Virgil Tibbs und Sam Wood

Gedanken zum Tod von Sidney Poitier

Still und leblos, wie gelähmt, lag die Stadt Wells morgens um zehn vor drei unter dem drückenden Nachthimmel. Die meisten der elftausend Besucher wälzten sich ruhelos in ihren Betten, und die wenigen, die gar keinen Schlaf fanden, verfluchten die unerträgliche Schwüle, die durch keinen Windhauch gelindert wurde. Die Augusthitze von North und South Carolina hing dumpf und schwer in der Luft.

Als ich 1997 (oder war es 1996?) das Angebot bekam, John Balls berühmten Roman „In der Hitze der Nacht“ neu zu übersetzen, war ich richtig aufgeregt. Es gab bereits eine deutsche Übertragung, doch die war vergriffen. Damals gab es weder Amazon noch Ebay, und ich fand später nur mit großer Mühe in einem Krimi-Antiquariat noch ein arg ramponiertes Exemplar. Beim Vergleich stellte ich fest, dass es an vielen Stellen unvollständig übersetzt war, es fehlten gelegentlich sogar ganze Abschnitte. Natürlich kannte ich die berühmte Verfilmung mit Sidney Poitier, die 1967 mehrere Auszeichnungen erhalten hatte, unter anderem den Oscar als bester Film, doch von John Ball, der für dieses Buch den Edgar Award bekam, hatte ich bisher noch nichts gelesen. Später habe ich noch einen weiteren Virgil Tibbs-Roman übersetzt, „Das Jadezimmer“, das mich in völlig neue Welten führte, denn ich ging zur Recherche mehrfach ins Ostasiatische Museum und sprach dort mit sehr netten und hilfsbereiten Spezialisten, um mehr über Jade zu erfahren. Damals hatten Übersetzer noch kein Internet, keine Suchmaschinen, keine Übersetzungsprogramme (wie das hervorragende DeepL) und keine Online-Wörterbücher.

Übersetzen war mühsam, besonders was Recherchieren und das Finden von Zitaten anging, daher war ich ein regelmäßiger Gast in den Bibliotheken vom Amerika-Haus und British Council. Beide gibt es hier nicht mehr, doch die Bücher des British Council, das 1959 in der Hahnenstraße seine Pforten öffnete, wurden 2001 immerhin von der Universitätsbibliothek übernommen. Das Amerika-Haus lag gleich um die Ecke in der Apostelnstraße. Es existierte von 1955 bis 2007.  Ich werde immer etwas wehmütig, wenn ich mit der Bahn an den Gebäuden vorbeifahre. Wie viele Filme und Vorträge habe ich dort besucht! Wie viele ausrangierte Bücher und Zeitschriften mit nach Hause genommen! Und wie eindrucksvoll waren all die Regale mit den unzähligen Nachschlagewerken! Selbst einzelne Zeilen aus Liedern oder Gedichten konnte man dort mit genügend Geduld und Detektivarbeit finden. Für mich als Übersetzerin war es äußerst befriedigend, wenn ich wieder eins der vielen Texträtsel und Wortspiele geknackt hatte. Besonders wenn es um die Romane von Charlotte MacLeod ging. Zitate waren ihre Leidenschaft, denn sie hatte lange als Bibliothekarin gearbeitet und war äußerst belesen. Ihren Fans ist es todsicher nie aufgefallen, aber ICH wusste, wie schwierig die Suche und wie schön die Auflösung gewesen waren!

Eigentlich hatte ich erwartet, dass mich Virgil Tibbs, den ich mir beim Übersetzen genauso vorstellte wie den attraktiven Sidney Poitier, faszinieren würde, doch zu meiner Überraschung merkte ich, wie ich mich immer mehr in eine Nebenfigur verliebte. Den Streifenpolizisten Sam Wood, der nachts durch die schwülheißen Straßen fährt und über die schlafende Stadt wacht. In all den Jahren als Übersetzerin ist mir so etwas sonst nie passiert. Richtig erklären kann ich es bis heute nicht, aber sobald Sam im Text auftauchte, bekam ich Herzklopfen und hatte das Gefühl, als stünde er leibhaftig vor mir. Dabei fand ich ihn zunächst nicht sonderlich sympathisch, aber da denkt er auch noch in Südstaatenklischees. Sein Leben beginnt sich zu verändern, als er einen erschreckenden Fund macht.

Sam gab Gas und ließ den Wagen vorwärtsschießen. Im Lichtstrahl seiner vier Scheinwerfer wurde der Gegenstand immer größer, bis Sam das Auto mitten auf der Straße anhielt, nur wenige Meter vor dem leblosen Männerkörper, der ausgestreckt auf der Fahrbahn lag.

Elizabeth Vollalta, South Carolina Beach (unsplash)

Es ist der Dirigent Enrico Mantoli, der für die anstehenden Musikfestspiele der Stadt verantwortlich ist, doch das weiß Sam zu dem Zeitpunkt noch nicht. Und ich wusste damals noch nicht, dass Musik für den Schriftsteller John Ball so eine große Rolle spielte. Er hatte in seinem Leben viele Berufe ausgeübt, unter anderem war er auch Musikkritiker und PR-Manager. In seinen Büchern wimmelt es nur so vor musikalischen Anspielungen.

Sam streckte die Hand aus und legte sie vorsichtig auf den Hinterkopf des Mannes, als könne die Berührung den anderen trösten.

Ob meine Gefühle mit diesem kleinen Satz angefangen haben? Der Mann auf der Straße ist natürlich tot. Ermordet. Bill Gillespie, der Polizeichef von Wells, wird im Film von Rod Steiger gespielt, der für die Rolle einen Oscar erhielt. Im Buch besitzt er (zunächst) ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und ist so groß, dass er verächtlich auf die meisten Menschen herabschauen kann. (Ich stellte ihn mir vor wie einen Bekannten meiner Mutter, der ebenfalls riesig war und den ich nicht ausstehen konnte.) Für Sam, den er zum Bahnhof schickt, um dort nach Tatverdächtigen zu suchen, hat er wenig übrig, und  für den Schwarzen, der in dem Bereich des Bahnhofs aufgegriffen wird, der nur für „Farbige“ bestimmt ist, spürt er (zunächst) nur Verachtung. Ich erinnere mich an intensive Gespräche mit dem Lektor. Wie soll man die vielen rassistischen Begriffe übersetzen? Neger? Nigger? Auch Sam nennt den Fremden „nigger boy“ und hält ihn aufgrund seiner Hautfarbe automatisch für den Mörder. Sympathisch ist mir dieser Polizist in dem Kapitel eigentlich immer noch nicht, auch wenn ich nachvollziehen kann, dass er seinen Chef nicht mag. Ich mochte seinen Chef auch nicht. Gillespies schwarzes Gegenüber bleibt bewundernswert cool und ungerührt.

