Du brauchst KEINE Luftveränderung! – Rettungsversuch

Balance (A_Different_Perspective/pixabay)

Triggerwarnung: Dieser Eintrag  kann möglicherweise hochsensible oder traumatisierte Personen verstören, es gibt jedoch am Ende eine entspannende Auflösung.

Während meiner Traumatherapie habe ich gemeinsam mit meiner Therapeutin alles Mögliche versucht, um die unerträglichen Bilder wieder aus meinem Kopf zu bekommen. Es dauerte lange, bis ich einen Weg gefunden hatte, der für mich richtig war. Das Schlimmste war damals, dass ich nichts hatte tun können in der traumatisierenden Situation, dass ich mich so unendlich hilflos gefühlt hatte und danach den Bildern  wehrlos ausgeliefert war. Die Flashbacks waren schrecklich, ich steckte fest in einer Endlosschleife des Entsetzens. Es ist ein unfassbares Geschenk, dass die Therapeutin, die mich durch meine schweren Angstkrisen begleitet hat, in meinem Inneren immer noch präsent ist. Vielleicht macht das eine wirklich gute Therapie aus? Die beruhigende Stimme bleibt, sie hilft dir, deine Gefühle zu ordnen, wenn es dir schlecht geht. Als ich die vielen, vielen Berichte der anderen „Verschickungskinder“ las, war ich so fassungslos, dass mich wieder die kalte Hilflosigkeit und Ohnmacht packte, die ich als Kind so gut kannte. Was würde meine Therapeutin mir wohl in dieser Situation raten?

Die innere Therapeutin

Ich lag schlaflos im Bett und stellte mir vor, wie ich ihr im Therapiezimmer gegenüber sitze, sehe die Steine und Muscheln auf der Fensterbank, beobachte, wie die Sonne durch die feinen Gardinen fällt, Muster auf den Boden malt, wie die Palme in der Ecke lange spitze Schatten wirft, ertaste mit den Fingerkuppen den senffarbenen Sofastoff, sehe sie gegenüber in ihrem Sessel sitzen, höre ihre vertraute Stimme und spüre ihren ruhigen Blick. Was würde sie mir in diesem Gefühlschaos raten?

„Was kannst du denn jetzt noch tun, um der kleinen Beate zu helfen?“ Das hat sie mich schon oft gefragt, denn die meisten meiner Angstprobleme wurzeln in der Kindheit. Gute Frage. Zunächst fällt mir wieder mal nichts ein. Immer wieder darüber reden? Mit anderen Betroffenen? Mit Nicht-Betroffenen? Irgendwie steigert das meine Unruhe nur noch. Es muss wohl sein. Plötzlich kommt ja endlich alles, alles ans Licht! In einem ungeahnten Ausmaß. Wir müssen darüber reden! Bisher hat sich nie jemand dafür interessiert, was uns passiert ist in diesen „Kindergenesungsheimen“. Wir selbst haben geschwiegen, haben das Erlebte tief in uns vergraben. Wer hätte uns auch ernst genommen? Wir haben es abgespalten, vergessen. Nun ist es wieder da, als wäre es gestern gewesen. Oder sogar heute. Jetzt.

Das Schweigen ist gebrochen. Wie ein riesiger Damm. Bis vor kurzem waren die Kurkinder davon überzeugt, dass nur sie allein betroffen wären. Nur sie waren zu dünn, zu dick, zu kränklich, erholungsbedürftig. Einzelschicksale eben. Jetzt sind wir auf einmal so viele und werden täglich mehr. Wir sind nicht länger allein! Man nimmt uns wahr, hört unsere Geschichten, sieht unsere Kindernot. Für viele zum ersten Mal. Das ist ungewohnt, zum Teil sogar erschreckend. Was macht das mit ihnen? Was macht das mit mir? Hilft es mir, mich der Lawine von eigenen und fremden Erinnerungen auszusetzen? Die Berichte der anderen zu lesen, die zum Teil so schrecklich sind, dass mir der Atem stockt? Wie können wir uns jetzt schützen? Wie kann ich mich schützen? Hilft es, darüber zu schreiben? Bringt es Erleichterung? Mir hilft es tatsächlich. Ich bewältige meine Probleme am besten durch Schreiben. Ich habe kaum noch dunkle Seelenecken, habe auch schon mehrfach über meine „Kur“ geschrieben, in meinem ersten Roman, einer Kurzgeschichte, meinem Angstbuch. Und tue es auch jetzt wieder. Schon die ganze Woche. Aber mich wundert, dass mich das Thema trotzdem zutiefst verstört und nachts um den Schlaf bringt. Die unverarbeiteten, jäh aufgebrochenen Geschichten der anderen zu lesen, die zum Teil klaffen wie offene Wunden, wühlt vieles wieder auf. Ich blicke in den geheimen Abgrund meiner ganzen Generation, sehe das Entsetzen, die Verlassenheit, den Schmerz der Kinder und beginne innerlich zu schwanken, gerate aus dem Gleichgewicht. Was ich höre und lese, ist für mich unvorstellbar.

„Die Kinder mussten ihre eigene Kotze essen“, sage ich zu meiner Therapeutin. „Sie wurden in dunkle Zimmer gesperrt, geschlagen, zwangsgefüttert. Mißbraucht. Kindern, die weinten, wurde der Mund zugeklebt. In stockdunkle Abstellkammern hat man sie gesteckt und vergessen. Es war noch viel schlimmer als ich immer gedacht habe. Das ist alles so entsetzlich! Die haben uns systematisch krank gemacht. Vielleicht waren wir ja gar nicht zu dünn oder zu dick, zu zart oder zu anfällig oder schwächlich wie wir immer geglaubt haben, sondern ganz normal? Vielleicht brauchten wir überhaupt keine Luftveränderung?“ „Ihr brauchtet bestimmt keine Luftveränderung“, sagt meine innere Therapeutin.  Ich erinnere das schreckliche Gefühl, „falsch“ zu sein. Als hochsensibles Kind war es bei mir ohnehin allgegenwärtig. Es ist Teil meiner bisherigen Biografie, dass ich so „empfindlich“ war, dass man mir „Reizklima“ und frische Seeluft verordnete. Meine Lebensgeschichte stimmt an dieser Stelle so nicht mehr.

Hilfe suchen, aber wo?

„Hättet ihr damals selbst etwas tun können?“ fragt die ruhige Stimme. Ich überlege. „Vielleicht die Polizei rufen? Aber hätte man uns geglaubt? Und wer von uns hätte sich das getraut? Nein, die Erwachsenen hätten uns bestimmt nicht geglaubt! Auch die Polizei nicht! Die Heimleute wären stärker und überzeugender gewesen.“ „Es sind aber doch auch Heime geschlossen worden“, gibt meine innere Therapeutin zu bedenken. „Irgendwer muss sich da doch erfolgreich beschwert und gewehrt haben.“ Ja, solche Eltern gab es sicher auch. Aber bestimmt nicht viele. Es war nicht mal in der Presse damals“, sage ich. „Wir haben echt keinen interessiert. Alles ist im Sand verlaufen. Wir waren denen total egal.“ Ich erinnere mich, vor einigen Wochen in der Zeitung über den Suizid eines Mannes gelesen zu haben, der als Kind in Niendorf in „Kur“ war und dort tiefe seelische Schäden erlitt, die ihn irgendwann zu diesem Schritt zwangen. Dieser Mann war genau dort, wo ich auch war. Ich sah Fotos von den beiden Heimen. In meinem Heim waren damals allerdings nur Mädchen. Es muss das andere gewesen sein. Damit hat es bei mir angefangen. Ich las die Notiz und war wie elektrisiert. Ich fing an, im Internet zu suchen nach anderen „Opfern“. Dann kam der Report-Bericht im Fernsehen. Ich schaltete genau in dem Moment an, als er anfing. Danach war alles anders.

„Was fällt dir denn sonst noch als mögliche Hilfe für die Kinder ein?“ fragt meine innere Therapeutin. „Wir hätten unsere Eltern alarmieren können. Wenn wir alle unsere Eltern benachrichtigt hätten…..“ Ja, was dann? Falls das überhaupt machbar gewesen wäre bei der totalen Überwachung. Telefonieren ging nicht, die Post wurde kontrolliert. Was hätten wir denn tun können? Nichts. Gar nichts. Das ist die traurige Wahrheit.

