Kerzengeruch. Erst kurz vor dem Abschmücken (am Dreikönigstag) kehrte die „Weihnachtsbaum-Melange“ zurück, gerade noch rechtzeitig, und ich war so glücklich, dass ich hätte weinen mögen. Am selben Tag roch ich auch zum ersten Mal nach langer Zeit wieder deutlich das Katzenfutter von Alice. Ich hatte es ausnahmsweise neben den Weihnachtsbaum gestellt, weil ich es ja eh nicht riechen konnte. Plötzlich waren beide Gerüche wieder da. Eine höchst merkwürdige Mischung. Der Baum roch nach trockenen Nordmann-Nadeln, das Futter genauso unappetitlich wie immer (ein bisschen wie der Abfluss in der Küchenspüle), aber Alice und ich waren glücklich, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

Bisher bin ich von den schrecklichen Parosmien, unter denen so viele von uns nach einem „milden Verlauf“ monatelang leiden, noch verschont geblieben und hoffe inständig, dass es so bleibt. Nur manchmal schleicht sich ein feiner, stechender Gas- oder auch ein weit entfernter leichter Rauchgeruch ein, aber bei beiden weiß ich, dass es Phantosmien sind, Geruchshalluzinationen. Manches riecht auch noch „falsch“ oder merkwürdig, etwa die lila Hyazinthe, die eine Weile im Flur stand. Normalerweise duftet sie am Anfang geradezu betäubend (zum Schluß stinkt sie so, dass ich sie nach draußen verbanne), aber diesmal roch sie die ganze Zeit gleich. Sehr unangenehm. Nach Gas. Auch die Winterblüher duften nicht „normal“, schwächer als sonst, ich muss ganz nah herangehen, um sie überhaupt zu bemerken. Aber die Tage roch ich an der Bahnhaltestelle eine Zigarette, die mindestens zehn Meter entfernt war. Zuerst hatte ich sie nicht gesehen und seufzte innerlich. War das eine Phantosmie? Dann hob die Dame die Hand, und ich sah die Zigarette. Das macht mir Hoffnung. Beim endlich wieder erlaubten Friseurbesuch identifizierte ich sogar das Parfum der Dame, die vor mir auf dem Stuhl gesessen hatte. Selten hat mich der Satz: „Sie haben aber eine empfindliche Nase!“ so gefreut.

Snow Road (Simone Garland)

Mein tägliches „Riechtraining“ habe ich inzwischen um etliche weitere braune Fläschchen mit ätherischen Ölen erweitert und dabei als unerwartetes Geschenk den Wohlgeruch der Zirbelkiefer neu entdeckt. Schon beim ersten Atemzug stiegen ferne Erinnerungen an Südtirol auf, an die besonderen „Stuben“ (waren die Möbel dort aus Zirbelholz?) und auch an Überbachers große Schnitzwerkstatt und den kleineren Raum, in dem der Herrgottschnitzer saß. Ich finde den Zirbenduft so angenehm, dass ich mich am liebsten vorübergehend in einen Flaschengeist verwandeln und darin baden würde.

Beim Einschlafen stelle ich mir jetzt manchmal vor, ich läge in einem Zirbelkieferwald im Gebirge. In der Ferne sehe ich hohe, schroffe Dolomitenfelsen. Offenbar geht es anderen ähnlich. Zirbenduft wirkt anscheinend entspannend und hilft beim Einschlafen. Es gibt sogar besondere Schlafkissen, die mit frischen Zirbenspänen gefüllt sind. Eins habe ich mir jetzt bestellt. Aus Tirol. Ich kann im Moment einfach nicht genug bekommen von diesem Holzgeruch. Sehr ernüchternd dagegen ist das Fläschchen mit „Lindenblütenduft“. Es stinkt nach altem, staubigem, trockenem Stroh. Dabei hatte ich solche Sehnsucht nach den sommerlichen honigsüßen Lindenblüten. Hoffentlich stinken die großen alten Bäume an der Kirche im Sommer nicht auch nach Stroh.

