Hochsensible Angst trifft Corona

Eigentlich ganz hübsch….  (Matthewafflecat/pixabay)

Im Moment ist es nicht nur für ängstliche Menschen sehr schwer, ruhig und gelassen zu bleiben, wenn sie die Zeitung aufschlagen, den Fernseher anschalten, aufs Handy  schauen oder die Radionachrichten hören. Oder wenn sie versuchen, panische Familienmitglieder und FreundInnen zu beruhigen oder verunsicherten Kindern die derzeitige Weltgesundheitslage zu erklären. Als Schriftstellerin und „Angstexpertin“ versuche ich, das Ganze positiv zu sehen: Gerade jetzt bietet mir die Angst wieder mal eine hervorragende Gelegenheit, sie unmittelbar und hautnah zu erforschen. Bei mir selbst und bei anderen.

Vielleicht sollte ich ein zweites Angstbuch schreiben, denn Corona, Klimawandel, Rechtsruck, skrupellose Politiker, Fake News und globale Weltuntergangsstimmung kamen in „Hasenherz und Sorgenketten“ nicht vor. Und wieder wird mir klar: Der Angst muss man zuhören, um sie erfolgreich beruhigen zu können. Es bringt nichts, sich von ihr überwältigen und mitreißen zu lassen, ihr blind zu folgen, wenn sie außer Kontrolle gerät, oder sie verächtlich niederzumachen, wenn sie einen quält, sie schönzureden, weil sie einem peinlich ist, sie zu verdrängen oder zu leugnen, weil sie einem lästig ist oder nicht ins eigene Weltbild paßt, oder sie zu verteufeln, aus welchem Grund auch immer.

Angst ist kein Stigma, keine Schwäche, keine Schande und auch keine „Seuche“, die schlimmer ist als die schlimmsten Viren, wie eine Tageszeitung es gestern ausdrückte. Klar ist Angst ansteckend! Aber das sind Gähnen und Lachen auch. Teil der Massenpanik wird die eigene Angst erst, wenn man zulässt, dass sie sich gemeinsam mit fremden Ängsten zur Stampede hochputscht. Angst ist nichts Abstraktes. Sie gehört zu uns wie das Atmen. Wenn man Glück hat, kann die unheimliche „Lady Angst“ sogar zur Freundin oder Schwester werden. Wenn man sich freundlich auf sie einlässt und sie Vertrauen fasst, kann man durchaus mit ihr reden. Dann ist sie auch bereit zu Kompromissen, gibt sich mit dem Vereinbarten (einigermaßen) zufrieden und lässt einen (mehr oder weniger) in Ruhe. Sie versucht es zumindest. Aber manchmal muss man sie eben auch eine Weile an die Hand nehmen und ihr gut zureden wie einem verstörten Kind. Zum Beispiel in Zeiten der Pandemie.

Gefühlte Bedrohung (freakwave/pixabay)

Es ist schrecklich bis unerträglich, wenn man als Angstmensch nachts im Bett liegt, die Horror-Bilder des Tages ungewollt an einem vorüberziehen und schließlich auch noch das Kopfkino mit all seinen Katastrophenszenen anspringt, daher sollte man zur Prophylaxe rechtzeitig einige Gegenmittel zur Hand haben. Meine Angst macht mir im Moment leider beträchtlich zu schaffen, weil ich ja schon in normalen Zeiten eine ausgewachsene Krankenhausphobie habe und nicht mal Filme mit dem Bergdoktor ertrage! Und dann diese Seuchenbilder jeden Tag!!!! Wenn ich das dräuende Nachttheater abwenden oder eindämmen will, muss ich mich daher nachhaltig um meine Angst kümmern.

Ein gutes (wenn auch etwas zeitaufwendiges) Mittel habe ich gefunden: Ich gönne uns möglichst zweimal am Tag eine halbe Therapiestunde mit der beruhigenden Stimme von Dr. Martin L. Rossman („Guided Imagery“). Von ihm gibt es CDs und Bücher sowohl gegen Stress als auch gegen Angst, und die Entspannungs- und Visualisierungsübungen (innere Bilder haben mir auch in der Therapie immer sehr geholfen) beruhigen meine Angst auch, wenn uns beiden nachts das Herz bis zum Hals schlägt und wir liebend gern endlich wieder einschlafen möchten. Die schlimmen Zeitungs- und Fernsehbilder schaffen es im Moment oft bis in meine Träume, und nachts war meine Angst schon immer besonders anfällig und trostbedürftig. Bevor sie also anfängt, völlig aus dem Ruder zu laufen und mir körperliche Beschwerden zu machen, erkundige ich mich erfahrungsgemäß am besten liebevoll nach ihren Bedürfnissen.

Problempunkt eins: Alice (BFL)

Die Liste – Das kennt sie schon, und bisher hat es immer geholfen. Ich nehme sie in den Arm und frage: „Was macht dir denn eigentlich am meisten zu schaffen? Lass uns mal eine Liste schreiben. Du sagst mir deine drei wichtigsten Probleme, und die gehen wir dann gemeinsam an. Ich komm dir entgegen, und du beruhigst dich wieder.“  Wie üblich hat sie mich auch diesmal verblüfft. Schon komisch, was meiner Angst bei Sars-CoV-2 (wer denkt sich bloß diese bescheuerten komplizierten politisch korrekten Namen aus, um nur ja kein Land und keine Tierart zu beleidigen?) die größte Furcht bereitet. Nicht etwa das Virus oder die Krankheit. Nein, Problempunkt eins ist die Katze! Alice könnte unversorgt bleiben, wenn ich erkranke und unheimliche Maskierte in Schutzanzügen mich in die Isolierstation verfrachten. Oder wenn mitten in der Quarantäne das Katzenfutter ausgeht. Oder wenn es plötzlich gar kein Katzenfutter mehr gibt, wenn Supermärkte und Futterhäuser schließen, weil sämtliche Mitarbeiter erkrankt oder in Quarantäne sind. Oder weil andere Katzenhalter alles leer gekauft haben. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. „Katzenstreu hätten wir dann auch keins mehr!“ Bei der Vorstellung muss ich grinsen. Das wäre in der Tat übel. Aber das läßt sich ja ändern. Noch.