Nach seinem Namen gefragt, antwortet der Fremde mit ruhiger und gelassener Stimme „Ich heiße Tibbs. Virgil Tibbs.“

Fast wie „Mein Name ist Bond. James Bond.“ Als Übersetzerin sorgte ich dafür, dass die Beamten ihn duzten, im Englischen gibt es diese Feinheit natürlich nicht. Dann kommt die Überraschung, zumindest beim ersten Lesen oder Filmsehen. Nachdem er seine Brieftasche inspiziert hat, fragt Gillespie grimmig:

„Und womit verdienst du in Pasadena, Kalifornien, so viel Geld?“ Der Gefangene zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde mit seiner Antwort. „Ich bin Polizeibeamter“, sagte er.

 Im Film haben der besonnene Virgil Tibbs und sein genialer Darsteller Sidney Poitier die Herzen des Publikums da natürlich schon längst gewonnen. Auch der Buch-Virgil schafft das mühelos. Aber wann ist mir bloß diese komische Sache mit Sam Wood passiert? Dazu muss ich wohl noch weiterlesen.

Sam konnte Schwarze aus Prinzip nicht leiden, zumindest nicht, wenn er persönlich mit ihnen zu tun hatte. Es verwirrte ihn daher sekundenlang, als er plötzlich feststellte, dass er für den schlanken Mann neben sich ein Gefühl der Bewunderung verspürte. Sam war ein Sportler und genoss es daher, wenn jemand, gleichgültig wer es auch war, dem neuen Polizeichef von Wells erfolgreich die Stirn bot.

Sam ist auch sonst ziemlich beeindruckt von Tibbs, vor allem als er mitbekommt, wie gründlich und sorgfältig – ganz im Gegensatz zu seinem schlampigen Vorgesetzten – er die Leiche untersucht. Im Polizeirevier gibt es noch getrennte Toiletten für „Weiße“ und „Farbige“. Sam ist emphatisch, gibt zu bedenken, dass dort nicht einmal Handtücher sind. Und er denkt auch daran, Virgil ein Frühstück anzubieten. Und kurz darauf beginnt der kalifornische Cop, seine bewundernswerte messerscharfe Beobachtungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, bis zu dem Satz, der in die Film- und Romangeschichte eingehen sollte. Darauf angesprochen, dass Virgil ein ziemlich ausgefallener Name für einen „black boy“ ist, und wie man ihn denn zu Hause, da wo er herkommt, nennt, antwortet der Fremde: „Dort nennt man mich Mr. Tibbs.“ Ein verbaler Schlag ins Gesicht.

Sam ist derweil bei den Endicotts, Freunden des Toten, um sie über die Ermordung von Maestro Mantoli zu informieren. Er tut dies äußerst behutsam und feinfühlig. Ist es vielleicht dort passiert? Duena, die schöne Tochter des Toten, schläft noch. Sam verliebt sich später in sie, und sie sich in ihn. Genau wie ich. Ich war sogar ein winziges Bisschen eifersüchtig auf sie. John Ball mochte Sam sicher auch, sonst hätte er ihn nicht so einfühlsam beschrieben. Sam Wood hat sich bereits auf Seite 42 ziemlich verändert und findet inzwischen zu seiner eigenen Überraschung den kalifornischen Kollegen richtig sympathisch. Gillespie dagegen ist so wütend auf Virgil, der ihn seiner Meinung nach durch seine Ermittlungen bloßgestellt hat, dass er ihn erneut zu demütigen versucht.

„Wer zum Teufel hat dir gesagt, du solltest dein großes schwarzes Maul aufreißen?“

Er wirft ihn sogar hochkant hinaus, doch sein Triumph ist nicht von Dauer. Mr. Endicott bittet nämlich ausdrücklich darum, dass Mr. Tibbs in dem Fall weiter ermittelt, und Gillespie muss sich fügen.

Beim nochmaligen Lesen fällt mir auf, dass an keiner Stelle im Buch die Sichtweise von Tibbs gewählt wird. Tibbs wird nur distanziert und meist verzerrt oder kritisch durch die Augen der anderen betrachtet, deren Gedanken fast immer durch Vorurteile und Rassismus geprägt sind. Ihre Sichtweise entlarvt sie. Virgil Tibbs, dessen scharfsinnige und analytische Arbeit an Sherlock Holmes erinnert, kommt derweil der Lösung immer näher. Doch vorher nimmt Sams Schicksal noch einige dramatische Wendungen, an denen er fast zerbricht. Sein unfähiger Chef lässt ihn einsperren, weil er urplötzlich Sam für den Mörder hält, Duena besucht ihn unerwartet im Gefängnis und küsst ihn sogar, einen Moment lang schöpft er Hoffnung, doch dann verdächtigt man ihn fälschlich der Vergewaltigung einer Minderjährigen, und zum Schluss ist er tatsächlich ein anderer geworden. Ich wünsche ihm von Herzen, dass er mit Duena zusammen bleiben kann.

Wenn ich das Buch heute lese, spüre ich meine alten Gefühle nicht mehr, aber ich bin jetzt auch deutlich älter als damals und sitze nicht mehr einsam und allein Tag und Nacht übersetzend am Schreibtisch und sehne mich nach einer starken Schulter. Die Filmfigur war übrigens total enttäuschend. Kein Wunder. Mein literarischer Sam Wood sah immerhin haargenau aus wie Paul Newman.

Sidney Poitier, berühmt für seine Filme „Flucht in Ketten“, „Lilien auf dem Felde“ und „In der Hitze der Nacht“, starb am 6. Januar 2022 mit 94 Jahren in Los Angeles. Auch er lebte in Kalifornien, genau wie Virgil Tibbs. Ich hatte ganz vergessen, dass er nach mehreren Ehen seit 1976 mit der kanadischen Schauspielerin Joanna Shimkus verheiratet war, die ich im Film „Die Abenteurer“ so eindrucksvoll fand. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, Anika Poitier.

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Lebendiger Ökomenischer Adventskalender

Die kleine Stadt (Detail), Elisabeth Lörcher, Richard Sellmer Verlag, ab 1946

Das erste Türchen

Bereits seit zehn Jahren gestalten mein Mann und ich in Köln-Weiden am 1. Dezember den Auftakt zum „Ökumenischen Lebendigen Adventskalender“, und das diesjährige kleine Jubiläum wäre genau der richtige Anlass gewesen, ein paar Extraflaschen Glühwein mitzubringen und einige Extrableche Vanillekipferl, Friesenkekse und Heidesand zu backen – alle nach den alten Familienrezepten meiner Omas. Das gemütliche Beisammensein nach dem Vortrag ist für mich immer der schönste Teil des Abends, weil dann alle entspannt miteinander ins Gespräch kommen.