„Fallen dir noch andere Lösungen oder Bilder ein? Du weißt ja, dass deine Gedanken dir gehören. Du kannst dir alles vorstellen, was du willst.“ Sie hat recht. Ich versuche es. Aber mich stören die schwarzen Schatten die Realität. Hilfe von den Eltern? Das wäre illusorisch. Viele Eltern waren nicht besonders liebevoll und emphatisch, was ihre Kinder betraf. Sie schlugen, sie demütigten, sie erniedrigten ihre Kinder. Es gab sogar Eltern, die ihre Kinder auch zuhause nachts nicht aufs Klo ließen, wie ich zu meinem Entsetzen letzte Woche von einer Gleichaltrigen erfuhr. Es war nichts Neues für sie, als sie in „Kur“ war. So was gab es also nicht nur im Heim! Wie entsetzlich! Sie musste hinters Bett machen, um sich zu erleichtern, und wurde dafür bestraft. „Dann musst du deine Blase eben besser trainieren!“ Zur Strafe gab es Schläge mit der Rute und Striemen auf den Beinen. In der Schule fiel es keinem auf. Viele Kinder hatten Striemen auf den Beinen. Bei den eigenen Eltern gab es solche Szenen! Dabei bekommen doch selbst Katzen ein Katzenklo!

Nein, die Eltern waren keine Lösung. Auch wenn sämtliche Eltern gekommen wären und uns weggeholt hätten, wäre uns Kindern doch das Gefühl der Ohnmacht geblieben. Viele Eltern waren damals gefährlich. Kriegstraumatisiert, unberechenbar, vergiftet durch ihre eigene strenge Erziehung. Wir waren hilflos. Wir waren Opfer. Aus eigener Kraft konnten wir uns nicht retten. „Die Erwachsenen haben wir überhaupt nicht interessiert“, sage ich traurig. „Wir hatten keine Chance. Mir fällt nichts ein, das uns hätte helfen können.“ Aber gerade das Gefühl der Wehrlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit lähmt Menschen, die ein Trauma erlitten haben. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Vielleicht liegt es an den Heimnächten, dass ich in anderen Wohnungen und vor allem im Urlaub solche Probleme mit Toiletten habe? Wie oft habe ich als Besucherin mit voller Blase am Tisch ausgeharrt, nur weil ich mich nicht traute, aufzustehen und aufs Klo zu gehen. Und wie oft war ich so lange „verstopft“, bis ich endlich wieder zu Hause war. Einmal über eine Woche lang, ich hatte damals Angst zu platzen und keine Ahnung, wie mein armer Körper es anstellte, all das Essen einfach wegzustecken. Als Erwachsene!

Nachtmond (cocoparisienne/pixabay)

Szene: Nächtlicher Schlafsaal

„Es muss ja nicht zwingend realistisch sein“, sagt meine innere Therapeutin. „Schauen wir uns deine angstbesetzten Situationen mal genauer an. Welche Szene war denn besonders schrecklich?“ „Die Nächte im Schlafsaal. Wenn wir nicht mehr auf Toilette durften. Wenn wir die Bauchkrämpfe bekamen, wenn wir uns vollmachen mussten, weil es nicht anders ging. In nassen Betten liegen. Die Unterwäsche heimlich auswaschen. So was ist doch unmenschlich!“ Ich merke, dass ich immer wütender werde auf diese gnadenlosen, grausamen Erwachsenen. „Ich glaube, das waren alle Nazis. So was ist doch Folter. Kinder zu zwingen, ihre eigene Kotze zu essen!“ Jetzt werde ich richtig wütend, denke an die vollen Teller mit scheußlichem Essen und kann kaum noch sprechen.

Meine Therapeutin sieht mich an. „Bleib erst mal bei deinem Schlafsaal, sonst wird das zu viel. Du könntest vielleicht das Script umschreiben. Das haben wir damals in deiner Traumatherapie ja auch getan.“ Stimmt. Damals habe ich erkannt, wie unglaublich stark unsere Fantasie sein kann, dass wir unsere Gedanken und Gefühle jederzeit in andere Bahnen lenken können, dass wir auch im Nachhinein noch schlimme Erfahrungen ändern können, und ich bin doch Schriftstellerin! Ich würde so gern versuchen, auch anderen damit zu helfen. Da sich unsere Bilder so ähneln, könnte es vielleicht gelingen? Ich möchte, ich muss, unser Kinderdrehbuch neu schreiben. Die Szene im Schlafsaal neu, anders verfilmen und abspeichern. Ich spüre, dass es für mich auch diesmal der richtige Weg ist. Aber auch für die anderen? Ich wünsche es mir so sehr!

„Was könntest du denn ändern in deiner Szene?“ fragt meine innere Therapeutin. „Wir könnten alle gleichzeitig auf den Flur rennen“, sage ich. „Gegen 12 Mädchen gleichzeitig wär selbst die Drachenfrau nicht angekommen.“ „Gut, dann stell dir das jetzt ganz genau vor. Wie ihr euch aufstellt, was hörst du, was riechst du, was siehst du, wie fühlt sich der Boden unter deinen Füßen an?“ Ich versetze mich in den dämmrigen Schlafsaal, kurz nachdem das Licht gelöscht wurde, höre die leisen aufgeregten Stimmen der anderen, der Boden ist kühl und glatt, es riecht nach Betten, Bohnerwachs und „Kindergenesungsheim“. Wir haben den Plan mittags am Strand gefaßt, haben uns gut dabei gefühlt, wir tun jetzt endlich was und wehren uns! Das dürfen die mit uns nicht machen! Wir schleichen zur Tür und rennen alle gleichzeitig auf Kommando los. Die Drachenfrau lässt ihr Buch fallen und springt auf. Wir laufen an ihr vorbei so schnell wir können. Wir lachen dabei, fühlen uns stark.

„Wie fühlt sich diese Vorstellung an?“ Gut. Sehr gut. Nebeneinander fliegen wir zu den Waschräumen, vorbei an der verhaßten Drachenfrau, gehen aufs Klo, wenn wir müssen, einfach so, ohne ihre Erlaubnis. Weil wir jetzt frei sind! Wer nicht muss, wartet draußen auf die anderen. Wir lassen uns durch nichts und niemanden mehr aufhalten. Frau Mahlzahn kann höchstens eine von uns packen, und die wehrt sich gleich mit Zähnen und Klauen. Die anderen kommen ihr sofort zu Hilfe. Das schaffen wir locker. Zusammen sind wir stark! Frau Mahlzahn kann schreien und toben, wie sie will, wir sind einfach mehr.

Aber wäre das wirklich die Rettung? Es ist eine gute Szene, aber sie ist in meinem Kopf leider schnell zu Ende. Vielleicht traut sich keine von uns, den Drachen zu treten und zu kratzen. Vielleicht trauen wir uns nicht, dem mutigen Mädchen zu Hilfe zu kommen. Und schon tauchen andere Erwachsene im Flur auf, scheuchen uns ärgerlich zurück in den Schlafsaal. Was fällt euch ein? Seid ihr alle verrückt geworden? So geht das nicht! Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt! Jetzt werden hier andere Saiten aufgezogen! Wir waren so erzogen, dass wir uns nicht wehrten. Wir werden nicht nur ausgeschimpft. Wir werden bestraft. Geschlagen vielleicht. Bekommen noch mehr Ungenießbares zu essen. Werden von nun an richtig eingesperrt. Am nächsten Tag wird die Tür zum Schlafsaal abgeschlossen, und wir sitzen wie Mäuse in der Falle. Ich leide bis heute an Klaustrophobie, muss in fremden Räumen immer in der Nähe von Türen oder Fenstern bleiben. Ich war schon oft eingeschlossen in meinem Leben. Im abgeschlossenen Schlafsaal liegen wie im Gefängnis? Schrecklich. Das ist vielen von uns auch ohne Revolte passiert. Nein! „Es funktioniert nicht“, sage ich zu meiner Therapeutin. „Es ist alles umsonst.“

Doch so schnell  gibt sie nicht auf. „Was ginge noch?“, fragt sie. „Aus dem Fenster steigen?“ Zu hoch. „Einfach abheben wie Peter Pan und Wendy?“ Schöne Vorstellung, aber sie überzeugt mich nicht. Das ist nur ein Traum. So funktioniert das nicht! Die Bilder sind alle falsch. Ich bin enttäuscht. Die Szene, wie wir alle gemeinsam aus dem Haus stürmen und runter an den Strand laufen, spiele ich schnell noch in meiner Fantasie durch, weil sie so verlockend ist, höre und rieche dabei das Meer, spüre die Steine und den Sand, den Mond und den Wind. Doch schon verfolgen uns wieder die Erwachsenen, schleppen uns zurück ins Heim. Bestrafen uns. Mein Realitätssinn macht mir einen Strich durch meine Szenen. Doch meine innere Therapeutin lässt nicht locker.