Far Away (Simone Garland)

Mein Fläschchen mit Fichtennadelextrakt dagegen versetzt mich gleich in weit entfernte samstägliche Zeiten. So rochen die krümeligen grünen Badetabletten bei uns zu Hause. Der Zedernduft in der dritten „Waldflasche“ war zunächst ausgesprochen unangenehm und erinnerte mich nur an eklige Mottenkugeln, doch inzwischen hat sich das gelegt und die Holznote ist deutlich erkennbar. Motten scheinen Zedern auch nicht zu mögen, denn in den USA hängt man nicht von ungefähr Zedernholz als Mottenschreck in die Kleiderschränke. Bei uns waren es früher Lavendelsäckchen. Ob das heute noch jemand macht? Ich habe auch eine kleine Flasche mit Lavendelduft. Der erinnert mich an meine Tanten und ihr „Uralt-Lavendel“. Gab es damals nicht auch „Tosca“? (Der Duft für die gepflegte Frau ab 50!) Ich mochte den Geruch nicht. Die Flakons verschenkte man, wenn einem sonst nichts einfiel für die weibliche Verwandtschaft, hab ich auch schon ewig nicht mehr gerochen! Ob es „Tosca“ noch gibt? Es war schon damals ein „klassischer Duft“, vielleicht aus den 1920er Jahren?

Hier in Köln waren die letzten Monate mild, wieder so ein warmer Winter, wie wir sie seit einiger Zeit gewöhnt sind. Ich habe unsere Kübelpflanzen im Garten diesmal gar nicht erst eingepackt und abgedeckt, nur die besonders empfindlichen in die Garage geräumt. Temperaturmäßig gab es nur äußerst wenige eisige Ausreißer, alle erst in diesem Jahr. Wir haben erst zweimal das Wasser nach draußen abgestellt. Das letzte Mal vorige Woche, da war es nachts einmal -6 Grad.

Winter Birds (Simone Garland)

Wie in den letzten Jahren habe ich mir bei meiner Freundin Simone Garland einige ihrer schönen Schneefotos ausgeliehen, denn bei ihr in Kanada kann man die weiße Pracht noch so richtig bewundern. Die Bilder passen perfekt zu meiner ewigen Schnee-Sehnsucht und den Wintererinnerungen aus meiner Kindheit. Wenn ich die weiße Weite betrachte, kann ich all die engen Lockdown-Gefühle ablegen, mich in meinen imaginären dicken Wintermantel kuscheln, die weichen Fäustlinge zurechtzupfen, tief Luft holen, durch den tiefen Schnee stapfen und mir genüßlich die kalten Flocken auf der Zunge zergehen lassen. Jede sieht anders aus, und alle sind sie wunderschöne kleine Kunstwerke. Flockdown statt Lockdown.

Simone hat mir berichtet, dass der jetzige Winter auch in Kanada etwas wärmer und schneeärmer ist als sonst und dass man die Covered Bridges (wie die auf dem nächsten Foto) auch Kissing Bridges nennt (weil sich Verliebte dort so gut heimlich küssen können). In Ontario gibt es nur noch drei dieser Brücken, die abgebildete befindet sich bei West Montrose in der Nähe von St. Jacob’s. Sie ist mit dergleichen Farbe gestrichen wie die Scheune. Barn Red. Scheunenrot. Ich habe mir vor Jahren mal ein kleines Tütchen „Old Fashioned American Milk Paint“ mit Pulver in Barn Red zugelegt, es reicht bestimmt für ein großes Maushaus. Ich muss nur noch den kleinen Karton mit den Milk Paint-Tütchen finden.

Covered Bridge (Simone Garland)

Wie gern würde ich (natürlich am liebsten mit meinem Knuffelkontakt) mal selbst über so eine überdachte lange Brücke gehen! Sie erinnert mich sofort an den Film mit Clint Eastwood und Meryl Streep „Die Brücken am Fluß“ („The Bridges of Madison County“). Die Szene, in der er traurig im Regen auf der Straße steht und Abschied nimmt, werde ich nie vergessen.