Wichtelwerkstatt, Fritz Baumgarten, Korsch Verlag, 1960er Jahre

Doch erneut macht uns die Pandemie einen Strich durch die Planung. Wie im letzten Jahr muss unser schöner bunter Bilderauftakt ausfallen, obwohl noch bis vor wenigen Tagen alles möglich schien, allerdings nur mit Impfnachweis, Masken, Abstand und ausgiebigem Lüften. Doch dann explodierten plötzlich wieder die Inzidenzzahlen und die besorgniserregende neue Omikron-Variante erschien drohend am Horizont. Ab jetzt sind in unserer Gemeinde nur noch Veranstaltungen mit 2G+ erlaubt, was bedeutet, dass jeder zusätzlich zu allem anderen auch noch einen gültigen Antigen-Schnelltest vorweisen muss, der nicht älter als 24 Stunden sein darf. Die rasant steigenden Fallzahlen und die Sorge, dass einige Besucher vielleicht nicht rechtzeitig von den notwendigen Tests erfahren würden und wieder nach Hause geschickt werden müssten, sowie die Überlegung, Kontakte nach Möglichkeit zu vermeiden, haben uns aufgeben lassen. Ich hoffe, dass dieser Beitrag ein wenig für den verlorenen Bilderabend entschädigen kann.

Natürlich haben wir uns auch diesmal überlegt, welches Thema unser Vortrag zu Pandemiezeiten haben könnte, und fanden, dass vor allem der tröstliche Aspekt der kleinen Zählhilfen aus Papier gut passt. Adventskalender bringen Licht ins Dunkel, lassen die Welt leuchten, wenn auch nur durch winzige Fensterchen und Türchen. Darüber habe ich ja schon im vorigen Jahr einiges geschrieben. Im diesjährigen digitalen Beitrag würde ich gern mehr über die Anfänge unserer Sammlung und einige besondere Menschen berichten, denen wir auf unseren „Adventsreisen“ begegnet sind.

Adventskirche Seiffen,  Rotraut Hinderks-Kutscher, Korsch Verlag, 1960er Jahre

Wie alles anfing….

Wir werden oft gefragt, ob wir schon Sammler waren, als wir uns kennenlernten, oder ob wir die Welt der Adventskalender erst gemeinsam entdeckt haben. Beides stimmt. Schon als Kinder bewahrten wir beide alte Adventskalender auf und gaben besonderen Lieblingsstücken jedes Jahr wieder einen Ehrenplatz, was man ihnen leider deutlich ansieht. Meine Fritz Baumgarten-Kalender wurden immer wieder mit Reißbrettstiften an die Wand gehängt, die Lieblingskalender meines Mannes mit Tesafilm ans Fenster geklebt, weil sie dort am schönsten leuchteten. Kein Wunder, dass die alten Schätze arg „abgeliebt“ aussehen, was uns allerdings nicht weiter stört.

Unser gemeinsames Sammeln fing damit an, dass ich vor 23 Jahren kurz vor unserer Hochzeit hier im Haus nach Servietten suchte. In einer Schublade in unserem „Goethezimmer“ (weil dort die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken aus dem dtv-Verlag steht) fand ich völlig unerwartet alte, ja uralte Adventskalender.  Mein Mann hatte nämlich nicht nur die eigenen Kalender aufbewahrt, sondern auch die seiner Mutter und die von seiner Tante Lotte gemalte Version von „Peter und Liesel“, die wir in jeden Vortrag einbauen. Natürlich war ich hocherfreut, denn ich hatte noch nie jemanden getroffen, der antike Adventskalender hortete! „Du hast deine Kalender ja auch alle noch!“ „Na klar!“ sagte mein Mann, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Ich liebe Adventskalender!“ Was für eine Freude. „Genau wie ich!“ Woraufhin ich ihm dann auch meine Schätze zeigte. Es war der Beginn einer wunderbaren Sammlung.

Das Buch vom Nicolaus

Peter Nicolaus

Von nun an suchten und forschten wir gemeinsam und lernten bei Ebay auch bald einen netten Experten kennen, der uns geduldig mit Rat und Tat zur Seite stand und den passenden Namen Peter Nicolaus hatte. Er fiel dadurch auf, dass er alle von ihm eingestellten Kalender genau datierte und beschrieb. Auf Peters Wissen und Urteil konnte man sich blind verlassen. Später haben wir ihn auch persönlich kennengelernt, und ich hatte sogar die Ehre, einige Bilder und Texte zu seinem wunderbaren Buch „Adventskalender – Faszination und Sammeln“ beizusteuern, das ich hier auf meiner Seite im Januar 2020 ausführlich besprochen habe. Peter, der auch eine eigene Homepage hat, ist ein echter Sammler, während mein Mann und ich beim Sammeln kein wirkliches System haben.

Engel klopfen zur Bescherung an, Fritz Baumgarten, Meissner & Buch, 1930er Jahre

Elke Pfaff

Den „Kalenderstein“ so richtig ins Rollen brachte die Redakteurin Elke Pfaff, die damals beim Kölner Stadt-Anzeiger arbeitete und vor allem medizinische Artikel schrieb. Sie hatte auch meinen Mann schon mehrfach zu Gesundheitsthemen interviewt und wohnte gleich um die Ecke im Frechener Weg. Elke war eine liebenswerte und überaus freundliche Frau mit einem sonnigen Temperament, einem langen weißen Zopf und zwei höchst eigenwilligen Dackeln. Sie fuhr ein uraltes VW-Cabrio mit schwarzem Klappverdeck und wir trafen sie regelmäßig auf dem Weidener Wochenmarkt, wo ich sie eines Tages, ich glaube, es war 2003, spontan fragte, ob sie Lust hätte, einen Bericht über Adventskalender zu schreiben. Sie war sofort begeistert von der Idee und besuchte uns wenige Tage später mit einem Fotografen des Stadt-Anzeigers. Ich weiß noch, dass sie das Interview mit einem unglaublich dicken Bleistift in riesiger Schrift auf ihrem Block festhielt. Der vorweihnachtliche Artikel bescherte uns etliche nette Leserbriefe und sogar einige schöne Sammlerstücke. Ohne Elkes Bericht hätten wir sicher nie die Möglichkeit gehabt, unsere Kalender 2004 im Kölner Schokoladenmuseum und 2005 in der Stadtbibliothek von St. Augustin auszustellen.