Schutzwolf (jimoody8/pixabay)

Schattenwölfe

„Wer könnte euch denn sonst noch helfen? Du weißt ja, das in der Fantasie alles möglich ist. Wichtig ist das Gefühl, das du dabei hast! Dein Gefühl!“ Stimmt. Ich löse mich zäh und schwerfällig von der Realität, wage mich tiefer hinein in meine Fantasie. Mir fallen die wunderbaren Schattenwölfe aus „Game of Thrones“ ein. Riesige Wölfe, jedes Kind hat einen, der neben oder auf seinem Bett liegt und es bewacht. Nymeria, Lady, Ghost, Summer. Die Wölfe sind immer da. Ständig zuverlässig in der Nähe. Sie kämpfen für ihre Kinder, geben ihr Leben für sie. Auch wenn die Kinder erwachsen sind, bleiben sie bei ihnen wie Schutzgeister oder Göttergeschenke. Ein gigantischer Schattenwolf, der drohend die Zähne fletscht, knurrt und geifert, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Ja, so einen Schutzgeist hätte ich auch gern. Endlich hätte ich einen starken Beschützer. Ein bisschen wie die Tigerin, die ich zur Abschirmung in meinem inneren Vorzimmer installiert habe. Das war auch so ein heilsames Bild, das mir als Hochsensible bis heute gegen Reizüberschwemmung hilft.

„Und wie fühlt sich so ein Leben mit einem Schattenwolf an?“ Richtig gut! Ich atme tief  durch. Entspanne mich. Was für eine Erleichterung! Die Schattenwölfe kümmern sich jetzt um uns. Wir brauchen unsere Eltern nicht. Die waren ohnehin so sehr mit ihren eigenen Problemen belastet und hinter ihrer Schweigemauer verbarrikadiert, dass sie für uns und unsere Probleme keinen Blick hatten. Viele Kinder mussten damals schon früh die Eltern ihrer eigenen Eltern sein, Verantwortung tragen, sie abschirmen, immer auf der Hut, sie nicht zu „reizen“. Jetzt verteidigen uns die Schattenwölfe gegen die Erwachsenen. Knurren die Eltern an, wenn sie zu weit gehen, springen der Drachenwache an die Kehle, beißen die Heimleiterin, wenn es nötig ist. Versetzen alle in Angst und Schrecken. Nur uns nicht. Durch sie sind wir stark. In Sicherheit. Beschützt. Aber wäre die Schattenwolflösung hier im Schlafsaal wirklich von Dauer? Ich schlucke.

Wieder kommt mir die Realität in die Quere. Das Bild stimmt einfach nicht. Die Heimleitung hätte unsere schönen Wölfe eingefangen und mit Gewalt weggesperrt. Sogar in „Game of Thrones“ erwischt es einen Wolf nach dem anderen. „Die hätten uns von unseren Wölfen getrennt“, sage ich traurig. Die Ohnmacht, die mich als Kind Tag und Nacht begleitet hat, vor allem nachts, packt mich wieder. Es muss doch irgendwas geben, das ich tun kann! Mir fallen noch die Daemonen aus „Der Goldene Kompass“ ein. Das Kind in mir liebt Geschichten, in denen man nicht allein ist. In „Der Goldene Kompass“ hat jeder Mensch ein Tier, das untrennbar zu ihm gehört. Es ist nie allein. Aber mein Seelentier ist dummerweise die Häsin, und sehr wehrhaft ist die wirklich nicht. Sie kann zwar schnell laufen und Haken schlagen, sie ist mythisch und wunderschön, aber im „Kurheim“ wäre sie kaum ein gutes Schutztier. Oder ein Flaschengeist, der alles tut, was man ihm aufträgt? Auch so eine Märchenfigur, die ich als Kind mochte. Aber an Zauberkräfte kann ich hier im Schlafsaal nicht glauben. Ich verwerfe die Schutzgeister.

Die Rettung der Kinder

„Ich kann nichts tun“, sage ich. „Es gibt immer was, das man für sein inneres Kind tun kann“, beharrt meine Therapeutin. „Vielleicht solltest du mal versuchen, ganz von außen in die Szene zu gehen. So wie du jetzt bist. Wie du dich gerade fühlst. Mit deiner ganzen Wut, mit deinem ganzen Schmerz.“ Ich sehe sie an. Und da kommt mir mit einem Schlag die Erleuchtung. Dass es das richtige Bild für mich ist, fühle ich daran, dass mich ein intensives, warmes Glücksgefühl überflutet. Dass mir die Tränen kommen, dass ich unendliche Erleichterung spüre, dass sich der Mühlstein auf meiner Seele auflöst. Ich kann die kleine Beate wirklich immer noch aus diesem verdammten Schlafsaal retten. Sogar jetzt noch. Nach fünfzig Jahren. Es ist gar nicht so schwer. Und ich glaube, dass alle Kurkinder das können, nicht nur ich.

In mein Filmscript baue ich jetzt einen Cut mit Szenenwechsel einAußer dem Schlafsaal, in dem die verängstigten Kinder wieder gehorsam in ihren Betten liegen, und dem Flur mit der lesenden Drachenwache gibt es jetzt noch einen weiteren Schauplatz. Die Kamera schwenkt zur großen Eingangstür des Heims, vor der sich immer mehr Menschen einfinden. So viele Menschen wie Kinder im Inneren des Gebäudes. Sie kommen aus allen Richtungen, aus allen Teilen Deutschlands, zum Teil vielleicht sogar aus anderen Ländern. Wir sind es selbst, die Kinder von damals, so wie wir heute sind. Sehr viel älter als unsere Eltern damals waren, älter als die Drachenfrau und die Heimleiterin, zum großen Teil Mütter und Großmütter. Etliche von uns haben inzwischen Enkel in dem Alter, in dem wir selbst damals waren. Unsere Enkel würden wir sofort aus so einem grausamen Heim holen, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum also nicht uns selbst? Wir schauen einander fragend an. Helma, bist du das? Veronika? Anita? Sie lächeln und nicken.

Wir haben den Schlüssel und wir kennen den Weg. Wir schließen die dicke Glastür auf, steigen im Dunkeln lautlos die Treppe hoch. Lassen das Licht aufflammen, betreten gemeinsam den Flur, in dem die Drachenwache sitzt. Sie schaut erschrocken auf, schnellt hoch, starrt uns fassungslos an. „Was wollen Sie hier? Wer sind Sie? Wer hat Sie überhaupt hier reingelassen?“ Die geballte Verzweiflung unserer Kindheit, der geballte Zorn unserer Jugend, die geballte Wut unseres Alters schlägt ihr entgegen und schleudert sie gegen die Wand. Dort bleibt sie zappelnd hängen. Dazu brauchen wir keine Schattenwölfe, keine Polizei, keine Eltern. Wir brauchen kein einziges Wort zu sagen, sie weiß, dass es aus ist. Und wir wissen das auch.

Alle sind wir gekommen. Eine Frau für jedes Mädchen, das in diesem Schlafsaal im Antoniushaus in Niendorf liegt. Und im nächsten Schlafsaal einen Flur weiter und in allen anderen Heimen am Meer, an den Seen, in den Bergen ist es ganz genauso. Auf alle Flure strömen in diesem Moment die Menschen. Frauen und Männer, die ihre Kinder befreien werden. Die Gegenwart besiegt die Vergangenheit. Wir setzen die Zeit außer Kraft.

Die Augen der Drachenfrau weiten sich, sie versteht nicht, was passiert. Doch sie weiß, dass ihr Schicksal besiegelt ist. Die Herrschaft der Nachtwachen, Wärter und Heimtyrannen ist zu Ende. Die Herrschaft all dieser Erwachsenen ist zu Ende. Wir holen uns unsere Kinder zurück. Jetzt sofort. Endlich. Nach all der Zeit. Beruhigen sie, verstehen sie ohne Worte, trösten sie. Umarmen sie. Tragen sie hinaus. Geleiten sie an der Hand. Aus den Schlafsälen, aus den Heimen. Begleiten sie weiter. Nach draußen. An den Strand, zu den Wellen, auf die Wiese, zum Gras, in den Wald, zu den Bäumen, an den See, zu den Stegen und Booten. Atmen frische, klare Luft.