Das Riesenpaket (BFL)

Das Paket – Gemeinsam mit meinem kopfschüttelnden Mann schleppte ich noch am selben Tag eine Tasche voll Katzenfutter und fünf Säcke Katzenstreu an. Die stehen jetzt in unserer Garage. Zudem bestellte ich (heimlich, nur im Beisein von Alice und der Angst) im Internet ein Riesenpaket Katzenfutter. Wirklich ein Riesenpaket! Wahrscheinlich hat meine alte Alice damit für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Zum Glück ist der Inhalt bis Ende 2022 haltbar. Beunruhigend (für die Angst) war nur, dass GLS das Paket eine Woche lang nicht lieferte. Vielleicht weil es 24 Kilo wog? Der Angst ging gleich wieder die Fantasie durch. Hatte das Virus den GLS-Fahrer erwischt, in dessen Transportfahrzeug sich unser Paket befand? Täglich kamen Mails mit neuen Zustellterminen. „Sars ist überall“, kreischte die Angst hysterisch. „Immer mit der Ruhe,“ sagte ich, „das kommt schon noch.“ Ich hatte Recht. Heute morgen kam das Paket. Es war so schwer, dass der Bote es kaum tragen konnte. Mein Mann stand entgeistert auf der Treppe und meinte „So groß hatte ich mir das jetzt nicht vorgestellt.“ Ich hatte ihn (selbstverständlich) vorab über Größe und Gewicht des Pakets informiert, hätte ja sein können, dass er es zufällig hätte annehmen müssen. Offenbar hat er mir mal wieder nicht geglaubt. Ich übertreibe selten, aber das lernt er nie. „Du spinnst!“, meinte er. „Aber ich liebe dich trotzdem.“ Ein Glück.

Dummerweise quält sich meine Angst schon mit einer neuen unerwarteten Sorge: Die Viren könnten Haustiere befallen! Sie hat noch eine Horrormeldung entdeckt: „Erster Hund infiziert!“ „Und die Viren stammen ja von Tieren“, erklärt sie. Stimmt. Höchstwahrscheinlich von Fledermäusen, und auf dem Weg zu uns war offenbar eine Schleichkatzenart (der sogenannte Larvenroller!) der Zwischenwirt. Bis vor kurzem wussten weder meine Angst noch ich, dass es dieses Vieh überhaupt gibt. Eigentlich ganz sympathisch mit seiner dunklen Gesichtsmaske, wenn man denn ausblendet, welch üblen Gast er zwischenbewirtet. Apropos Gesichtsmaske: Die standen zu meiner Verwunderung nicht auf der Liste meiner Angst. Fiel mir gleich auf, daher hakte ich nach.

Mundschutz (Ani Kolleshi/unsplash)

„Soll ich auch Atemschutzmasken kaufen?“ Die Angst winkte verlegen ab. „Lieber nicht.“ Also kaufte ich keine, obwohl mein hochsensibles Alarmsystem mich bereits auf diese Möglichkeit aufmerksam machte, als  die Dinger noch haufenweise in den Apotheken lagen und von Hamsterkäufen keine Rede war. Jetzt sind sie nicht mehr lieferbar. Pech. Etliche Bekannte haben inzwischen eindrucksvolle Vorräte gebunkert und berichten stolz davon. Aber meine Angst kriegt unter so was Panikattacken, weil die Dinger ihr Klaustrophobie machen. „Außerdem sind sie nach 20 Minuten von der eigenen Atemluft so feucht, dass sie gar keine Viren mehr abhalten.“ Manchmal klingt sie geradezu vernünftig. Natürlich nur, wenn ihr Vernunft in den Kram passt. Das mit der feuchten Atemluft haben wir in der Zeitung gelesen und auch vom Arzt unseres Vertrauens bestätigt gehört. (Wir sind mit einem Virologen verheiratet.) „Man darf Atemschutzmasken auf keinen Fall anfassen und muss sie dauernd durch frische ersetzen. So viele hat kein Mensch“, doziert die Angst. „Außerdem sollten sie in Zeiten wie diesen dem medizinischem Personal vorbehalten sein, sonst geht denen am Ende der Atemschutz aus. Ohnehin dienen sie mehr dem Schutz der anderen als dem eigenen.“ Erst zum Schluss kommt die Wahrheit ans Licht. „Mich erinnern sie sofort an Zahnarzt“, gesteht die Angst. „Und das macht mich fertig.“ Kann ich verstehen. In Gedanken seh ich uns gleich wieder zusammen verspannt und verkrallt im Behandlungsstuhl sitzen. Das machen wir immer. Zahnarztphobie. Leider. Die Angst verzieht schmerzlich ihr Gesicht. Ich auch.

Punkt zwei auf der Liste waren Medikamente. Fand ich vernünftig. Daher begab ich mich mit den nötigen Rezepten und viel Geld zur Apotheke und deckte mich mit allem ein, was mein Mann, Alice, und ich für mindestens einen Monat brauchen. Für die Angst hab ich auch was geholt. Falls sie Panik bekommen sollte. „Du denkst wirklich an alles“, seufzte sie dankbar, und danach ging es ihr gleich besser. Fehlte also nur noch Punkt drei mit seinen diversen Unterpunkten.

Punkt drei waren Lebensmittel. „Aber übertreib bitte nicht“, sagte ich, „Wirklich nur ein paar Sachen. Wir haben echt genug Vorräte im Spind.“ Die Angst sah das ein, verlangte aber unbedingt mehr Schwarzbrot (hält ewig und lässt sich einfrieren), also kaufte ich vier Pakete, das müsste eigentlich reichen, eine weitere Riesenpackung Teebeutel (original englisch, unbedingt). Dazu noch etliche Behälter H-Milch, Philadelphia Käste und, zu meiner Verwunderung, eine ordentliche Ladung Almased. „Kann man notfalls sogar mit Wasser verdünnen und gut als vollständige Mahlzeit verwenden“, rechtfertigte sich die Angst. „Und dann auch noch Nudeln und Schokolade.“ Genug Nudeln haben wir, das konnte ich ihr ausreden, aber bei Schokolade hatte sie Recht. Ist ein gutes Angstberuhigungsmittel und wirklich sehr lecker. Kann man nie genug von haben. Der Riesenvorrat lagert in meinem Nachttisch. Wir ergatterten dabei auch gleich noch die letzte Packung Klopapier („Durchfall kommt bei Corona ziemlich oft vor“, behauptet die Angst), und das Regal war tatsächlich komplett leer gekauft. Seitdem ist meine Angst zufrieden und hält die Klappe, was Hamsterkäufe betrifft. Aber das war ja auch der Deal, die drei wichtigsten Punkte auf der Liste sind schließlich abgehakt. Fragt sich nur, wie lange die Ruhe anhält. Ich kenne ja meine Angst schon seit über einem halben Jahrhundert. Also echt lange.