Ben (BFL)

Damals hatten wir noch vier Maine Coons, und Elke wunderte sich sehr, dass sie gegen die riesigen Katzen nicht allergisch war, aber offenbar ist ihr Speichel weniger allergen als der von anderen Katzenrassen. Während sich die anderen drei meistens versteckten, lief der extrovertierte Ben vor Publikum immer zu Hochform auf und war so angetan von der ungewohnten Presse-Aufmerksamkeit, dass er sich mitten auf dem Wohnzimmertisch zwischen den Kalendern in Szene setzte und damit gleich das Herz von Elke Pfaff gewann, die eigentlich vor allem Hunde und Pferde liebte. Ben schaffte es sogar tatsächlich in die Zeitung! Fortan bestellte Elke immer Extragrüße an „meinen Freund Ben“.

Elke Pfaff wurde eine gute Freundin, und ich werde nie vergessen, wie wir gemeinsam mit ihren Dackeln, kaum zu beruhigen waren, und etlichen Lebendfallen die tollkühne Maus zu fangen versuchten, die erst in Elkes Sofa und später unter ihrer Badewanne wohnte. Unsere Fangversuche waren leider nicht von Erfolg gekrönt, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Die Maus verschwand erst, als sie die Rauhaardackel und ihr Frauchen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Zu unseren Adventskalender-Vorträgen ist Elke Pfaff bis zu ihrem plötzlichen Tod 2015 immer gern gekommen.

Dorothea Diekelmann

Weit weg von Köln lebte damals eine Frau, die so großes Heimweh nach ihrer Heimat hatte, dass sie täglich den Stadt-Anzeiger las und darin zu ihrer Freude eines Morgens Elke Pfaffs Adventskalenderbeitrag entdeckte. Sie hieß Dorothea Diekelmann, wurde von ihren Freunden Mady genannt und schrieb uns gleich nach der Lektüre einen begeisterten Leserbrief, in dem sie sich erkundigte, ob wir möglicherweise Interesse an ihrem Lieblingskalender „Die Weihnachtsstadt“ hätten. Er hatte für sie eine ganz besondere Bedeutung, denn sie hatte ihn in dem Jahr gekauft, als ihr Sohn geboren wurde, und seitdem wurde er jedes Jahr in ihrem Wohnzimmer aufgehängt. „Ich glaube, bei Ihnen ist er besser aufgehoben“, schrieb sie. Zufällig gehört „Die Weihnachtsstadt“ auch zu den Lieblingskalendern meines Mannes, aber sein Exemplar sieht äußerst „abgeliebt“ aus, während Dorothea Diekelmanns Kalender wie neu ist. Leider ist der Kalender so groß, dass er nicht auf einem normalen Scanner paßt, so dass ich immer noch kein gutes Foto habe.

Die Weihnachtsstadt (Detail), Willi Herwarth, Johannes Stauda-Verlag, 1950er Jahre

Einige Jahre später später kehrte die alte Dame zurück nach Köln und verbrachte ihre letzten Jahre hier in der Domresidenz. Mitte November lud ich sie jedes Jahr zum „Lebendigen Ökumenischen Adventskalender“ ein, und sie freute sich immer sehr, am 1. Dezember nach Weiden zu kommen. Zurück nahm sie ein Taxi oder wurde von einem Gemeindeglied nach Hause gefahren. Ihr zu Ehren zeigten wir natürlich auch jedes Mal „ihre“ Weihnachtsstadt. Es ist tatsächlich ein besonderer und eigenwilliger Kalender. Sehr witzig sind die Namen der Läden, die z.B. „Line Pral“, „Peter Leim“, „Peter Struwwel“ und „Anna Nas“ heißen. Es gibt auch eine Vorkriegsversion mit auffallenden Unterschieden, die bereits auf den sich anbahnenden Krieg hinweisen. So werden im Spielzeuggeschäft Soldaten verkauft und der Nikolaus hat sein „Sankt“ verloren.

Vor vier Jahren schrieb mir Frau Diekelmann, dass sie mit fast 90 Jahren äußerst unsicher auf den Beinen sei und sich nicht mehr in der Lage sehe, nach Weiden zu kommen. Ich schickte ihr eine Mail mit der Zusammenfassung unseres Vortrags und einem Foto „ihrer“ Weihnachtsstadt. Auch im darauffolgenden Jahr konnte sie nicht kommen, schickte uns aber noch eine digitale Weihnachtskarte. 2019 antwortete sie zum ersten Mal nicht mehr auf meine Mails. Ich machte mir Sorgen und rief in der Domresidenz an, wo man mir mitteilte, dass dort keine Person dieses Namens lebe, mehr könne man mir aus Datenschutzgründen nicht sagen. Ich muss in der Adventszeit oft an die liebenswürdige alte Dame denken, sehe sie mit leuchtenden Augen in der ersten Reihe sitzen und höre noch, wie sie sagt: „Jetzt hab ich mich tatsächlich nach all den Jahren gefühlt wie ein kleines Kind an Heiligabend! Und das in meinem Alter!“

Jeder Mensch braucht einen Engel…

Auch eine zierliche alte Dame, die ich vor einigen Jahren zufällig bei Ortloff traf, fällt mir ein. Sie stand etwas hilflos vor den überladenen Weihnachtständern, hielt einen Kalender mit Wichteln in der Hand und sagte plötzlich: „Entschuldigen Sie bitte, aber darf ich Sie mal was fragen?“ Natürlich durfte sie! „Meinen Sie, ich bin zu alt für so was?“ Natürlich nicht! „Für Adventskalender ist man nie zu alt!“ versicherte ich ihr und erzählte von meinen Kinderkalendern, unserer Sammlung und dem „Lebendigen Ökumenischen Adventskalender“. Da begann sie glücklich zu lächeln und erzählte mir von ihrer Kindheit und ihren Eltern. „Die sind schon so lange tot, aber sie passen bis heute auf mich auf.“ Nach unserem Gespräch bedankte sich die alte Dame und kaufte gleich zwei Kalender, einen mit Wichteln und einen mit Engeln. „Weil jeder Mensch Engel braucht. Besonders in dunklen Zeiten.“ Wie recht sie hatte.