Und danach werden wir sie mit nach Hause nehmen. In ihr richtiges Zuhause. Nicht zu den Eltern, zu uns selbst. Sie sind nicht länger allein und abgespalten. Wir sind zusammen. Endlich zusammen. Von nun an beschützen wir sie. Das geht auch nach all den Jahren noch. Wir müssen nur vorsichtig sein, denn sie erkennen uns vielleicht nicht, waren schon zu lange allein in der Vergangenheit gefangen und könnten sich beim Anblick der fremden Personen, die ihnen auf so unheimliche Weise ähnlich sehen, erschrecken.

Ich kenne meinen Weg. Ich gehe zum letzten Bett, ganz hinten rechts, direkt am Fenster. In diesem Bett sitzt ein schüchternes schmales Mädchens mit graublauen Augen, das mich unsicher ansieht, einen gestreiften Schlafanzug trägt und einen Steiff-Fisch in der linken Hand hält. Ich überlege, was ich am besten sage, wenn sie mich jetzt fragt, wer ich bin. Ich möchte sie auf keinen Fall erschrecken. Dein Schutzengel, werde ich sagen, falls sie fragt, und sie liebevoll in meine Arme nehmen. Ein verdammt alter Schutzengel, wird sie wahrscheinlich denken, und ich werde ihren Gedanken hören und lächeln. Komm mit, kleine Ata, werde ich dann sagen. Deine Kur ist vorbei. Für alle Zeiten. Du brauchst keine Luftveränderung. Keiner hier braucht Luftveränderung! Wir gehen jetzt alle zusammen zum Strand. Alles wird gut.

Aber ich sehe, dass sie mich schon erwartet. Sie weiß, wer ich bin. Und sie lächelt.

Ocean (Stocksnap/Pixabay)

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„Das Kind braucht Luftveränderung“ (4) – Angelika

Die folgenden Erinnerungen stammen nicht von mir, sondern von meiner Freundin Angelika. Bis vor zwei Wochen hatte ich keine Ahnung, dass auch sie zu den „Verschickungskindern“ gehörte. Was sie während der „Kur“ erlebte, fand in anderen Jahren statt. Nicht 1965, sondern 1968 und 1971. An anderen Orten. In anderen Heimen. In anderen Landschaften. Angelika war nicht am Meer, sie war im Chiemgau und im Schwarzwald.

Zuerst wurde sie nach Ruhpolding „verschickt“. Es war Winter, kalt, überall lag Schnee. Danach war sie am Schluchsee. Es war Sommer, warm, roch nach Sonne und Wald. Ich kann mir die Landschaft gut vorstellen, denn auch ich habe Erinnerungen an diesen Ort. Allerdings völlig andere. Schöne. Ich war dort nicht als wehrloses Kind, sondern als erwachsene Frau. 

Angelika schreibt unter anderem über sexuellen Missbrauch an einem Kind, was bei LeserInnen mit eigenen Missbrauchserfahrungen Flashbacks triggern könnte, daher bitte nur weiterlesen, wenn Sie sich diesem Thema psychisch gewachsen fühlen. 

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Kleines Mädchen  (Alexas_Fotos/pixabay)

Zu dünn, zu blass!

Ich war acht. Oder neun? Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Ein zartes, feingliedriges Mädchen mit langen Zöpfen. „Das Kind ist einfach zu dünn, viel zu blass!“ So hörte ich es von allen Seiten. Heute, mit dem Rückblick auf meine Eltern, ihr Erlebtes, kann ich mir gut vorstellen, dass sie wirklich nur das Beste für mich wollten und über Folgen ihres Tuns nie nachdachten. Wer schickt schon so ein kleines Kind mit dem Zug durch ganz Deutschland?

Ich erinnere mich, wie ich mit den Eltern am Bahnhof stehe, spüre meine Angst. Bis dahin stets wohl behütet von Eltern und zwei größeren Brüdern. 

Ich sehe mein Bett, ich bekam eines an der Wand. Ich sehe den kleinen Beistelltisch, auf dem man Habseligkeiten auslegen konnte. Ich glaube, ich hatte keine. Vielleicht das eine oder andere Buch hat mich begleitet, das könnte ich mir schon gut vorstellen, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich fokussiere in meinen Erinnerungen den Raum, viele Mädchen lagen in einem Zimmer, mindestens fünf bis sechs Betten standen dort.

Mein Vater hatte mir diese Kinderkur schmackhaft gemacht. „Kind, du wirst auf einer schönen Liege, in einer Wolldecke gewickelt hinter einem großen Panoramafenster liegen und die Berge sehen!“ Auf diese Illusion wartete ich die kompletten sechs Wochen. Als ich es erwähnte, wurde ich ausgelacht.

Alle Briefe wurden kontrolliert, es musste uns zwingend gut gehen.

Ich rieche meinen Angstschweiß bis heute, wenn es zum Essen ging. Ich aß, bis heute hat sich das gehalten, vieles nicht. Dort wurde ich gezwungen. Mein Vater schrieb mir, aber die Briefe wurden von der Heimleitung geöffnet: „Für jedes Pfund, das du zunimmst, bekommst du zehn Mark.“

Flashbacks

Ich schaffe es nicht, ganz zurückzugehen, habe Flashbacks um das Thema.

Meine Therapeutin riet mir damals, die Vergangenheit darum ruhen zu lassen, nicht zwangsläufig aufzureißen. Daran halte ich mich. Die Flashbacks ziehen Gerüche, Geräusche, Gefühle mit sich. Unendliche Ängste. Es wurde bedroht, gedroht. 

Ich rieche meinen Schweiß unter meiner nassen Mütze, den Geruch meines Anoraks kann ich abrufen. Ich sehe mich, wie ich versuche, meine uringetränkten Schlüpfer am Becken auszuwaschen. Ich sehe zornige Blicke, höre laute Stimmen, knallendes Geschirr, erinnere stundenlanges vor dem Teller Sitzen (das kannte ich ja schon von zuhause). Die Brote, die verteilt wurden, nach der Eisenbahnfahrt, mein Entsetzen darum, und ich höre meine zarte Stimme, weinerlich, dass ich keine fremden Brote essen könne. Ich aß nur Marmelade- oder Zuckerbrote und bekam ein widerlich dickes Brot vorgelegt mit einer dicken Scheibe Käse. Ich wurde gezwungen. Brechreiz. In einem unbeobachteten Moment die Chance, mir das Brot in die Unterhose zu stopfen. Man glaubte mir, dass ich es aufgegessen hatte. Die schlimmen Milchsuppen mit dicker Haut. Mich ekelt es bis heute.

Sechs lange Wochen

Ich habe mich weggeschaltet, um das zu überleben. Ich kann keine Einzelheiten erzählen, nur das Gesamte betrachten. Die Kur dauerte sechs Wochen. Nach vierzehn Tagen kam der Brief meines Vaters. Nach vier Wochen hatte man mich auf fünf Pfund hochgemästet. Mich, das zarte Kind. Ich bekam einen Fünfzigmarkschein ausgehändigt.

Was haben die mit mir getan? Beim Schreiben merke ich, wie mir die Tränen hochkommen und ich um mich selbst trauere.

Falling down (Free-Photos/pixabay)

Die zweite Kur

Die zweite Kur mit 11 wurde mein Verhängnis auf fast allen Ebenen. Nach dieser Kur wurde ich nicht mehr „verschickt“, von nun an ging es zum Urlaub zu den Verwandten in Bayern. 

Mit 11 hat sich während der Kur ein Betreuer „meiner angenommen“. Ich küsste das erste Mal in diesem Alter. Ihn.

In diesem Alter wurde mein Körper von einem Erwachsenen erforscht. Überall. Dann sein Jammern, dass es ihn den Job kosten könne, wenn das rauskäme.

Danach kam es noch im selben Jahr im Urlaub in Bayern zu weiteren Übergriffen durch einen anderen Erwachsenen.

Ich war früh entwickelt.

Sie haben sich einfach bedient.

Ich kann die Gefühle abrufen.

Ich bekam irgendwann durch Erkrankungen die Diagnose chronische posttraumatische Belastungsstörung. Meine Ängste, das Entsetzen, die immerwährende Hilflosigkeit, die Anstrengung, alles zu überleben, machten mich krank.

Lange konnte ich mich an die Zeit nicht erinnern, habe es so gut vergraben, dass ich irgendwann einen Therapeuten aufsuchen musste, der mit Kinesiologie arbeitete. Mein Körper und meine Seele verrieten mein junges Alter, und dann kamen die Erinnerungen.