Schnee gab es hier bei uns nur ein paar Tage lang. Wie „märchenhaft“ sieht es dagegen auf Simones Winterbildern aus. Sogar die Wasserfälle verwandeln sich in gefrorene Wunderwerke der Natur.  Mir fällt wieder einmal auf, wie schön Rot und Orange mit Weiß harmonieren. Das Weiß bringt sie richtig zum Leuchten. In der kalten Jahreszeit gehören sie eindeutig zu meinen Lieblingsfarben. Wie lange habe ich schon nicht mehr das beruhigende Tropfen von langen Eiszapfen gehört? Das muss mehrere Jahrzehnte her sein. Ach, ich liebe Simones schneebeladene stille Winterfotos. Die erstarrten Wasserfälle. Die spitzen Eiszapfen. Die einsame Scheune. Und den Duft von Zirbelkiefern!

Frozen Falls (Simone Garland)

 

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World Book Day!

Wie immer herrscht großer Andrang vor dem Buchladen (BFL)

Gestern war World Book Day, und wie es sich für Buchfans gehört, haben wir alle sehr viel gelesen, auch die Kleinsten, denn wir haben auch eine Menge Bilderbücher. Im Mausland ist der Buchladen zum Glück immer offen. Auch nachts.

Im Mouse Tales Bookshop (BFL)

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Welche Hautfarbe hat ein Gedicht?

Übersetzungsassistent (BFL)

Gestern las ich im „Guardian“, dass die junge niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld (immerhin Gewinnerin des Man Booker Prize) die Poetin Amanda Gorman nicht mehr ins Niederländische übersetzt. Rijneveld ist von ihrem Vertrag bei Meulenhoff zurückgetreten. Nicht weil die Übersetzung nicht gut wäre, sondern weil die Farbe nicht stimmt. Für schwarze Dichter kommen momentan offenbar nur noch schwarze Übersetzer in Frage. Bei Schauspielern und Synchronsprechern (bitte im ganzen Text an den passenden Stellen Gender*, Binnen-I,  Gender_ mitdenken) kennt man das ja schon. Der Farbzwang gilt inzwischen gar für die Sprecher von Comic Figuren, wobei mein Liebling Donald Duck bisher noch kein Problem hat. Aber der ist ja auch weiß. Anders als Alladins Flaschengeist. Der ist blau. Und hat eine Menge Probleme.

Kann man Hautfarben tatsächlich lesen und hören oder ist das jetzt eine neue Art von Rassismus?

Treiben wir es mal kurz auf die Spitze. Was mache ich, wenn im zu übersetzenden Roman Persons of Color vorkommen? Das Problem hatte ich bei John Balls Romanen, etwa „In der Hitze der Nacht“. Muss man die schwarzen Textstellen von farblich passenden Übersetzern übertragen lassen? Hätte ich dem berühmten Virgil Tibbs meine Stimme gar nicht leihen dürfen? Noch dazu als Frau? Noch grundsätzlicher: Darf ein weibliches Wesen (jetzt mal ohne Farbproblem) überhaupt noch die Werke eines männlichen Wesens übersetzen (und umgekehrt)? Zudem gibt es ja bekanntlich immer mehr Geschlechter. Brauchen die alle genau die richtige übersetzerische Entsprechung?

Darf oder soll Marieke Lucas Rijneveld das Buch auch nicht übersetzen, weil sie/er sich als „nichtbinär“ versteht? (Das musste ich auch erst googeln. Jetzt weiß ich zwar, was es bedeutet, aber nicht, wie ich damit grammatikalisch umgehen soll.) Wie Amanda Gorman sich versteht, habe ich nicht herausgefunden. Wohl nicht als „nichtbinär“, sonst wäre das ja kein Thema.

Translation with Witch (BFL)

Es wird immer schlimmer. Schon jetzt bekommt man als Schriftsteller langsam Angst, seiner Fantasie freien Lauf lassen. Möglichst keine Romanfiguren mehr erfinden, die nicht wie man selbst sind. Möglichst die eigene Perspektive verwenden. Darf man überhaupt noch als Frau aus der Perspektive eines Mannes schreiben? Als Erwachsene aus der Kinderperspektive? Oder gar aus der eines japanischen Jungen? Darf man eine schwarze Romanfigur erfinden, wenn man selbst weiß ist? Ist das nicht bereits „kulturelle Aneignung“? Kreisen wir bald nur noch trist und öde um uns selbst (natürlich unter genauer Abbildung der Gesellschaft, die uns umgibt, also mit allen nur denkbaren Ethnien und sexuellen Identitäten, um nur ja niemanden auszulassen oder vor den Kopf zu stoßen)? Werden Fantasie und Sprache immer mehr zensiert? Bekommen Journalisten und Schriftsteller immer dickere Maulkörbe?