Engel schmücken Adventskranz, Nachkriegskalender, US Zone, Richard Sellmer Verlag

 

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End of November Blues

Melatenfrau (BFL)

Wie rasend schnell und unendlich langsam ist das Jahr vergangen, wie wenige und wie viele unserer Hoffnungen haben sich erfüllt. Winter is coming. Wie in Game of Thrones. Und es wird ein harter Winter werden. Immer noch hat ein Virus die Welt im Griff, auch wenn wir über mehrere hochwirksame Impfstoffe verfügen, mit denen man die Pandemie eindämmen könnte. Könnte! Immer noch lassen sich in Deutschland und vielen anderen Ländern zu wenig Menschen impfen. Dabei war das Dilemma schon seit Monaten vorhersehbar, es gab zahlreiche Mahner und Propheten, die leider alle recht hatten. Vielleicht ist der Wahlkampf schuld daran, dass wichtige Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen versäumt wurden. Oder die Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. „Der Sommer wird gut!“ Ja, der Sommer war gut. Aber jetzt ist das Jahr in den Brunnen gefallen, und nicht mal eine sofortige Impfpflicht kann uns vor der vierten Tsunami-Welle retten. In dieser Woche wurden die Ampel-Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. Endlich. Ich bin gespannt, was als Nächstes passiert. Vor allem, wer der neue Gesundheitsminister wird. Es hat in der letzten Zeit leider zu viele kommunikative Schwächen und unnötige Verwirrungen gegeben. Der wohl fähigste Kandidat hat leider den Nachteil, dass er keine Frau ist. Was für ein Pech.

Im Totenmonat gehe ich sehr oft auf Melaten, einem meiner Seelenorte und sicher eine der schönsten Stellen Kölns. Im Oktober leuchten die Bäume flammend rot und gelb, im traurigen Monat November wirken die Bäume nackt und einsam. Viele Bäume haben Gesichter, und die stummen Statuen sind wie alte Bekannte. Ich setze mich zu ihnen und führe stille Zwiegespräche, besondern mit dem Liebespaar das rechts neben dem Haupteingang wohnt. Da komme ich jede Woche vorbei, wenn ich zum Porzellanmalen gehe. Ich liebe diesen Friedhof. Bei meinen letzten Besuchen habe ich so viele Fotos gemacht, dass ich gleich mehrere Beiträge damit illustrieren könnte.

Auf Melaten (BFL)

Bisher sind mir selbst nur wenige Corona-Leugner begegnet, aber was die von sich gaben, macht mich fassungslos. „Die Pandemie gibt es überhaupt nicht! Auf den Intensivstationen sterben zwar Menschen, aber sie sterben nicht an der Krankheit, sondern an der Impfung!“ Aber es gibt die Krankheit! Ich hatte sie! Ich weiß, wie sich Long Covid anfühlt! Und woran sind denn bitte schön 2020 die Menschen auf den Intensivstationen gestorben? „Das redest du dir alles nur ein. Reiner Psychoterror. Gehirnwäsche.“ Und dann diese Variante, aus dem Mund einer älteren Frau. „Ich trage grundsätzlich keine Maske. Ist auch gar nicht nötig. Ziehen Sie die Maske ruhig aus, die Krankheit ist eh nur eine Erfindung der Politiker.“ Und dann die Impfskeptiker und Spritzenphobiker. „Ich lasse mich nicht impfen. Da muss mich die Polizei schon in Handschellen abholen.“ „Ich brauch das nicht. Ich habe ein gesundes Immunsystem, ich kriege diese Krankheit nicht.“ „Der Impfstoff ist doch noch gar nicht richtig erprobt. Den haben die einfach so aus dem Boden gestampft. Ich warte, bis wir einen Totimpfstoff haben.“ oder „Ich bin so vorsichtig, mir passiert schon nichts.“ Ja, vorsichtig war ich auch. Sogar extrem übervorsichtig, und trotzdem hat es mich erwischt. Möglicherweise über die Augen. Ich hatte IMMER eine Maske auf damals. Morgen früh bekomme ich meine dritte Covid-Impfung, den Booster, und werde mich danach hoffentlich wieder etwas sicherer fühlen. Ein wenig Bammel vor der Reaktion meines Körpers habe ich schon. Immerhin ist es schon der vierte Kontakt. Vielleicht zuckt er nur amüsiert die Achseln und murmelt „Schon wieder das blöde Spike-Protein!“ oder er fällt in tagelangen Taubheitschlaf, weil er sich an unsere Long Covid-Anfälle erinnert, die zum Glück seit einigen Monaten vorbei sind. Es gibt ein Körpergedächtnis, und man sollte es nicht unterschätzen. Aber bei der Impfungen gegen Herpes Zoster hat er nicht mal mit der Wimper gezuckt, obwohl die bei vielen Menschen heftige Reaktionen hervorrufen kann. Vielleicht steckt er es ja einfach so weg.

Am 11. November – Martinstag, Reformationstag und hier im heiligen Köln vor allem Karnevalsbeginn – musste ich zu einem Krankenbesuch unaufschiebbar mitten hinein in die Wogen der Feiernden, saß verschreckt in Bahn und Bus, hinter mir grölten junge Jecke „Leev Marie, ich bin kein Mann für eine Nacht, Leev Marie, das habe ich noch nie gemacht! Leev Marie, es muss die wahre Liebe sein! Für eine Nacht bleib ich lieber allein“. Den Karnevalsschlager kannte ich bis dahin nicht und er will mir seither leider nicht mehr aus dem Kopf. Ein lästiger Ohrwurm, aber das anhaltende Echo ist nach einer halben Stunde Dauerbeschallung verständlich. So sind meine sensiblen Ohren nun mal. Laute, eingängige Lieder, die ich nicht mag, klingen tagelang nach.

Kölner Winterabend (BFL)

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man an diesem Nachmittag nicht wie normal vom Neumarkt mit der 9 zur Uniklinik fahren konnte, nur weil die Straßen dort gesperrt und voller Narren waren. Notgedrungen fuhr ich zurück zur Universitätststraße, verlor dabei eine halbe kostbare Stunde und stieg in einen  Ersatzbus, der langsam und vorsichtig die menschenvollen Straßen durchpflügte. Entgeistert sah ich die Massen der Feiernden, sehr jung, sehr fröhlich, sehr beneidenswert auf Tuchfühlung und in bester Stimmung. Die Aufgekratzheit kontrastierte stark mit meiner gedrückten prähospitalen Stimmung und meiner Sorge um den armen Patienten. Doch da ich für ihn jederzeit sogar in die Hölle steigen würde, war das schunkelige Karnevalschaos eigentlich nur ein Klacks. Die Pandemiesorge ließ sich allerdings nicht abstellen, denn ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass sich das lustige Treiben als Superspreader-Event entpuppen könnte. Mein übliches Katastrophendenken. Ich machte mich so klein wie möglich, umgeben von waberndem Karneval und wagte auch unter der FFP2 Maske kaum zu atmen. Nur gut, dass ich ein Kaugummi im Mund hatte, um mich abzulenken.