Als ich wegen dieses Falles Anspruch auf Opferentschädigung beantragte, zeigte man zwar Mitgefühl, ABER ich hätte ja keine Beweise. Mein Anwalt für Sozialrecht bat mich inständig, den Antrag zurückzunehmen.

Zurückblickend weiß ich, dass ich meine Traumata gut verarbeitet habe. Sicherlich reichten meine Ressourcen, um zu überleben, das Geschehene zu bewältigen. Das dauerte jedoch viele Jahre, sogar Jahrzehnte, und ging nicht ohne therapeutische Hilfe.“

(Angelika C.) 

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Heute ist Angelika kein Opfer mehr. Ihre traumatischen Erlebnisse sind nicht länger verschüttet. Und doch sind die Erinnerungen schmerzhaft und aufwühlend. Und werden es wohl immer bleiben. Ich bewundere ihren Mut, so offen über das Erlittene zu schreiben.

Danke für dein Vertrauen, liebe Angelika. 

Für Geli (cablemarder/Pixabay)

 

 

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„Das Kind braucht Luftveränderung“ (3) – Das Dilemma

Gemeinsam im Sand (congerdesign/pixabay)

Schreibstress

Alles, was wir nach Hause schrieben, wurde im offenen Umschlag eingesammelt und gelesen. Auch die Post, die wir erhielten, kam geöffnet an. Die Enttäuschung, wenn es nichts gab. Ich habe alles gehütet, wie einen Schatz. Zum ganzen Kurkummer kam allerdings erschwerend hinzu, dass ich ein Riesenpensum an Ansichtskarten und Briefen zu erledigen hatte. Meine Mutter hatte bereits alle vorgeschrieben. Ich schrieb sie brav ab, aber es waren einfach tierisch viele. Ich hatte damit jeden Tag Stress. Verwandte, Freunde, Nachbarn, Lehrer, Spielgefährtinnen mussten bedacht werden. Bloß keinen vergessen! Aber die Texte waren falsch! Meine Mutter hat es sicher nur gut gemeint. Auch hier hätte ich gestern in der Bahn fast wieder laut NEIN geschrien. Oder, lieber noch, geheult. Da war es wieder, das alte Kindergefühl. Was für ein Dilemma! Du darfst die Wahrheit nicht sagen, von allen Seiten wird dir eingeredet, was du zu fühlen hast, und du fügst dich auch noch. So was macht Kinder krank! Aber meine Mutter wusste natürlich besser als ich, wie es mir ging. Das habe ich damals mit zehn wirklich geglaubt.

„Hast du auch schon eine Karte an K. und W. geschrieben? Schreibe ihnen folgendes: „Aus dem schönen Niendorf sende ich euch herzliche Feriengrüße. Mir gefällt es hier sehr gut. Die Ostsee ist wunderbar! Ich genieße das Strandleben. Nochmals viele Grüße, eure Beate“ Schaue dir die Adressen im Notizbuch an, ob du allen geschrieben hast. Auch an D. kannst du dasselbe schreiben.“

„Hast du folgenden Leuten schon geschrieben: Frau W. (den Brief hatte ich dir vorgeschrieben), Tante M. (den Brief hatte ich dir vorgeschrieben), B.S., K.D., A.L., K.B., Tante L. bzw. A.? An die Kinder kannst du folgenden Text schreiben: „Dir und deinen lieben Angehörigen sende ich recht herzliche Feriengrüße. Mir gefällt es hier sehr gut. Wir bekommen viel Spaß! Die Zeit vergeht wie im Flug. Nochmals liebe Grüße, Deine Beate.“ Falls dir jemand aus den Ferien geschrieben hat, schreibst du ihnen noch : …. vielen Dank für Eure Post.“ Jetzt will ich im nächsten Brief hören, dass du das erledigt hast.“

Ich habe es erledigt. Oder vielleicht doch nicht ganz. Höchstwahrscheinlich haben alle Kinder mich um den tollen Urlaub beneidet!

„K. sagte mir, du hättest noch nicht an die Klasse und an Frau W. geschrieben. Tue es bitte umgehend. Lass die Karte aber bitte von Fräulein durchlesen, damit du an Frau W. keine Fehler schreibst. Hast du auch an Tante M., K. und A. geschrieben? Teile es mir bitte mit!“

Ostsee Möwe (BFL)

In dieser Hinsicht konnte meine Mutter echt stressig sein. Ich spüre die Kindernot noch gut, während ich das hier schreibe. Aber gegen Ende der Kur ließ sich vieles leichter ertragen. Allerdings bitte ich in meinen Briefen mehrfach darum, die ersten Nächte bei meinen Eltern im Bett schlafen zu dürfen. Das haben sie mir dann auch erlaubt.  Und ich bat auch darum, mein Bett nicht weiß, sondern bunt zu beziehen. Ob meine komische Abneigung gegen weiße Bettwäsche etwa heimbedingt ist? Ich hasse bis heute weiße Bettwäsche.

Im letzten Brief trägt meine Mutter mir auf: „Bitte, Kind, bedanke dich recht herzlich bei allen, die für dich gesorgt haben, und sage ihnen allen, daß es dir sehr gut gefallen hat. Bitte, das mußt du tun, denn du kannst deinen Betreuerinnen und den ehrw. Schwestern nicht genug danken.“

Ich habe mich dann tatsächlich für das ganze Leid dann auch noch bei allen bedankt. Ich habe immer getan, was meine Mutter sagte. Erwachsene wissen schließlich besser, was für Kinder gut ist, als die Kinder selbst. Aber ich muss trotzdem an vielen Stellen lächeln, wenn ich meine Kinderbriefe lese.

„Hier in Niendorf hat sich noch nichts geendert. Ich möchte aber so gern zu dir zurück. (…) Wenn ich zu Haus ankomme möchte ich zuerst zu meinen Kaninnchen. Dann teile ich meine Geschenke aus und esse dann eine Scheibe Rosbölf und Bratkartoffel. Am Freitag koche bitte Nudeln mit Marmelade und Apfelsaft dabei. Zum Nachtisch Annanas. Das sind meine Esswünsche.“

Ich frage mich, wie viele Briefe ich in der Unterhose aus dem Heim geschmuggelt habe. Es ist schon so lange her. Über fünfzig Jahre. Vielleicht kam auch einiges durch die Zensur, weil ich verschwieg, wie schlecht es mir wirklich ging? Die Briefe klingen nicht sonderlich gestresst. Oder doch?

Trauriger Seestern  (DigitalCreamCloud/pixabay)

Kranke Nächte

„Auß meiner Gruppe sind 8 krank. 2 im Krankenhaus und die anderen hier im Heim.“

In meiner Erinnerung erwischte es uns zweimal. Alle gleichzeitig. War es das Essen? Eklig genug war es ja. Die erste Durchfallnacht war der Horror. Wir krochen in besudelten Schlafanzügen durch den Schlafsaal, weil wir uns trotz des Elends nicht in den Flur wagten, zogen die schmutzigen Hosen aus, rollten sie zusammen und stopften sie in die Schränke, weinten, wussten nicht, was wir tun sollten. Warum kam die Nachtwache nicht nach uns sehen? Waren wir echt so leise? War es schon nach Mitternacht? Oder kam dann doch irgendwann jemand, und ich habe es nur vergessen? Ich erinnere die Zittrigkeit, den kalten Schweiß, dass wir immer zu zweit in den Waschraum liefen, als der Flur leer war, um die Sachen auszuwaschen. Aber jetzt waren sie leider klatschnass, das Wasser lief in den Schrank. Und immer noch nicht richtig sauber. Die guten Sachen! Am Morgen gab es erstaunlicherweise kein Donnerwetter, die Heimleute bekamen es wohl langsam mit der Angst zu tun.

„Hier regnet es immer. Ich muß meistens an den Betten von Kindern sitzen, denn die meisten sind hier krank. Schon die ganzen Wochen. Ich werde aber nicht angesteckt. 2 mal habe ich schon gebrochen. Vor Vorgestern und dafor.“

In der schlimmen Nacht ließ Frau Mahlzahn mich sogar ausnahmsweise raus in die Waschräume, weil sie begriff, dass ich mich jeden Moment übergeben musste und der Schwall auch sie hätte treffen können. Aber vielleicht bin ich auch in meiner Verzweiflung einfach so los gelaufen. Ich habe es nur ganz knapp geschafft. Mir war so hundeelend. Geholfen hat mir Frau Mahlzahn nicht. Ich stand klein und würgend vor den Becken, aus dem Spiegel starrte mein kalkweißes Gesicht zurück. Als es endlich vorbei war, trug ich alles mit zitternden Händen ins Klo, weil es das Waschbecken komplett verstopfte. Ich musste ziemlich oft hin und her laufen und weinte dabei. Frau Mahlzahn saß die ganze Zeit auf ihrem Stuhl. Sie sagte auch nichts, als ich zurück in den Schlafsaal schlich. Ich musste in dieser Nacht noch ein weiteres Mal in den Waschraum. Aber da war der Flur schon leer. Mein Bett blieb sauber. Ich habe übrigens keinerlei Erinnerung an die Gesichter dieser Heimfrauen. Ich würde Frau Mahlzahn bestimmt nicht wiedererkennen.