Entspannen mit Steinen  (zdenek machacek/unsplash)

Sie bekam dann tatsächlich einen mäßigen Rückfall, als die ersten Corona-Fälle hier in Köln auftraten. „Das kommt mir jetzt aber doch irgendwie zu nah“, murmelte sie unruhig und sah gar nicht gut aus.“ Kannst du vielleicht noch was für mich tun?“ „Und was wäre das?“ „Desinfektionsmittel!“ „Oh Mann, warum hast du das nicht früher gesagt? Das ist jetzt echt schwierig. Morgen ist Sonntag, da sind die Läden zu. Und ich hab keine Lust, heute noch deswegen nach Köln rein zu fahren. Dazu müssten wir dann ja auch die Bahn nehmen. Also akute Virengefahr.“ Das konnte ich mir nicht verkneifen, denn ich war sauer (und faul). „Kannst du nicht wenigstens mal gucken?“ nervte sie weiter. „Nur gucken!“ Okay. Gucken ging. Ich versuchte es. Mein Mann auch. Aber Gucken war nicht. In sämtlichen Läden hier im Viertel (viele sind es zum Glück nicht) war das Zeug total ausverkauft. Wie erwartet. Derzeit nicht lieferbar. Liefertermin unbekannt. Die Angst wurde ob dieser Nachricht noch bleicher. „Vielleicht im Internet?“ Bei amazon genau dasselbe. Nur bei ebay gab es das Zeug noch. Ich verschob die Angelegenheit trotzdem auf Sonntag, weil mir das Ganze einfach zu blöd war. Aber nachts gab die Angst wieder mal keine Ruhe. „Bitte probier es noch mal! Sonst schleppt uns hier jemand die Viren rein! Aber es muss unbedingt viruzid sein. Und dann musst du sofort alle Klinken damit abwaschen.“ Hat sie auch wieder irgendwo gelesen. Sie liest eine Menge, weil sie ständig neben mir sitzt oder mir über die Schulter schaut. Manchmal liest sie auch zwischen den Zeilen und durch die Blume.

Sonntagmorgen, als mein Mann in der Kirche war („Hoffentlich schüttelt er da keinem die Hand!“ kommentierte die Angst besorgt.) und keiner uns beobachtete (außer Alice), hockten wir wieder vor dem Computer. Die Angst war reichlich aufgeregt. Das Zeug war bei ebay zwar extrem überteuert, aber was macht man nicht alles für seine Angst, vor allem, wenn sie plötzlich anfängt, wie Espenlaub zu zittern. „Sollen wir jetzt bieten oder was?“ „Bloß nicht, das dauert viel zu lange.“ „Okay. Wollte ja nur nachfragen.“

Ich war nicht die einzige, die in diesem Moment mit ihrer Angst in den Rechner starrte und scharf auf Desinfektionsmittel war. Bei den ersten Versuchen scheiterte ich kläglich, es blieb mir nicht mal genug Zeit, das angepeilte Mittel in den virtuellen Einkaufswagen zu legen, da war es bereits weggeschnappt. 20 Flaschen von 20 in der letzten Stunde verkauft! Angebot beendet! Langsam wurde auch mir mulmig. Das war in der Tat unheimlich. Erst beim fünften Versuch klappte es endlich, aber auch nur, weil ich Sofortkauf wählte. Ich sah die Angst vorwurfsvoll an. „Du weißt, wie bescheuert das ist. Völlig irrational! Wir wollten doch sparen! Nochmal mach ich das nicht. Das war jetzt wirklich schweineteuer. Außerdem kommt es per Post. Du musst also noch tagelang warten. Und vielleicht ist es auch schon verfallen oder gepantscht.“ „Oh Gott“, jammerte die Angst und fing schon wieder an, sich aufzuregen. „Vielleicht kriegt der Verkäufer ja vorher noch Sars und kann es dann gar nicht mehr schicken.“ Das hätte ich mir besser verkniffen, die Angst wurde ganz grün im Gesicht. Schnell ablenken!

(purpleshorts/pixabay)

Das Wichtigste! (purpleshorts/pixabay)

„Wir haben ja  Seife“, sagte ich. „Seife ist gut, und Händewaschen ist ohnehin das Beste. Besser als Desinfektion, auch für die Haut.“ (Meine Haut ist höchst hochsensibel.) „Aber wir haben keinen Seifenvorrat“, stöhnte die Angst. Allmählich ging sie mir voll auf den Senkel.  „Guck doch mal, ob du hier im Haus noch ein Desinfektionsmittel findest!“ Offenbar war ihr Druck so stark, dass sie sofortige Entlastung brauchte. „Aber dann ist wirklich Schluss!“ Das war mein voller Ernst, denn ich hatte noch anderes vor an diesem Tag, und das spürte sie natürlich, denn sie kennt mich ja genauso gut wie ich sie. „Versprochen! Ehrenwort!“ Also suchte ich, während sie hinter mir stand und nervös zitterte.

In irgendeinem Schrank in den Tiefen des Hauses wurde ich tatsächlich fündig, nachdem ich mir stundenlang fluchend einen Wolf gesucht und alles in Unordnung gebracht hatte. Ich fand sogar zwei Mittel. Beide schon ewig verfallen. Seit 2007. Aber sie waren mal viruzid, wie wir auf dem Etikett lesen konnten. „Besser als nichts!“ stöhnte die Angst. „Da ist ja vor allem Alkohol drin, der wird nicht schlecht, und den überleben die Viren dann vielleicht nicht.“ Jetzt reichte es mir endgültig. „Viren können gar nicht überleben“, wies ich sie zurecht, „die sind nämlich überhaupt nicht lebendig. Die sind irgendwas zwischen lebendig und tot. Nur verpacktes Genmaterial mit einer blöden Lipidhülle drum.“ Die Angst war nicht amused. „So was wie Zombies etwa?“ „Genau. So was wie Zombies!“ Manchmal kann ich erstaunlich hart sein. Man muss mich nur lang genug nerven. Danach hielt die Angst vor Schreck den ganzen Nachmittag den Mund.