Vor einigen Jahren hatte ich eine Lesung (nur für Frauen)  in einem Frauenbuchladen, in dem nur Bücher von Frauen verkauft wurden. Die meisten Anwesenden lasen ausschließlich Bücher von Frauen, wie sich bei der anschließenden Diskussion herausstellte. Ich dachte an die Bronte-Schwestern, die sich Männernamen zulegen mussten, damit sie überhaupt eine Chance hatten. Auch J.K. Rowling hat nicht von ungefähr das Pseudonym Robert Galbraith. Es ist noch nicht lange her, da durften Frauen nicht mal Zeitung lesen. Zu viel Lektüre macht unfruchtbar, steht im alten Medizinbuch meiner Mutter. Das fand ich schon als Kind zum Lachen.

Trans late (geralt/pixabay)

„I had happily devoted myself to translating Amanda’s work, seeking it as the greatest task to keep her strength, tone and style“, schreibt Marieke Lucas Rijneveld, die/der mit Gormans befreundet ist und ebenfalls schon früh berühmt war. Die beiden haben also (außer der Hautfarbe) einiges gemeinsam. Die amerikanische Dichterin hat sich ihren translator wohlgemerkt selbst ausgesucht, doch leider passt sie/er einigen farblich nicht ins Konzept.

WER entscheidet das? WER bestimmt, was erlaubt oder erwünscht oder politically correct ist? Der Schriftsteller offenbar nicht, auch nicht der Verlag. Im niederländischen Fall wurde die Debatte von der schwarzen Journalistin und Aktivistin Janice Deul losgetreten. Sie begründet ihre Kritik damit, dass Rijneveld „white“ und „nonbinary“ sei und „no experience in this field“ habe (damit meint sie offenbar den dramatischen Spoken Word Stil). Nur gut, dass sehr viele Menschen auf Twitter diesen Standpunkt ganz und gar nicht teilen.

Translation has no skin colour. 

Übersetzer waren schon immer eine besondere Spezies. Anders als Schriftsteller stehen sie selten im Focus. Aber sie sind ebenso wichtig, denn ohne sie gäbe es keine Weltliteratur. Übersetzer reißen Grenzen ein, überwinden Mauern, öffnen Türen, Herzen und Köpfe.

Wie steht es in Amanda Gormans Gedicht: „To compose a country commited to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Hat Janice Deul diese Stelle überlesen? Vielleicht sollte sie selbst versuchen, das Gedicht zu übersetzen? Sie würde schnell merken, dass man durch die „richtige“ Hautfarbe und Geschlechtsidentität nicht automatisch ein guter Übersetzer oder Lyriker ist.

Gerade höre ich eine andere Stimme in meinem Kopf: „I have a dream that one day my four little children will live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character. I have a dream today.“ Ist dieser Traum schon ausgeträumt?

Literaturübersetzer sind Fährleute, die seit Jahrtausenden kundig und gewandt die weiten, ruhigen und gefährlichen Sprachmeere dieser Welt befahren (einige haben dafür mit dem Leben bezahlt, etwa die Übersetzer von Salman Rushdie), überqueren ruhige und reißende Textflüsse, verbinden freundliche und feindliche Ufer, bauen kühne und kunstvolle Brücken, bringen neues Verständnis und frische Klarheit. Übersetzer vermitteln zwischen Gegensätzen und überwinden Zeit und Raum. Sie bewegen sich frei und demütig in fremden Köpfen und Kulturen, sind unsichtbare Gestaltenwandler. Sie leihen Schriftstellern ihre Stimme, damit sie überall auf der Welt gehört und verstanden werden können.