Letters home (BFL)

Der Waschraum

Ich weiß noch, welches Becken es war. Das erste links. Weiter kam ich damals nicht in meiner Not. Zum Klo war es viel zu weit.  Trost durch Erwachsene gab es nicht, doch wir trösteten uns gegenseitig. Wer ins Krankenhaus musste, erinnere ich nicht. Überhaupt liegt über den Krankheitstagen eine dunkle Waberglocke. Vielleicht schützt mich da mein sonst so zuverlässiges Gedächtnis? In den Briefen ist es jedenfalls nur kurz nebenbei erwähnt.

Mich wundert, dass diese Briefe meine Eltern überhaupt erreichten, dass sie all die Jahrzehnte überlebt haben. Aber vielleicht wäre es aufgefallen, wenn ich einen Tag nicht geschrieben hätte. Meine Mutter nummerierte die Briefe, und ich schrieb jeden Tag, wie ich es versprochen hatte. Meine Mutter auch. Ich hoffe inständig, dass sie mit ihren Kontrollanrufen die Heimleitung richtig übel genervt hat. Sie war eine frühe Helikoptermutter und stand sogar mit den Betreuerinnen in Kontakt. Ich habe Briefe von Fräulein M. in Mutters Aktenordner gefunden. Aus der Ferne versuchte sie die ganze Zeit, ihre schützende Hand über mich zu halten. Viel geholfen hat es nicht.

Starfish (Pedro Lastra/unsplash)

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„Das Kind braucht Luftveränderung“ (2) – Briefe aus der Kur

Spuren (Pexels/pixabay)

Gestern habe ich den Karton nach langer Zeit wieder geöffnet. Darin liegen Kinderbriefe und Postkarten, Federn, Blätter, gemalte und ausgeschnittene Bilder und die Briefe meiner Eltern. Ich fand den Karton nach dem Tod meiner Mutter im Keller. Mich rührt, dass sie alles aufbewahrt hat. Die wenigen Fotos und zwei oder drei Briefe hatte ich schon vorher, weil ich sie für meinen Roman brauchte. Dass es noch mehr gab, wusste ich nicht. Ohne diese Briefe könnte ich mich jetzt an vieles nicht mehr erinnern. Dass die kleine Verfasserin eines Tages Übersetzerin und Schriftstellerin werden würde, hätte damals bei der Orthografie sicher keiner für möglich gehalten. Aber wir hatten ja das Pech, Schreiben mit der „Ganzheitsmethode“ zu lernen.

„Die Kinder in meinem Saal sind 12. Ich schlafe mit den Freundinnen zusammen. Wir haben im Speisesaal 4 Tische. (….)  Heute ist es sehr windig und gleich muß ich turnen. Denn daß ist so: Jede Woche werden wir von einem blöden Doktor untersucht und die Kinder die einen krummen Rücken haben schwach sind und krumme Beine haben müssen Turnen. Der Doktor sagt immer zu mir: „Gut aussehendes Kind.“ Denke mal, wie ich mich darüber freuhe.“ 

Hilfeschrei und Restesuppe

Meinen ersten und einzigen Hilfeschrei konnte ich aus dem Heim schmuggeln, weil ihn ein Mädchen aus der anderen Gruppe für mich einwarf, nachdem ich ihn den halben Tag in meiner Unterhose versteckt herumgetragen hatte. Ich hatte ihn nachts im Bett geschrieben, und so sieht er auch aus.

„Ich hab furchtbar Heimweh. Nachts wenn alle schlafen muss ich immer Weinen. Tagsüber müssen wir dauernd eine Stunde still sitzen. Wir bekommen furchtbares Essen. Faule Sachen und vieses Eis.“

Die letzte Formulierung wurde später in der Familie ein geflügeltes Wort, und es wurde immer ausgiebig darüber gelacht. Faule Sachen und vieses Eis! Sie hätten es merken müssen, denn ich liebe Eis. Aber das Heim-Eis war mit gelber Büchsenmilch zubereitet, die an den Seiten zäh herunterfloss, und roch und schmeckte scheußlich. Ich wagte den Hilfeschrei, nachdem wir zum Mittagessen das erste Mal „Restesuppe“ bekommen hatten. In der gräulich braunen, wässrigen Brühe schwammen zwischen Fleischbällchen und Undefinierbarem zu meinem Entsetzen die Reste der Nussecken, die wir am Vortag hatten. Mir wurde schon beim Anblick übel. Aber ich würgte nur ein bisschen und aß tapfer alles auf. Ich wollte kein Suppenkasper sein! Ich war ein braves Kind! Ich aß meine Teller im Heim immer leer und musste nie sitzen bleiben. Meine Mutter konnte stolz auf mich sein.

Dass ich mich so viele Jahre lang mit einer massiven Essstörung herumschlug (und bis heute weder Nussecken noch Sülze anrühre), hat sicher mit dem Heim zu tun. Ich bekam auch als Erwachsene Panik, wenn vor mir ein voller Teller stand. Also in jedem Restaurant und bei jeder Einladung.

Sülze bekamen wir leider jeden Morgen zum Frühstück. Zwei Scheiben lagen immer schon auf dem Teller. Ich habe auf jede erdenkliche Weise versucht, sie loszuwerden. In der Unterhose aus dem Haus geschmuggelt und im Ostseesand vergraben, kleingefetzt ins Klo geworfen, von anderen Kindern essen lassen oder zur Not selbst runtergewürgt. Die Idee, sie in meinen leeren Koffer zu entsorgen, war eigentlich brillant, doch das Depot setzte Schimmel an und begann zu stinken,  und ich flog auf. Über die Szene danach legt sich der milde Schleier des Vergessens. Ich sehe nur noch eine Gestalt hinter einem Tisch, rechts und links von mir eine Frau, meine Hände nesteln, ich werde barsch zurechtgewiesen, und danach wird mein Sülzekonsum streng überwacht. Pech gehabt.

Meine Mutter rastete aus, als sie den Hilfeschrei las, wollte mich nach Hause holen und rief im Heim an. Sie wurde erfolgreich beruhigt, man holte mich ans Telefon, und ich versicherte ihr unter den wachsamen Augen und Ohren der Heimleute, dass alles in Ordnung sei. Aber jetzt waren alle alarmiert. Ich wurde nicht mal ausgeschimpft, weil ich „die Unwahrheit“ geschrieben hatte, wohl aber dafür getadelt, dass ich meiner Mutter Kummer bereitet hatte! Das war sehr undankbar meiner Mutter gegenüber! Sie hatte mich doch so lieb und durfte sich keine Sorgen machen. Ich fühlte mich unendlich hilflos und hatte ein rabenschwarzes Gewissen. Es gab nichts, was ich tun konnte. Gar nichts. Also keine weiteren Hilfeschreie. Meine Mutter war beruhigt und versuchte, mir gut zuzuschreiben:

„Ich nehme an, dass das Essen bei euch anders ist als hier, aber du mußt tüchtig essen, denn das gehört alles zur Kur. In Norddeutschland wird anders gekocht als im Rheinland und in Bayern wird wieder anders gekocht. Du bist ein großes Mädchen und weißt das doch. (…) Nicht alle Kinder haben das Glück, 6 Wochen an der Ostsee zu sein.“

Letters home (BFL)

Lügenbriefe

Meine Briefe klingen danach auch gleich viel positiver. „Die Ostsee sieht forne grün und hinten blau aus. Wir sind schon 2 x mit dem Segelschiff gefahren (…….) Mir gefällt es immer besser. Ich habe zwei Freundinnen. Eine heißt Veronika, die andere Helma. Schreiben darf ich wann ich will.“

„Ich habe schon 3 Pfund zugenommen. Ich habe kein Heimweh mehr und schlafe immer sofort ein. Mir gefällt es immer besser.“

Der letzte Satz gefiel den Zensoren sehr, und meiner Mutter auch. Als ich gestern ihre Antwort las, fuhr mir wieder genau derselbe Schreck in die Glieder wie damals dem kleinen Mädchen. NEIN! Ich konnte den Schrei nicht unterdrücken. Ich saß in der Bahn, als ich den Brief las, und alle starrten. Wie schrecklich! Nicht das Starren, der Brief! DAS hatte ich nicht gewollt. Und bis gestern total vergessen!