Domblick (BFL)

Tatsächlich schlug meine Corona WarnApp einige Tage später so starkroten Alarm, dass ich sicherheitshalber noch am selben Abend zum Testen ins Rheincenter ging, um meine Angst zu beruhigen. Vor lauter Stress hatte sie jetzt sogar Kopfschmerzen, was bei mir eher selten vorkommt. War das etwa schon das erste Covid-Symptom?  Aber es war nicht der spitze fremde Schmerz direkt über der Nasenwurzel, der im Oktober 2020 meine Covid-Erkrankung eingeläutet hatte. Ich absolvierte einen mittellangen Irrlauf durch die dunkle Kälte, denn das „Testcenter“ war nicht ausgeschildert. Den Termin hatte ich mir vorsichtshalber digital ergattert, also gab ich nicht auf. Es gab eine Art Plan, und dieses Testding musste hier irgendwo sein. War es dann auch. Versteckt in einer nahezu unsichtbaren, äußerst zugigen, mit Plastikfolie abgehängten Ecke des menschenleeren Parkdecks, einer ziemlichen Albtraumkulisse. „Wir sind dabei umzuziehen“, erklärte der junge Mann entschuldigend, während er mich testete. „Bald sind wir wieder unten in der Apotheke. Die Schilder haben sie offenbar schon abgehängt.“ Zum Glück war der Befund negativ, was sich äußerst positiv anfühlte, und schlagartig waren auch die Kopfschmerzen weg. Die Entwarnung kam nach einer halben Stunde aufs Handy. Sofort bekam ich auch wieder Lust aufs Abendbrot. Während der quälenden Wartezeit hatte ich mich tatsächlich irgendwie krank gefühlt. Infektiös. Kurz vor Hamsterkauf und Selbstisolation. Blöde Corona WarnApp. Blöde Risikokontakte. Sieben an der Zahl. Dabei haben doch nur ganz wenige Menschen diese WarnApp. Wie viele Risikokontakte mochten es wohl in Wirklichkeit gewesen sein? Ich löschte die App noch am selben Abend, aber am nächsten Morgen holte ich sie wieder zurück. Die roten Risikokontakte zeigt sie immer noch an, doch das ist mir jetzt egal.

Heinzel mit Maske (BFL)

Die Besuche in der Uniklinik waren anstrengend. Schon im digitalen Vorfeld. Man muss mit dem Handy eine bestimmte Nummer wählen, die einem eine Nachricht mit einem Link zu einem Fragebogen schickt, den muss man ausfüllen, dann bekommt man einen QR-Code zugeschickt, der genau einen Tag gültig ist. Mit ihm geht man ins Bettenhaus (da befand sich der Patient, den ich unbedingt jeden Tag besuchen musste, weil er mir so schrecklich fehlte, dass es schmerzte) und muss dann mit lahmen Knien in einer langen, schneckenlangsamen Schlange stehen (mindestens eine halbe Stunde), bis man endlich Impfzertifikat, Ausweis und QR-Code präsentieren kann. Vor einem stehen meist lauter Menschen, die vom digitalen Anmeldeprozedere keine Ahnung haben und sich alles erst lang und breit erklären lassen müssen. Dann versuchen sie es auf ihren Handys, scheitern kläglich und benötigen Hilfe. Was dauern kann. Schließlich bekommt man ein schmales farbiges Bändchen ums Handgelenk getackert, das man später nur mit der Schere wieder los wird. Jeder Tag hat eine andere Farbe,  und dann wird man in den Aufzugsbereich dirigiert, zeigt sein Tagesbändchen vor und wird feierlich und auf Abstand in einen der Aufzüge geleitet. Meistens in den letzten. Nur ein, höchstens zwei Personen pro Aufzug! Klar, im Aufzug steht die Luft, alles voll mit gefährlichen Aerosolen, also nicht atmen und Luft anhalten. 17 Stockwerke lang, aber ich habe einen langen Atem und der Aufzug ist schnell. Wie gut, dass ich keine Aufzugphobie habe!

Eine Stunde Besuchszeit pro Person. Offizielle Besuchszeiten sind 15:00-19:00 Uhr, aber wenn es keiner kontrolliert, darf man länger bleiben. Draußen begibt sich inzwischen die Stadt schon ziemlich früh zur Ruhe, man hat einen spektakulären Blick und sieht, wie sie sich hinlegt und ihre Lichter anzündet. Hoch oben über Köln wird man auch Zeuge, wie der Nebel die Domtürme langsam verschluckt, bis sie unsichtbar werden. Die dicke FFP2 Maske erwies sich zu meiner Erleichterung als überraschend hilfreich, denn durch das Gewebe rochen selbst die Klinikflure weniger nach Krankenhaus.

Nach wie vor hasse ich die FFP2-Masken und bekomme darunter klaustrophobische Anfälle, werde sie aber natürlich trotzdem so lange wie nötig tragen. Meine Welt verlagert sich derweil genüßlich ins Kleine, ich finde Trost in meinen Miniaturen, baue Häuser, backe Mini-Kuchen und, wenn es mir besonders schlecht geht, filze ich Mäuse. Komischerweise werden die Szenen immer am schönsten, wenn ich am traurigsten bin. Fast wie bei Gedichten.

Heinzelmarkt (BFL)

Am Mittwoch haben wir auf dem Wochenmarkt unseren Adventskranz gekauft, schön groß und doppelt gebunden, und im Gegensatz zum vorigen Jahr kann ich den intensiven grünen Duft deutlich wahrnehmen. Es hat lange gedauert, bis meine Nase wieder richtig funktionierte, und ein paar Covid-Folgen machen mir immer noch zu schaffen, doch zum Glück werden sie schwächer. In diesem Jahr war wieder vieles möglich, ich konnte meinen Porzellanmalkurs besuchen, der Literaturkreis fand einige Male statt, vom Schulhof nebenan wehen wieder Kinderstimmen herüber und in Köln sind die Weihnachtsmärkte wieder eröffnet. Auf dem Heinzelmarkt war ich schon und habe mich über die bunten Buden gefreut. Überall werden die 3G-Maßnahmen eingehalten, gleich am ersten Stand wurde das Impfzertifikat kontrolliert und man bekam einen Stempel auf den Handrücken. Alle Besucher trugen medizinische Masken, nur an den Freßständen sah man lächelnde Gesichter,  die Stimmung war entspannt und heiter. Ein Hauch von Normalität. Und doch schnellen die Covid-Zahlen jeden Tag in neue ungeahnte Höhen. Wann werden sie die Märkte wohl wieder schließen?