Nun ist Marieke Lucas Rijneveld gar kein translator, sondern ein writer (wie angenehm neutral doch englische Substantive sind). Möglicherweise wäre Rijneveld gerade deshalb genau richtig gewesen für dieses Buch. Um Lyrik übersetzen zu können, muss man nämlich vor allem hervorragend schreiben können, und wenn man  mit der Autorin befreundet ist, kann man sie im Zweifelsfall immer gleich fragen. Ideal für Übersetzer! Gedichte sicher wohlklingend ans andere Ufer zu bringen, ist übrigens äußerst schwer – wie mißglückt sind fast alle deutschen Gedichte von T.S. Eliot. Lyrik muss man „nachempfinden“, „nachfühlen“, „nachspüren. Das kann man am besten, wenn man selbst schreibt.  Wie wunderbar lesen sich die Übersetzungen von Paul Celan oder von Erich Fried (er hat sich sogar an den wortgewaltigen Dylan Thomas gewagt). Doch offenbar braucht man heute zum Übersetzen nicht nur Leidenschaft, Wissen, Können und Sprachgefühl, sondern auch noch die passende Hautfarbe und Geschlechtsidentität.

The Hill we Climb. Der Weg ist weit, der Aufstieg beschwerlich. Man fragt sich, ob man den Gipfel mit derartigen Abgründen und Hindernissen überhaupt erreichen kann.

Dictionaries (Tessakay/pixabay)

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Besuch in Mousetown!

Peter Kaninchen und Manon (BFL)

Letzten Mittwoch hatten die Mäuse zum ersten Mal in ihrem Leben journalistischen Besuch, was alle sehr freute. Das Wetter war so strahlend schön, dass ich etliche Häuser fürs Foto Shooting hinaus in den Garten tragen konnte, wobei ich fast jedes Mal trotz aller Vorsicht gegen irgendeinen Türrahmen oder irgendeine Wand stieß, weil ich ja hinter den meisten Häusern nichts sehen kann. Leider bringt jede unbedachte Bewegung das Mobiliar gleich in große Unordnung und versetzt die Bewohner in ziemliche Unruhe. Das große windschiefe Haus der norwegischen Hexenfamilie Jarlsberg kann man ohnehin nur zu zweit tragen, was die Sache deutlich erschwert. Zwei kostbare Hexenkessel und etliche Pilze, die ich im Hexengarten übersehen hatte, gingen beim Transport zu Bruch, auf zwei bin ich dann auch noch aus Versehen getreten. Die Kessel konnte ich wieder reparieren, aber die Pilze waren so winzig, dass nichts mehr zu machen war. Die Mäuse waren wie immer äußerst geduldig und nahmen mir meine Patzer nicht krumm. Die Pilze haben sie kurzentschlossen verspeist. Sie vertragen auch Giftpilze, denn unsere Maushexen haben einen hocheffizienten Zaubertrank gebraut, der immun gegen Gifte aller Art macht. Genau wie gegen Corona und andere üble Viren. Wir haben äußerst kundige Hexen.

Lupinchen liebt Fliegenpilze (BFL)

Alle Mäuse waren da, Miranda wartete schon vor dem kleinen blauen Käseladen, Chelsea brachte schnell noch eine Ladung Plätzchen und Kuchen in ihr Café „Chelsea’s Cherry on Top“, Cheddar und Mozzarrella sammelten ihre vielen Kinder ein, Dante rückte geduldig die Bücher in seinem Buchladen wieder zurecht, die beim ungeschickten Transport verrutscht waren, und die jüngsten Mauskinder bestaunten erst mal die neuen Produkte vor dem gut bestückten Pflanzenladen. Es gab frisch ausgegrabene Alraunen, die zum Glück noch zu jung waren, um so schrill und ohrenbetäubend zu schreien wie Alraunen es bekanntlich so gern machen.

Die beiden Besucher waren äußerst nett und der „Pressetermin“ machte allen Spaß, sogar Katze Alice kam aus ihrem Versteck, und nun sind wir natürlich alle gespannt, wie der Bericht in der Zeitung wohl aussehen wird. Von Alice soll es auch ein Bild geben. Den Mäusen habe ich auf jeden Fall eine Miniversion des Artikels versprochen, sobald er erscheint. Vielleicht nächste Woche? Den wollen sie dann im Buchladen auslegen. Damit ihn auch alle lesen können.

Mousetown im Frühling (BFL)

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