Entspannen mit Seife (silviarita/pixabay)

Eigentlich halten wir uns wirklich wacker. Aber als ängstliche Hochsensible mit Neigung zu Angststörungen und Panikattacken kann man sich noch so tapfer gegen die Flut der Sätze und Bilder stemmen, irgendwann erwischt es die arme Angst doch wieder. Wenn es nicht unheimliche Desinfektionsmittel-Sprayer (sehen die nicht aus wie seelenlose Aliens oder Roboter?) oder zum Bersten volle Intensivstationen sind (vom Erschrecken über Flüchtlingsströme, hungernde Kinder, grausame Kriegsszenen, bildgewaltige Erinnerungen an KZs und Bomben auf Köln, Heuschreckenplagen in Ostafrika und schmelzende Polen ganz zu schweigen), verliert die Angst regelmäßig die Fassung, wenn sie die widersprüchlichen Meldungsfluten liest. (Ähnlich wie bei „Teile meiner Antwort könnten die Bevölkerung verunsichern.“)

Kein Grund zur Panik“ steht gleich neben „Coronavirus zehnmal so tödlich wie Influenza“ und „Minister sieht keinen Anlass für Hamsterkäufe“ direkt über „Diese Notvorräte empfiehlt die Bundesregierung“ (mit langer Liste). Unsere zaghafte Hoffnung „Es wird mich schon nicht erwischen“ zerschmettert schnell an Schlagzeilen wie „Tödliche Seuche auf dem Vormarsch“, „Virologe sicher: 70 Prozent der Deutschen bekommen das Virus“. „Außerdem sind die Louvre-Mitarbeiter im Corona-Streik“, sagt meine bestens informierte Angst. „Und der Papst hat bei seinem letzten Auftritt ganz schrecklich gehustet, dabei hat er nur noch eine Lunge, hoffentlich stirbt er jetzt nicht, und in Italien werden ab sofort keine Gottesdienste mehr gefeiert! In Italien! Also muss das echt schlimm sein! Und im Dom bleiben die Weihwasserbecken leer, und im Fernsehen gibt es eine Sondersendung zum Virus nach der anderen.“ Jetzt geht die Litanei schon wieder los! „Und Schweine haben Flügel“, sage ich trocken. „Hör endlich auf mit dem Mist.“ Tut sie aber nicht.

„Gestern stand da noch: Zahl der Coronavirus-Infektionen in Deutschland hat sich seit Freitag mehr als verdoppelt“, jammert sie. „117 nachgewiesene Infektionen in Deutschland stand da. Heute sind es schon 150!“ (Kleiner Nachtrag: heute sind es mehr als 170, und das hat sie leider auch schon wieder mitgelesen.) Sie starrt aufs Handy und liest laut vor: „Das Coronavirus SARS-CoV-2 breitet sich rasant aus. In Italien schnellt die Zahl der Toten nach oben. Robert-Koch-Institut und EU haben Risiko-Einschätzung angehoben. Wie soll ich da ruhig bleiben?“ „Influenza ist viel schlimmer“ sage ich, um sie zu beruhigen, auch wenn ich es besser weiß, denn es ist schließlich ein neues Virus. „Und dagegen sind wir geimpft. Sogar gegen Pneumokokken und Gürtelrose, nur weil du das wolltest. Mehr kann ich wirklich nicht tun.“ Die Angst sieht mich schuldbewußt an. „Ich mein ja auch nur.“ Die arme Angst.

„Weißt du was“, schlage ich vor, „Wir machen uns jetzt einen schönen starken Tee! Dann gucken wir uns ein paar ruhige Bilder an (am besten wirken bei ihr Steine, Strände und Wasser), und dann legen wir uns auf die Couch.“ Mit der wohltönende Stimme von Dr. Martin L. Rossman im Ohr. Er spricht Amerikanisch mit uns, und das allein wirkt Wunder. Selbst bei der Angst. Sie ist genau wie ich ziemlich anglophil. Britisches Englisch wäre zwar noch einen Tacken schöner (trotz Brexit), aber wir wollen nicht undankbar sein.

Entspannen mit Strand (Simon Rae/unsplash)

Apropos Englisch: Der Satz „Keep calm and wash your hands“ gehört zu den besten, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Ich habe ihn sofort der Angst gezeigt und auf Facebook geteilt. Besonders gelungen ist das große Stück Seife, das langsam durchs Bild flutscht. Seife ist so wunderbar! Das findet auch die Angst.

„Kannst du nicht noch mehr davon kaufen?“ „Das hatten wir doch schon“, sage ich. „Und Flüssigseife ist momentan ausverkauft, das weißt du doch. Leider auch die mit den Fischen drin.“ Fische findet sie auch gut. „Wir haben vielleicht noch was im Keller“, sagt die Angst. „Oder in der Garage. Da sind ja auch Waschbecken.“ „Weißt du was“, schlage ich vor, „wir laden dir jetzt noch ein paar neue Seifenbilder runter! Die kannst du dann angucken, so lange du willst. Das hilft dir bestimmt. Und jetzt trinken wir erst mal Tee. Und danach machen wir Guided Imagery mit Dr. Martin L. Rossman.“

Es wirkt! Ihr Atem wird ruhiger, sie starrt verzückt auf das Seifenbild und wird langsam tiefenentspannt. Zumindest für den Moment.

Entspannen mit Seife (silviarita/pixabay)

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Die Geister der vergangenen Winter (3)

Schneekätzchen (BFL)

Der schlimmste Winter von allen. Auch als mein Vater starb, lag Schnee. Ungewöhnlich viel Schnee, obwohl der Winter fast vorüber war, doch man konnte bereits die ersten Narzissen kaufen. Einen Strauß stellte ich ihm auf den Tisch in seinem neuen Zimmer. Vor die sonnengelben Vorhänge. Dass mein Vater nur so kurz dort bleiben würde, ahnte ich nicht. Mein Vater lächelte. „Guck mal, wie schön sie leuchten!“ Im Morgenlicht wirkten sie fast wie eine Lampe. Ich schenkte sie ihm wenige Tage, bevor sich unsere Wege trennten, genau wie er es in einem erschreckend lichten Moment vorhersagte. Ich wollte ihm nicht glauben. Das konnte unmöglich sein. Er hatte doch den schönen Wald, der das Heim umgab, noch gar nicht gesehen, auch die zahmen Rehe nicht, auch nicht die riesigen Haselbüsche unten am Weg, auf denen der Schnee lag. Im Frühling würden wir bestimmt gemeinsam die unzähligen Buschwindröschen bewundern, für die der Park so berühmt war.