Heinzelmarkt (BFL)

Deutschland hat inzwischen die 400 Inzidenz-Marke überschritten,  heute wurden 76.414 Neuinfektionen gemeldet, Köln ist zwar noch nicht so weit, hat aber merkwürdigerweise durch einen Übermittlungsfehler seit zwei Tagen keine Fallzahlen mehr ans RKI gemeldet. Steckt da vielleicht mehr hinter? Will man da irgendwas nicht wahrhaben? War der 11.11. vielleicht doch ein Superspreader-Event? Die Impfquoten in NRW und Köln sind zwar höher als in anderen Bundesländern und Städten, doch das kann sich rasch ändern. In der Tagesschau-App sieht man die Altersverteilung der Infizierten, und es sind vor allem die Altersgruppen der 5-14 Jährigen und der 15-34 Jährigen. Die einstigen Hochrisikogruppen ab 60 und über 80 sind kaum noch betroffen.

Und nun erscheint plötzlich als häßlicher grinsender Springteufel eine neue, hochinfektiöse, bis an die Zähne bewaffnete Variante auf der Weltbühne. Über dreißig Mutationen hat sie im Spikeprotein. Gestern noch in Afrika, heute bereits in Belgien. Momentan heißt sie schlicht B.1.1.529. Aber auch das kann sich rasch ändern. Besser nicht daran denken. Ich könnte jetzt eigentlich gut den Adventskranz schmücken. Oder etwas für die Mäuse machen. In Mausland gibt es weder Masken noch Corona. Ein Lichtblick im End of November Blues.

Weihnachtsstimmung in Mausland (BFL)

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Was vom Leben übrig bleibt – Versuch eines Nachrufs

Detail aus Ediths Wohnung

Am 7. September 2021 starb meine Tante Edith Janders, geborene Felten, die jüngste Cousine meines Vaters, mit 93 Jahren in einem Kölner Seniorenheim. Vorher hatte sie mit Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen. Als sie sich nach Meinung der Ärzte auf dem Wege der Besserung befand, kehrte sie ins Heim zurück, wo sie wenige Tage später starb. Allein. „Friedlich eingeschlafen. Tiefenentspannt.“ Zum Schluss habe sie ohnehin nur noch geschlafen. Vielleicht stimmt es ja. Beim Besuch eines guten Freundes, der sie in den letzten Wochen aufsuchte, schlief sie tatsächlich so fest, dass er sie nicht zu wecken vermochte.

Das Heim sah keine Veranlassung, die wenigen Personen auf Ediths Kontaktliste, die dort seit Jahren hinterlegt ist, über ihren Krankenhausaufenthalt und ihren Tod zu informieren. Auch Ediths gesetzlicher Betreuer und ihr Nachlassverwalter hielten dies nicht für notwendig. Eine Todesanzeige gab es nicht. Wenn der Zufall uns nicht geholfen hätte, wäre Edith einfach verschwunden und die Urne mit ihrer Asche ohne Trauergäste von einem Fremden bestattet worden. Das dröhnende Schweigen war nicht neu. Als vor einigen Jahren jemand Ediths Bankkarte und Pin entwendete und ihre Konten leer räumte, erfuhren wir davon auch nur zufällig. Wir waren nicht auskunftsberechtigt. Daran hatte Edith nicht gedacht. Sie selbst ahnte von alledem nichts. Wahrscheinlich bemerkte sie auch den mehrfachen Betreuerwechsel nicht mehr.

Detail aus Ediths Wohnung

Dabei hatte sie alles so gut geplant. Damit, dass sie eines Tages ihre Geschäftstüchtigkeit verlieren würde, hat sie nie gerechnet. Da sie keinem zur Last fallen wollte, hatte sie einen Bekannten gebeten, ihr Nachlassverwalter zu sein. Auch um die eigene Beerdigung hatte sie sich beizeiten gekümmert, sogar den Stein, in den später ihr Name eingraviert werden sollte, bereits ausgesucht. Leider ist der schlichte Stein mit dem segelartigen Gebilde nicht mehr auffindbar. Er war eine Kernbohrung aus dem Gemäuer des Kölner Doms, eins von vielen ungewöhnlichen Kunstwerken, die man überall in ihrer Wohnung finden konnte. Möglicherweise wurde er bei der Wohnungsauflösung oder beim „Entrümpeln“ des Heimzimmers entsorgt oder ruht jetzt mit den Gegenständen, die man im Heim für noch rettenswert hielt, in einem Kellerkarton.

Ediths Wohnung, rechts der Domstein

Auf den Fotos, die dem Bestatter vorliegen, und in meinem Computer gibt es ihn noch. Er war vielleicht nicht gleich als Kunstwerk erkennbar, doch für seine Besitzerin war er sehr wertvoll, er verkörperte ein Stück Heimat, war ein Stück Kölner Dom und barg schöne Erinnerungen an eine Ausstellung und einen besonderen Künstler. Edith hat sich immer ausgiebig mit den Künstlern unterhalten, deren Werke sie bei sich aufnahm. Jeder Gegenstand in ihrem Besitz hatte seine Geschichte, oft gar sein eigenes Schicksal. Ediths Vertraute wussten von diesem Stein. Schade, dass keiner sie gefragt hat. Schade, dass Fremde entschieden haben, welche Gegenstände aufbewahrungswert waren und welche nicht.

Edith Janders

Als ich von Ediths Tod erfuhr und im Heim anrief, war es bereits zu spät. Es war schon fast eine Woche vergangen, die Zeit drängte, der Raum musste renoviert und weitervermietet werden. Die Warteliste sei lang (trotz zweitausend Euro Eigenbeteiligung im Monat und tristem Straßenblick). Die stets positive Edith konnte selbst der trostlosen Aussicht noch etwas Positives abgewinnen: „Ich sehe Bäume. Menschen, die vorbeigehen. Besucher. In der Ferne die Fabrik, die ich gut kenne.“ Zu ihrer Freude lag das Haus im südlichen Teil Kölns, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Nur bestattet wurde sie auf eigenen Wunsch nicht in ihrer Heimatstadt.

Obwohl wir verwandt waren und beide in Köln lebten, habe ich Edith erst während der letzten zwanzig Jahre näher kennengelernt, so dass mir die wichtigsten und längsten Kapitel ihres Lebens nicht vertraut sind. Ich kenne sie eigentlich nur als schwerhörige, gehbehinderte, weißhaarige alte Dame. Ein wenig auch als kleines Kind. Über ihre Kindheit hat sie mir einiges erzählt, und auch mein Vater hat in seinen Aufzeichnungen über seine jüngste Cousine, das zierliche „Edithchen“, berichtet. Auch dass sie lange im bekannten Kölner Pelzhaus „Herbst“ gearbeitet hat, hat sie manchmal erwähnt, ich glaube, in der Verwaltung.