„Wie froh bin ich, dass du zwei Freundinnen hast, dir das Essen schmeckt und es dir immer besser geht. Du kommst noch dick und fett zurück. Vielleicht darfst du im nächsten Jahr wiederkommen. Frage nur die Schwestern mal.“

Spuren (Olichel/pixabay)

 

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„Das Kind braucht Luftveränderung“ (1) – über das Elend in deutschen Kinderkurheimen

Einsame Muschel (Skitterphoto/pixabay)

Der Fernsehbeitrag

Ich habe ein gutes Gedächtnis für alles, was sich in meiner Kindheit ereignet hat, und kann auch problemlos über meine Erlebnisse sprechen und schreiben. Trotzdem hat mich der Bericht in „Report Mainz“, den ich am 10. September zufällig sah, arg mitgenommen. Seitdem überflutet es mich, läßt mir keine Ruhe. Ja, es war furchtbar damals im Kindererholungsheim an der Ostsee. Aber offenbar längst nicht so furchtbar wie bei vielen anderen Betroffenen, wie ich inzwischen weiß. Bis zu dem Fernsehbeitrag habe ich mich tatsächlich für einen Einzelfall gehalten. Dieses Einzelschicksal war Teil meiner persönlichen Biografie. Nur ich musste in Kur, weil ich so kränklich und untergewichtig war und mir der Arzt frische Seeluft verordnet hatte. Dabei ging es damals tausenden anderen Kindern genauso! Ich war nur eine von vielen! Ich bin nicht allein mit diesen Erinnerungen!

Der Titel des Filmbeitrags faßt es gut zusammen: „Erniedrigung statt Erholung. Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden.“ Auf meinen fb Post melden sich spontan mehrere Freundinnen, die ganz ähnliche, größtenteils noch viel verstörendere Erfahrungen gemacht haben. Zumindest wurden wir in meiner Gruppe nicht geschlagen, uns wurde nicht der Mund zugeklebt, wir wurden nicht allein in dunkle Räume gesperrt, und ich habe während meines Aufenthalts auch nicht erlebt, dass jemand zwangsgefüttert wurde oder seine eigene Kotze essen musste (nachdem er oder sie sich aus mir sehr verständlichem Ekel vor dem Essen übergeben hatte). Auch andere Betroffene werden, sofern sie dies möchten, hier auf meiner Seite zu Wort kommen.

Spätsommer 1965 – meine „Kur“ an der Ostsee

Bei den Steinen am Strand (privat)

In meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“ (über (m)eine Kindheit in den 1960er Jahren) gibt es ein langes Kapitel über die endlosen sechs Wochen in der Lübecker Bucht. Seedorf heißt der Ort hier, und das Haus „Franziskushaus“, und ich habe der kleinen Marlies im Buch auch nicht all die Drangsalierungen zugemutet, die wir erdulden mussten. Zwei Leserinnen haben den wahren Schauplatz jedoch zu meiner Verwunderung schon vor Jahren korrekt identifiziert. „Das war das Antoniushaus in Niendorf, oder?“ Stimmt.

Ich hatte bei meinem Aufenthalt großes Glück, denn wir wurden nicht wie viele andere Kinder von den berüchtigten „Tanten“ betreut, sondern zumindest tagsüber von zwei jungen „Fräuleins“. An beide habe ich gute Erinnerungen. Sie waren freundlich und zugewandt. Es war Spätsommer, wir konnten viel draußen sein, auch wenn das Wasser zum Baden zu kalt war, wir fuhren mit dem Kutter aufs Meer und mit dem Bus nach Lübeck, machten Strandwanderungen, sammelten Muscheln und Schneckenhäuser, sangen Lieder aus der Mundorgel (die stressigen Kniebeugen bis zum Umfallen zu „Laurentia, liebe Laurentia mein“ gab es bei uns auch), saßen am letzten Abend am Lagerfeuer, sangen die deutsche Version von „Auld Langsyne“ (Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr….) und hielten uns an den Händen. Draußen war es schön. Die Ostsee und Lübeck liebe ich bis heute. Ich war vor einigen Jahren wieder in Niendorf und suchte das Heim. Ich war sehr aufgeregt, und beim Anblick des Gebäudes war mir äußerst mulmig. Es sieht heute so anders aus, dass ich es fast nicht erkannt hätte.

Die große Angst

Seesternerinnerungen (BFL)

Am Meer war ich gern, aber wir waren ja nicht die ganze Zeit draußen. Der Horror begann, sobald wir im Heim waren. Schon beim Betreten des Gebäudes packte mich die Angst. Riesenangst vor den Mahlzeiten (sogar vor den Tellern und den Blechkannen), schiere Panik vor den Nächten. Angst auch vor den Erwachsenen, vor allem vor den Nachtwachen. Angst zu sterben, meine Eltern nie wiederzusehen, schwer krank zu werden. Angst vor dem Aufenthaltsraum, in dem wir täglich eine Stunde schweigend still sitzen mussten, „Silentium“ nannte man das, Angst vor dem kalten Waschraum mit den vielen Becken, vor dem Ausziehen und Nacktsein vor anderen, besonders vor den gefühlt täglichen langen vor Scham frierenden Reihen im Flur (alle Mädchen mussten sich bis auf den Schlüpfer ausziehen, um dann fast nackt einem Arzt vorgeführt zu werden, der einem sogar gelegentlich in die Unterhose schaute, ob man vielleicht Blinddarmnarben hätte….), vor dem dauernden Wiegen (es wurde immer genau notiert, ob und wie viel wir zu- oder abgenommen hatten), Angst vor dem großen kahlen Schlafsaal mit den ungemütlichen Betten. Wir wurden früh ins Bett geschickt und durften kein Wort mehr sprechen, nachdem das Licht gelöscht war. Auch nicht flüstern. Erst recht nicht weinen. Das kam gar nicht gut. Durch die Reihen schritten nämlich strenge Frauen, die genau hinhörten. Die auch genau kontrollierten, ob man Daumen lutschte oder Nägel knabberte. Wieder hatten wir Glück: Die Hände haben sie uns nicht festgebunden, und geschlagen haben sie uns auch nicht.

Gefangen im Schlafsaal

Nach dem Zubettgehen durften wir nicht mehr auf Toilette, was keine von uns begreifen konnte. Das war das Schlimmste. Jeden Abend. Jede Nacht. Sechs endlose Wochen lang. Schon nach einer halben Stunde mussten die ersten von uns dringend aufs Klo, was nicht zuletzt an den vielen schauderhaften Getränken lag, die wir dauernd trinken mussten. Was auf dem Tisch stand, musste getrunken werden. Für meine Nase unangenehm riechender Kinderkaffee, Hagebuttentee, Wasserkakao. Doch der Toilettengang war verboten. Wir waren wehrlos, hatten keine Chance. Beim Schreiben meines Romans habe ich diesen Kinderkaffee als Erinnerungstrigger genutzt. Schon der Geruch beamt mich sofort zurück ins  „Kindererholungsheim“.

Ich lag hinten rechts, am letzten hohen Bogenfenster und hatte dort wenigstens das Gefühl, etwas mehr Raum und Luft zu haben. Der dünne Vorhang war manchmal  nicht ganz zugezogen, so dass eine schmale Schlange aus Mondlicht über den Boden kroch. So erinnere ich es jedenfalls. Indianer und große Mädchen weinen nicht. Auch nicht, wenn sie versuchen, ein Gebet nachzusprechen, bei dem ihnen nur so die Tränen in die Augen schießen. Wenigstens war es so dämmrig, dass mich keiner sah. Weinen durfte man ja nicht, das hatte die Frau vorn verboten.