Die ersten Narzissen (BFL)

Die ersten Narzissen (BFL)

Aber er blieb dabei. Er müsse jetzt gehen. „Glaub es mir, meine Kraft verläßt mich. Ich spüre es genau.“ „Wenn du wirklich gehen musst, kannst du mir dann irgendein Zeichen geben aus der anderen Welt, Papa?“ Er sah mich ernst an. „Ich werde es versuchen, Kind. Wenn es klappt, wirst du es bestimmt merken.“

Am selben Abend noch stürzte er. Doch nicht nur sein Körper stürzte, auch seine Seele stürzte, und drei Tage später war er ganz fort. Und dann stürzte auch ich. In eine bodenlose Stille und Leere. Es gab kein Zeichen. Bis auf den bunten Schmetterling am Morgen nach seinem Tod. Der konnte mich nicht trösten. Das war nur ein merkwürdiger Zufall. Ein flatterndes Tagpfauenauge im Winter. Mitten im Schnee. Es würde erfrieren. Sogar meinen Träumen blieb mein Vater lange fern. Das Band zwischen uns war zerrissen. Zum ersten Mal. Unwiderruflich.

Friedhofsengel (BFL)

Sieben Jahre ist das jetzt her. Sieben lange Jahre! Heute glaube ich oft, kleine Zeichen zu entdecken, doch ich bin mir immer noch nicht sicher. Wenn im Garten die unscheinbare Mönchsgrasmücke singt, und das tut sie zuverlässig, sobald sie mich bemerkt, sogar jetzt im Winter, stelle ich mir vor, mein Vater hätte sie geschickt. Meistens kann ich sie nur hören und nicht sehen, was sich ein klein wenig unheimlich anfühlt. Oder wenn das Rotkehlchen mich ganz nah an sich heranläßt und aus dunklen Augen ansieht. Amica animae meae. Vielleicht ist das alles nur Einbildung. Wunschdenken. Meine Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eine Verbindung zwischen uns gibt. Dass es ein anderes Leben gibt, wie immer es auch aussehen mag. Richtig glauben kann ich es nicht.

Mein Robin (BFL)

Im letzten Dezember traf ich ihn unerwartet in einem meiner Träume. Ich stand unten in einem fremden alten Haus, ging zu ihm hinauf, er lebte im oberen Stockwerk, in einem dämmrigen Raum voller Bücherregale. Ich ging vorsichtig darin umher, wir redeten wie zwei, die lange getrennt waren, aber doch sehr vertraut sind, und ich stellte zu meiner Verwunderung fest, dass zwischen vielen der Bücher kleine und große Nester waren. Überall in seinem Zimmer wohnten Vögel, und sogar ein Käuzchen starrte gelb und verschlafen. „Ach“, sagte er. „Das hab ich noch gar nicht bemerkt. Was du alles siehst, Kind!“ Draußen im Garten waren zwei seiner drei Schwestern und kümmerten sich um die Tiere, die dort lebten, Kaninchen, Katzen, Hunde, und mein Vater sah mich an und sagte: „Hier fühl ich mich so wohl, hier könnte ich für immer bleiben.“

In fast all meinen Träumen von Verstorbenen sind die Toten nicht viel älter als 50 und wissen nicht, dass sie nicht mehr leben. So war es auch diesmal. Ich war älter als mein eigener Vater, aber es schien ihm nicht aufzufallen. „Ich atme den ganzen Tag die Natur ein“, sagte mein Vater. „Reine Natur. Klare Luft. Und weißt du was, ich möchte nirgendwo anders sein.“ Ich wollte ihn umarmen, doch gegen meinen Willen zog es mich in diesem Moment heraus aus dem Traum, langsam und unerbittlich wie an einem festen Seil, das um meinen Körper geschlungen war. Ich wollte mich irgendwo festklammern, aber es ging nicht.

Noch in der Nacht schrieb ich den Traum auf, und die Szene ging mir lange nicht aus dem Kopf. Das Glücksgefühl begleitete mich tagelang. Mein geträumtes Trostbild. Ich kann es den verzweifelten Krankenhausszenen, dem kalten Friedhof entgegensetzen. Mein Vater füttert auch in der anderen Welt noch seine Vögel. Sie haben ihn nicht verlassen. Sie sind jetzt so zahm, dass sie sogar in seinem Zimmer zwischen den Büchern nisten. Selbst das Käuzchen. Es geht ihm gut. Er möchte nirgendwo anders sein. Und mit etwas Glück kann ich ihn vielleicht irgendwann wieder besuchen. Ich muss nur das fremde alte Haus wiederfinden.

Käuzchen (ArtTower/pixabay)

Es ist bitterfalsch, dass die Erinnerungen das einzige Paradies sind, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie schnell die Vertreibung gehen kann. Erinnerungen versinken von heute auf morgen, verschwinden, versacken, werden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und in Fetzen gerissen, lösen sich im Nebel in Nichts auf, verbrennen, verkohlen, verwehen als Rauch im Dunkel. Noch schlimmer ist es, wenn alle rettenden, tröstenden, guten Erinnerungen verloren gehen und am Ende nur die schrecklichen, bösen übrig bleiben. Dann stirbt man als alter Mann mitten im Krieg, der längst vorbei ist, umgeben von mörderischen Feinden und Partisanen, die in Wirklichkeit nur Ärzte, Krankenschwestern und die eigene Tochter sind.

Seine müden Hände (BFL)

Meine eigenen tröstenden Erinnerungen sind zum Glück klar und gegenwärtig. Unvergessen sind unsere langen Spaziergänge, wie oft denke ich daran, besonders im Winter, und wie oft habe ich schon darüber geschrieben. Wir gingen zusammen ins Eulenwäldchen oder hinten in die Felder, und hinter jedem Stamm und jedem Stein warteten geheimnisvolle Wesen und öffneten sich geheimnisvolle Türen und Fenster. All die Geschichten, die ich nur ihm erzählt habe! „Woher nimmt das Kind bloß diese Fantasie?“ Er hörte mir zu. Er ließ mich reden. Er staunte. Er war stolz auf mich. Und die Sätze sprudelten nur so aus mir heraus, auch wenn ich sonst so still war, dass man mich nicht nur überhörte, sondern auch übersah. Draußen in der Natur, zusammen mit ihm, hatte ich keine Angst vor meiner ausufernden Fantasie, die mich so oft um den Schlaf und um meine Ruhe brachte, wenn ich allein war. Allein in der Dunkelheit der Nacht.

Dad (BFL)

Er nahm mich ernst, war mein erster Zuhörer und später meist auch mein erster Leser. Sogar bei den meisten meiner Übersetzungen. Vor seinem Urteil brauchte ich mich nicht zu fürchten. Es fiel stets milde und bewundernd aus. Wenn er an meinen Büchern Kritik übte, dann nur höchst behutsam. Wie vorsichtig er mein Manuskript oder das fertige Buch in die Hand nahm, nach seiner Brille griff und sich dann zurückzog an seinen Tisch, während ich aufgeregt wartete, was er wohl sagen würde. Als seine Gedanken noch klar waren, damals in seinem letzten Dezember, las er im Krankenhaus eine meiner Geschichten. Schon einen Monat später hätte er das nicht mehr gekonnt. Fehldiagnosen und falsche Medikamente schickten ihn geradewegs in die Hölle, an die Front, in die Kesselschlacht, in den Krieg.

Als er fort war, suchte ich nicht nur in meinen Träumen lindernde und tröstende innere Bilder für uns. Ich fand den ewigen Garten mit der Bank unter den Rosen, die kleine Kapelle mit den langen farbigen Fenstern, das Meer mit den Lichtwesen, die ihn sanft mit sich forttrugen, Aber das schönste, das ich finden konnte, ist die gemeinsame Betrachtung des Wintermonds. Vater und Tochter. Hand in Hand. Weit in der Ferne. Wahrscheinlich hätte er sich aus all den vielen Bilder auch genau dieses ausgesucht. Wir hatten verblüffend ähnliche innere Bilder.

„Guck mal, Papa, das da hinten unter dem Baum, das sind wir.“ „Und der Mond ist genauso riesig wie damals in Arizona“, hätte er gesagt und meine Hand gedrückt.  Ich hatte den Mond in der Wüste ja auch gesehen. Er war wirklich riesig! Mein Vater liebte den Mond. Im Prisoner of War Camp in Arizona war der Mond sein großer Trost. Eine Taube hatte er sich dort gezähmt. Sie konnte weg fliegen. Er selbst war gefangen. Hinter Stacheldraht. Bei Vollmond denke ich an ihn. Ich stelle mir vor, wie er am Fenster in seinem Zimmer in dem fremden alten Haus steht und ebenfalls hinaus schaut. Auf denselben Mond wie ich. Er steht in seinem Zimmer voller Bücher. Und auf seiner Schulter sitzt ein Käuzchen mit wachen gelben Augen.

Vollmond (cocoparisienne/pixabay)

 

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Die Geister der vergangenen Winter (2)

Schlittenfahrt (Marcel Walter/unsplash)

In diesem Winter, der so gar keiner ist, steigen noch mehr Bilder auf als sonst. Draußen blühen schon die Glockenblumen zwischen den Steinen, sogar die Ampel mit den Fächerblumen, die den November bisher noch nie überlebt hat, sieht gar nicht so schlecht aus.

Ich schaue hinaus und erinnere mich. An andere, unerreichbar ferne Winter. An lange Eiszapfen an Dachrinnen, zierliche Eisblumen an Fensterscheiben, den harten Holzschlitten, auf dem man höchst unbequem saß, weil man nie wußte, wo man seine langen dünnen Beine lassen sollte. An das Prasseln und Knistern von Oma Ninnis Ofen. An die dampfenden Wintersuppen, die ich damals nicht besonders mochte und heute vermisse, an den sonntäglichen Reisbrei mit Zimt und Zucker und aufgekochten Trockenfrüchten. An saftigpralle Mandarinen und Orangen, die damals etwas Besonderes waren und deren Schalen so angenehm dufteten wie seitdem nie wieder. An gemütliches Nüsseknacken mit einem silbernen Zangeungetüm, an die klitzekleinen Stückchen, die dauernd auf den Boden fielen und mühsam aufgesammelt werden mussten. Bloß nicht in den Teppich eintreten!

Weihnachtsduft (Bru-nO/pixabay)

An die endlosen dämmrigen Nachmittage auf dem Sofa, das sehnsüchtig erwartete Kinderprogramm – „Warten aufs Christkind“, „Peterchens Mondfahrt“, die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste. An die Weihnachtsmehrteiler, „Die Schatzinsel“, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“, „Der Seewolf“. Bei den wenigen Sendern, die unser Schwarzweißfernseher aufzubieten hatte, gab es nicht einmal die Qual der Wahl.

Und an all die Stunden, in denen ich mit meiner kleinen Schwester Memory und Märchenquartett spielte. Von weither höre ich meine Stimme: „Ich hätte gern von dir die Walderdbeere Nummero vier.“ Das war der beste Satz im ganzen Spiel. Gelegentlich sagte ich ihn nur, weil er so gut klang, während ich die Walderdbeere Nummero vier selbst in der Hand hielt. Und weil ich genau wußte, was die Kleine, die mir mit glühenden Wangen gegenüber saß, antworten würde. „Edauro“, rief sie auch gleich triumphierend.  Sie war so jung, dass sie nicht „bedaure“ sagen konnte. Wahrscheinlich kannte sie das Wort nicht mal. Keine Ahnung, warum wir dieses Wort immer sagten. Ich fand ihre Erwiderung so niedlich, dass ich sie nie verbesserte. Das Kartenspiel „Am Waldessaum“ von Liesel Lauterborn und auch das Tierkinder-Memory mit dem niedlichen Rehkitz und den kleinen Feldhasen mit den glashellen Augen habe ich immer noch.

Frostvögel (Genessa Panainte/unsplash)

Mitunter war es so kalt, dass selbst unsere schwarzweiße Topsi nicht nach draußen wollte und es sich lieber zwischen den festgezurrten Kissen im hochgeklappten Klappbett bequem machte. Ihre Augen leuchteten grasgrün im blaugestreiften Bettzeug, wenn man den Vorhang ein wenig öffnete. Ich streichelte ihr Köpfchen, sie begann zu schnurren, und dann stellte ich mich still ans Fenster und bewunderte den frostbemalten Garten, der fast so aussah wie der des selbstsüchtigen Riesen in Oscar Wildes Märchen.

Nur dass bei uns jeden Morgen und Mittag die frierenden und hungernden Vögel gefüttert wurden. Diese Gewohnheit hielt mein Vater bis unmittelbar vor seinem Tod jeden Tag ein. Es war zum Schluss wohl seine einzige Freude und das letzte schöne Ritual, das ihm die wachsende Entfremdung und Verwirrung nicht geraubt haben. Draußen im Garten konnte er noch er selbst sein.  Mein Vater fütterte die Wildvögel schon in meiner Kindheit ganzjährig, sehr zum Spott der Nachbarn und Verwandten, und die Tiere dankten es ihm. Seine Gartenvögel waren handzahm. Sie kamen sogar mit den Katzen klar, denn sie wußten, dass mein Vater gut aufpaßte.