Lautlos weinen

Ich weiß nicht, wie viele Nachtstunden ich in den endlosen Wochen schlaflos und lautlos weinend zugebracht habe. Es war ein hervorragendes Training fürs Leben. Ich kann bis heute lautlos weinen. Wenigstens hatte ich meinen gelben Steiff-Fisch Flossie in der einen und meinen geliebten kleinen Hund Stroppi in der anderen Hand. Beide Stofftiere habe ich immer noch. Nur gut, dass man sie mir damals nicht abgenommen hat. Sie waren der einzige Trost in meiner nächtlichen Kindereinsamkeit, denn ich kam fast um vor Heimweh. Meine Eltern hätten mich sicher gerettet, aber wie konnte ich sie wissen lassen, was hier passierte? Unsere Briefe wurden kontrolliert. Als ich den Reportbericht im Fernsehen sah, dachte ich als erstes: „Nur gut, dass meine Mutter das jetzt nicht sieht.“ Sie wäre entsetzt gewesen.

Meertagesreste (BFL)

Indianer und große Mädchen haben kein Heimweh. Ich war doch schon zehn! Wir beteten abends Es glänzt der goldne Abendstern, gut Nacht, ihr Lieben nah und fern. Ich kann es bis heute auswendig. Die Mädchenstimmen zitterten. Manchmal schrie draußen ein Vogel. Vielleicht eine Amsel. Oder eine Möwe? Dann war es draußen wieder still. Die Angst mündete in Panik, sobald das Gebet sich dem Ende näherte. O gib auf mich, dein Kind, gut acht. Lass mich nach einer langen Nacht die Sonne fröhlich schauen. Hoffentlich muss ich in der langen Nacht nicht aufs Klo! Bitte nicht, lieber Gott! Bitte hilf mir, lieber Gott! Amen. Tränen runterschlucken. Kreuzzeichen. Gleich fängt der Horror an! Gleich geht das Licht aus!

Erholungsbedürftig

Im Bett neben mir schlief Veronika. Tagsüber hatte sie blonde Zöpfe, nachts floß ihr Haar über das Kopfkissen. Veronika hatte Sommersprossen und später, als wir beste Freundinnen waren, hielten wir uns nachts manchmal an den Händen. Die Kinder in meinem Schlafsaal waren alle so dünn wie ich. Wir waren ja alle hier, weil wir zu mager waren, „aufgepäppelt“ werden sollten und uns dringend „erholen“ mussten. Wir waren also in der „Mastgruppe“. Die größeren Mädchen im anderen Schlafsaal waren hier, weil sie zu dick waren, abnehmen sollten und sich dringend erholen mussten. Sie waren in der „Abspeckgruppe“.

Offenbar waren damals alle Kinder erholungsbedürftig. Wohl um die vielen „Ferienheime“ das ganze Jahr über lukrativ zu füllen und irgendwelchen Erwachsenen die Arbeitsstellen zu garantieren. Wir waren ja sogar während der Schulzeit in Kur, und die Bahn setzte für die vielen Kurkinder massenweise Sonderzüge ein. Aber WER waren diese Personen, denen man uns damals so ahnungslos auslieferte? WAS mögen sie vorher gemacht haben? Bis vor kurzem habe ich darüber nie nachgedacht. Und WER war vorher in all diesen großen, oft isoliert liegenden Gebäuden untergebracht? Ich ahne Schlimmes. Ob man das durch Recherchen heute noch herausfinden kann? Die Aufarbeitung steht erst am Anfang. Wir sind im Moment noch in der „Sammelphase“. Was für ein Glück, dass Anja Röhl, die selbst eine Betroffene ist, sich dieses Themas angenommen hat! Dass sich die weitgehend sprachlose Generation mit dem harmlosen Namen „Nachkriegskinder“ endlich zusammenfindet und auch zu reden beginnt.

Drachenwache und Bauchkrämpfe

Im Flur saß jeden Abend eine Nachtwärterin. Direkt neben der Tür. An ihr kam niemand vorbei. Tagsüber war sie unsichtbar, wir sahen sie nur nach dem Zubettgehen. Schon am ersten Abend lernten wir die unerbittliche Frau Johansen mit den eckigen Schultern kennen. Keine Ahnung, wie sie wirklich hieß, ich gab ihr einfach im Buch diesen Namen, weil er zu ihr passte. Sie war einschüchternd, hatte eine laute Stimme und ließ nicht zu, dass eine von uns den Schlafsaal verließ. Auch nicht, um aufs Klo zu gehen. Auch nicht, wenn man Bauchkrämpfe und Durchfall hatte und vor Verzweiflung weinte. „Dann musst du dir deine Zeit beim nächsten Mal eben besser einteilen!“ Sie verschwand erst um zwölf, wenn meine Erinnerung stimmt, und dann war der lange Flur endlich leer, und wir konnten uns eine nach der anderen hinaus wagen. Doch das fanden wir erst nach ein paar Nächten heraus. Die Zeit bis Mitternacht kann sehr lang sein, wenn man dringend muss.  Jeden Abend hatten wir Angst vor Frau Johansen. Wir nannten sie heimlich Frau Mahlzahn, wie den Drachen aus Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.

Einmal wagte Helma sich bis auf den Flur. „Warum dürfen wir nicht auf Toilette?“ fragte sie mutig. „Wenn wir doch müssen!“ Die Drachenfrau baute sich drohend vor ihr auf. „Kinder gehören um diese Zeit ins Bett, daran gibt es nichts zu rütteln!“ Ihre Stimme war kalt und hart. „Das sag ich meinen Eltern“, drohte Helma. „Von mir aus“, sagte Frau Mahlzahn. „Und jetzt ab ins Bett!“ Helma gab sich geschlagen, kniff die Beine zusammen und legte sich wieder hin. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich fühlte, ich musste nämlich auch. Unfassbar, dass man uns das verbot! Leises Weinen auch von schräg gegenüber, Husten, ersticktes Schluchzen von ganz vorn. Veronika machte Handzeichen. Sie musste auch. Wie kamen wir hier bloß raus? Wenn die Nachtwächterin aufstand und an der Türe lauerte, sah sie riesengroß aus, ein Scherenschnittmonster, wie ein Vampir, wie ein Ungeheuer, das bis zur Decke wuchs. Niemand konnte sich an ihr vorbeimogeln, auch nicht auf dem Bauch robbend, in der Hoffnung, sie würde uns bei ihrer Lektüre nicht bemerken. Wir haben es versucht, auch ich, und  wurden sofort am Schlafittchen gepackt und zurück in den Schlafsaal geschleift. „Das hast du dir wohl so gedacht, Fräuleinchen! Ach, sieh mal einer an, du schon wieder?“ schimpfte die kalte harte Stimme. Die Drachenwache musste doch wissen, dass wir nicht ewig einhalten konnten!

Frau Mahlzahn – Illustration von Caroline Riedel für meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“

Bettnässer

In den ersten Nächten waren wir so verunsichert und aufgeregt, dass wir fast alle ins Bett machten. Zuerst war es nur angenehm warm und die Erleichterung grenzenlos, aber schon bald wurde das Laken kalt und klamm, der Schlafanzug war versaut, man fühlte sich scheußlich und konnte nicht einschlafen. Auch die anderen Nachtwachen befolgten ihre Instruktionen genau, nicht nur Frau Mahlzahn zwang uns einzuhalten, bis wir Blasenkrämpfe bekamen und einnäßten.  Jeden Morgen wurde sorgfältig kontrolliert, ob jemand ins Bett gemacht hatte, und die Sünderin wurde als Bettnässer oder Hosenscheißer ausgeschimpft und vor allen bloß gestellt. Irgendwann fand ich einen Ausweg: Ich schmuggelte Plastikbecher und andere kleine Behälter in den Schlafsaal. Es ging ganz einfach, man musste nur vorsichtig sein, sie mit ruhiger Hand halten und sehr langsam und nur in kleinen Schüben pinkeln, sonst lief alles über. Als wir erst herausgefunden hatten, dass die Wache um Mitternacht endete, warteten wir jede Nacht, bis sie endlich fort war, und rannten schnell auf nackten Füßen über den kalten Boden zu den dunklen Klos. Die Nachtwache musste ja irgendwann selbst schlafen, und zwar im Zimmer neben unserem Schlafsaal. Daher mussten wir extrem leise sein und durften auf keinen Fall die Klospülung betätigen. Bei der Gelegenheit konnte man auch gleich die vollen Plastikbecher leeren.

Immer mehr Erinnerungen steigen in mir auf, aber für heute belasse ich es bei diesen einleitenden Gedanken. Ich frage mich, ob von den „Mädchen“ aus meiner Gruppe wohl irgendjemand diesen Eintrag lesen wird. Veronika, Anita, Helma. Es wäre schön, nach all den Jahren wieder miteinander Kontakt zu haben.

Weiterführende Links zur Reportsendung, zur Seite von Anja Röhl und zum Blogbeitrag einer weiteren Betroffenen.

 

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