Blaumeise (Martin Arusalu/unsplash)

Die Kinderwinter konnten nie lang genug sein. Ich mochte das Knacken der Äste, das Knirschen des Schlittens, das Funkeln des frisch gefallenen Schnees, die feierliche Stille, die mich an unsere leere kalte Dorfkirche erinnerte, die im Winter nie geheizt war, und mir ein ehrfürchtiges, fast heiliges Gefühl gab. Ich genoß meine dicken weißen Atemwolken, die aussahen, als würde ich genau wie die Erwachsenen „richtig“ rauchen. Wie gern besuchte ich die großen Krickenbecker Seen mit den schwarzen Löchern im Eis, in denen exotischen Wasservögel schwammen, die am Niederrhein überwinterten.

Ich betrachtete die spiegelglatten glänzenden Straßenpfützen, über die man so schön schlittern konnte. Wenn man sich denn traute. Ich traute mich nie, aber ich guckte gern zu.  Vor unserem Haus waren sie stumpf, denn sie wurden mit Asche und Steinchen bestreut. Damit keiner fällt!

Und die dicken Fäustlinge und die gefütterten Stiefel! Die Welt büßte im Winter zwar die meisten ihrer Farben ein, doch dafür bekamen die Häuser nachts gelbe Fenster wie Adventskalender, und im Wohnzimmer brannten die dicken roten Kerzen am Adventskranz. Seit einigen Jahren wird Rot zu meiner eigenen Überraschung während der Wintermonate zu meiner Lieblingsfarbe. Überhaupt schwelge ich seit einiger Zeit sehr gern in Farben. Vielleicht liegt es am Porzellanmalen oder an den winzigen Sachen, die ich für meine Mäuse bastele.

Heute würde ich am liebsten einen roten Mantel anziehen und damit zurückkehren in die Winter meiner Kindheit. Vielleicht einen Paddington-Mantel. Oder, noch besser, einen ganz bunten. Aus verschiedenen Stoffen, in lauter verschiedenen Farben, mit lauter verschiedenen Mustern. Einen Flickenmantel, ungewöhnlich und warm wie der von Allerleirauh. Oder wenigstens eine leuchtend rote Mütze. Egal, ob die Haare kleben oder elektrisch werden. Und dann hinaus in den Winter laufen. Mitten hinein in den Schnee springen. Die Arme hoch reißen. Mit der Zunge die Flocken fangen.

Die rote Mütze (Tim Gouw/unsplash)

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Die Geister der vergangenen Winter (1)

Eiszapfen (Anders Wetterstam/unsplash)

Bücher und Märchen, in denen es eiskalt und tiefster Winter war, mochte ich am liebsten. Ich liebte Geschichten über riesige Trolle und mächtige Eisbären, flirrende Nordlichter, zottelige Rentiere, listige Silberfüchse und wilde Räubermädchen, mit gemütlichen Zwergenzimmern zwischen knorrigen Baumwurzeln und mit der gruseligen Baba Yaga, die in einem Knochenhaus wohnt, das auf Hühnerbeinen steht, und in einem großen Mörser durch die Luft fliegt. Doch vor allem liebte ich den Schnee. Er verwandelte die Welt, hüllte sie in unschuldiges Weiß, verzauberte sie über Nacht in ein fremdes Wunderland. Alles war anders, wenn Schnee lag. Sogar das Licht, das morgens durch den Vorhang drang. Und die geheimnisvolle Stille!

Schneebank (gamapix/pixabay)

Wenn ich in den Kindheitswintern aus der Haustür trat, gab mir die Kälte zur Begrüßung gleich einen Nasenstüber und zwei Ohrfeigen und verschlug mir sekundenlang den Atem. Dann packte sie mich mit festem Griff und sorgte in Windeseile dafür, dass meine Finger und Zehen taub wurden und meine Lippen aufsprangen. Sie ließ Ohren und Wangen erkalten und färbte Lidränder und Nasenspitze brennend rot. Wenn ich aus der Kälte zurück ins warme Haus kam, schmerzte das Auftauen und Aufwärmen so sehr, dass ich am liebsten geschrien hätte.

Doch ich mochte die frische, klare Luft, die sich so knistrig und knusprig anfühlte. Ich konnte den Schnee bereits riechen, bevor er zu fallen begann. Ich konnte ihn sogar fühlen, denn er machte mir feine, spitze, hohe Kopfschmerzen, meist an den Schläfen, gelegentlich auch über der Nasenwurzel. Auch Kälte allein konnte Kopfschmerzen machen, wobei sich die Kopfhaut irgendwie verkrampfte. Dagegen halfen Mützen und Schals, doch mit denen hatte ich meine Probleme.

Viburnum (Katya-guseva0/pixabay)

Mich faszinierte die gleißende Unberührtheit des winterlichen Gartens, die weiß überhauchten Hagebutten, die orangefarbenen Zieräpfel, die es schafften, selbst aus all dem Weiß noch kräftig hervorzuleuchten, die korallenroten Beeren an den Sträuchern, die schneebeladenen, glitzernden Felder und Wälder. Bloß auf den Straßen wurde die Pracht allzu schnell zu hässlichem, braunen Matsch, der die Schuhe aufweichte und an die Hosenbeine spritzte.

Hoch über mir schimmerte der Winterhimmel in Wasserfarben von zarthellblau bis drohend dunkelgrau, und abends, wenn die Engelchen backten, wie meine Oma Ninni es nannte, nahm er die schönsten Rosa- und Lilatöne an, vor denen sich die nackten Bäume und Sträucher scharf und schwarz abzeichneten wie Scherenschnitte von Lotte Reiniger.

Winterzart (Yang Shuo/unsplash)

Damals war der Winter noch die Zeit der Angorawäsche, der dicken Wollschals und gestrickten Mützen, die ich so gar nicht mochte. Nicht mal die flauschige weiße aus Kunstpelz, die man unter dem Kinn zuband. Genau die hatte ich mir sehnlichst gewünscht, weil die anderen Mädchen im Dorf auch so eine hatten und darin beneidenswert eskimoartig aussahen. Doch als ich das heißersehnte Traumteil endlich auspackte und zum ersten Mal stolz ausprobierte, sonntags in der Messe, war ich tief enttäuscht und hätte das Ding am liebten nie wieder angezogen, weil ich darunter so schwitzte, dass mir die Haare wie ein nasser Helm am Kopf klebten und die Kopfhaut wie verrückt juckte. Selbst malerische Eskimomützen waren für meine empfindliche Haut und meine übersteuerte Wärmeregulierung Quälerei.

Genau wie all die vielen Schals, auch wenn sie noch so schöne Streifen hatten und blau waren. Die kratzigen Wollschals gaben mir das unangenehme Gefühl, vom eigenen Halswärmer stranguliert zu werden. Mama sagte: „Stell dich nicht so an!“ Sie hatte eine sehr feine Nase und sehr feine Ohren, aber eindeutig keine hochsensible Haut, und bestrickte mich unermüdlich weiter mit Mützen und Schals. Richtige Kunstwerke, meist sogar liebevoll gefüttert. Es musste doch sein, damit die kleine Mützenhasserin nicht krank wurde! Sobald Mama mich nicht mehr sehen konnte, riß ich mir mit rabenschwarzem Gewissen die Mütze ab und ließ den Schal frei. Gleich nach der nächsten Straßenecke. Gemerkt hat sie es trotzdem. Wahrscheinlich weil meine Ohren und mein Kopf so kalt waren. Aber ich fand Kälte immer schon angenehmer als Hitze.

Schnee mit Mütze (Tim Gouw/unsplash)

 

 

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Cookie Days

Weihnachtsteig (silviarita/pixabay)

Für mich waren die „Cookie Days“ meiner Kindheit einfach nur schön. Im ganzen Haus duftete es nach Weihnachtsbäckerei. An gleich mehreren Nachmittagen durfte ich mit Mama Plätzchen ausstechen und Teigreste naschen. Wir buken Buttergebäck, Kleiebrötchen (bei uns hießen sie merkwürdigerweise Kleinebrötchen, wahrscheinlich wieder eine meiner zahlreichen verbalen Fehlleistungen), Nuss- und Kokosmakronen, Berliner Brot, Spritzgebäck, Zimtsterne, Anisgebäck (leider zu hart, außerdem roch es komisch) und Heidesand (eigentlich Schwarzweißgebäck, aber bei uns hieß es meistens Stuyvesand, genau wie die Zigaretten von Onkel Heinz, alles andere ergab für mein Kinderwortgefühl irgendwie keinen Sinn).

Die gemeinsame Plätzchenbackzeit habe ich ausnahmslos als warm, gemütlich, wohlduftend und entspannt in Erinnerung. Als winzige Oase und rettende Insel im wilden, hektischen Vorweihnachtsstress. Ist es möglich, dass meine Erinnerung trügt? Eine ehemalige Klassenkameradin machte mir neulich die erschütternde Mitteilung, sie sei nur ein einziges Mal dabei gewesen und das habe ihr für alle Zeiten gereicht. Sie sei übel ausgeschimpft worden, weil ihre Kekse angeblich nicht perfekt waren, und heulend nach Hause gelaufen. Komisch, dass ich mich daran beim besten Willen nicht erinnern kann. Ich hab doch sonst ein Gedächtnis wie ein Elefant! Vielleicht möchte ich das auch gar nicht erinnern, denn beim Plätzchenbacken war und ist die Welt für mich in Ordnung. Cookie times are perfect bliss!

Vielleicht hat das arme Mädchen damals nur die seltene Mutter-Tochter-Idylle gestört? Aber es stimmt, Geduld war wirklich nicht die Stärke meiner Mutter. Am besten, man machte alles „richtig“, also genau so, wie sie es sich vorstellte. Möglicherweise habe ich beim Backen damals ausnahmsweise alles „richtig“ gemacht? Vor allem habe ich ja nur begeistert zugeguckt. Mit mir hat sie dabei jedenfalls nie geschimpft. Deshalb backe ich auch immer noch ausgesprochen gern. Vor allem Plätzchen!

Meine Spezialität sind Vanillekipferl, Friesenkekse, Pfefferkuchen und Heidesand. Hauptzutat: ganz viel Liebe und Zuwendung.

Alles bereit (NickyPe/pixabay)

Bei mir gibt es jedes Jahr „Erinnerungsplätzchen“ nach den Rezepten meiner Vorfahren, auch wenn ich sie gelegentlich leicht abwandle. Das Heidesandrezept meiner Mutter stammte in Wirklichkeit von ihrer Schwiegermutter, und „die Omi“ hatte es offenbar sogar noch von ihrer Mutter. Es kommt wohl aus einer Zeit, als es noch keine Kühlschränke gab.

Die fertigen Teigrollen müssen auf einem Küchenhandtuch, das vorher leicht mit Zucker bestreut wird, sanft hin und her gerollt werden, und danach wird das Handtuch zugeknotet und (das ist ausdrücklich so schriftlich festgehalten und dick unterstrichen) eine Nacht im Keller aufgehängt. Vielleicht wegen der Mäuse? Das Aufhängen sei unbedingt nötig, behauptet meine gesamte Verwandtschaft väterlicherseits. Sie alle hängen ihr gezucktertes Handtuch mit dem Teig eine Nacht in den Keller. „Sonst schmecken die Plätzchen nicht richtig. Die Omi hat das auch immer so gemacht!“

Ruhender Teig (BFL)

Ich war mutig und wagte die Probe aufs Exempel. Ein Teigdrittel kam nebst Handtuch in den Keller und wurde aufgehängt, ein Drittel wurde im Keller nicht aufgehängt, und das letzte Drittel landete nebst Handtuch unten im Kühlschrank. Geschmacklich gab es nach dem Backen bei meinen Testessern keinerlei Unterschiede, und selbst meinen extrem hochsensiblen und kritischen Geschmacksknospen fiel nichts aus. Seitdem ruht bei mir der komplette Teig im Kühlschrank. Und  lächelt höchst zufrieden, während er ruht. Echt jetzt! Meinen Mann erschrecken die friedlichen Gesichter in der Kühlung zwar manchmal, aber er gewöhnt sich daran. Allerdings sind meine Plätzchen etwas größer als Omis und Mamas, haben weniger Kakao und bleiben kürzer im Ofen, so dass sie insgesamt deutlich heller ausfallen. Sie sind also doch nicht genau so wie die von der Omi, da haben meine Cousinen schon recht.

Ich habe grundsätzlich immer nur ein Blech im Backofen, auch wenn die Backerei dann länger dauert und ich eine ganze Weile neben dem Herd verbringen muss, weil ich nur so den Bräunungsgrad perfekt abpassen kann. Sobald meine hochsensible Nase meldet, dass die Plätzchen fertig sind, befreie ich sie auf der Stelle.

Wirklich wichtig beim Heidesandbacken ist übrigens, dass sämtliche Zutaten vor dem Vermengen ganz fein gesiebt werden und ein Teil des Mehls durch Mondamin ersetzt wird. Damit die Plätzchen auch richtig schön zart auf der Zunge zergehen. „Das hat die Omi auch immer so gemacht!“ Und die Uromi aus Krefeld wahrscheinlich auch. Mondamin gibt es nämlich schon seit 1896.

Backfreude (Congerdesign/pixabay)

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