Edith und Grete Felten

Geboren wurde sie am 11. Juli 1928 in Köln als zweites Kind von Albert und Grete Felten. Ihr Vater hatte zunächst eine eigene Firma, in der, wenn ich mich recht erinnere, irgendetwas Eternitartiges hergestellt wurde, das die Anfangsbuchstaben seines Namens trug und Alfenit oder so ähnlich hieß. Später hatte er, soweit ich weiß, ein Geschäft. Ediths Bruder Herbert, genannt Hawa, war vier Jahre älter als sie. Viele Familienmitglieder (mein Großvater hatte neun Geschwister) lebten damals in Köln. Edith hat die meisten gekannt, vor allem Onkel Jean, der in der Kölner Freiluga tätig war, einem bekannten schulbiologischen Zentrum, das schon damals Generationen von Stadtkindern die Natur näher brachte.

Edith und Herbert Felten

Ediths frühe Kindheit war glücklich und unbeschwert, als Nesthäkchen wurde sie verwöhnt und liebevoll umsorgt, doch dann kam der Krieg. Gleich zweimal wurden die Häuser, in denen die Familie lebte, ausgebombt. Edith erinnerte sich an schrilles Sirenengeheul, hastiges Packen und endlose bange Nächte in diversen Luftschutzkellern, auch an ein Nachbarskind, das eines Morgens tot vor dem Schutzbunker lag, die Puppe noch im Arm, als sie mit ihren Eltern nach draußen kam. Die wenigen Gegenstände und Fotos, die bei den Bombenangriffen nicht zerstört wurden, mussten mühsam auf der Straße aufgesammelt und gesäubert werden. Ihre Kinder- und Familienfotos waren daher besonders kostbar für sie und blieben immer in ihrer Nähe. Ich hoffe, dass sie nicht auch entsorgt wurden. Einige wenige habe ich vor Jahren von ihren Originalen abfotografiert, als Überraschung für meinen Vater, der damals über seine Kindheit schrieb.

Herbert Felten

Herbert Felten starb im August 1943 mit nur 19 Jahren an der Ostfront und wurde von seinen Eltern so intensiv und untröstlich betrauert, dass nach seinem Tod jahrelang keine Feste mehr gefeiert wurden. Weder Geburtstage noch Weihnachten, was der kleinen Edith sehr zusetzte. Edith hat mir erzählt, wie ihr verzweifelter Vater sich gemeinsam mit ihr auf den Weg machte und versuchte herauszufinden, wie genau Herbert gestorben war, ob er hatte leiden müssen, und dass er nächtelang Briefe an den toten Sohn schrieb und immer wieder dessen Kleidung trug, um ihm möglichst nahe zu sein. Nicht selten saßen die drei Überlebenden im Wohnzimmer beieinander und weinten „im Chorus“, wie Onkel Albert sich ausdrückte. Ich fand einen erschütternden Brief, den er ein halbes Jahr nach Herberts Tod an den gefallenen Sohn geschrieben hat, zwischen den Papieren meines Vaters. Edith hatte ihn kopieren lassen. Mit meinem Vater, der selbst kriegstraumatisiert war und zeitlebens dem Krieg nicht entfliehen konnte, verband sie eine besondere Freundschaft. Mit ihm konnte sie auch im hohen Alter noch über ihren Bruder reden und wurde verstanden. Auch mir erzählte sie oft von ihm. „Der Herbert war so ein sensibler Junge. Vielleicht war es besser für ihn, dass er nicht zurückgekommen ist. Der Krieg hätte ihn bestimmt innerlich zerstört. So wie deinen Vater.“ Herberts Grab befindet sich heute in Sologubowska in Russland. Nach Herberts Tod war nichts mehr wie vorher. Um ihre Eltern hat Edith sich bis zu deren Tod (1974 und 1987) liebevoll gekümmert.

Ich weiß zwar, dass Edith lange verheiratet war, doch ihren Mann habe ich in all den Jahren nur einmal gesehen, es muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, als ich das Ehepaar zum ersten und einzigen Mal in der Südstadt besuchte. Ich vermute, dass er an Ediths Familie nicht sonderlich interessiert war, denn er begleitete sie nie an den Niederrhein. Lutz und Edith wohnten in einem Haus in der Jakobstraße, in dem sich auch der Karrosseriebaubetrieb Janders befand. Lutz wirkte auf mich wie das genaue Gegenteil von Edith, groß, kräftig, jovial, aufbrausend, temperamentvoll.

Ediths Haus in Spanien

Gemeinsam besaßen die beiden ein großes Haus an der Costa Brava, und Edith, die fließend Spanisch sprach, fand in Katalonien dreißig Jahre lang ihre geliebte zweite Heimat. Zunächst wohnten die beiden in Ampuriabrava, dann bezogen sie ein neues Haus in Rosas. Mit mir hat sie über diese Zeit kaum gesprochen, wohl weil ich Spanien nicht kenne. Heute tut es mir leid, dass ich sie nicht mehr gefragt habe. Ich erinnere mich aber sehr gut daran, wie deprimiert sie war, als das schöne Haus nach der Scheidung endgültig verkauft werden musste. Einen herrlichen Blick auf den Hafen habe man von dort aus gehabt, überall Terrassen und wunderbare Aussichten, links die Burg, rechts das Gebirge, hell und lichtdurchflutet seien die Räume gewesen, klar die Luft, morgens habe man die Fischerboote hinaus aufs offene Meer tuckern hören. Hell und lichtdurchflutet war auch Ediths Wohnung in Rodenkirchen, sie bestand zum größten Teil aus Fenstern.

Ediths Haus in Spanien

Viele Freunde und Verwandte hat Edith nach Spanien eingeladen, ich habe Fotos gesehen und mir von der begeisterten Fremdenführerin erzählen lassen, die ihre Gäste großzügig bewirtete und mit dem Auto zu allen möglichen Sehenswürdigkeiten fuhr, zu Kirchen und Burgen, einsamen Buchten, eindrucksvollen Sandstränden und zu den Wirkstätten von Salvatore Dali. Besonders schön seien das gemeinsamen Kochen und die gemeinsamen Mahlzeiten gewesen, die ausgelassenen Feste und das gemeinsame Sonnenbaden und Schwimmen im Meer.

Edith in Spanien

Auf den Bildern sieht sie jung und glücklich aus. Edith liebte die Sonne und war in südlichen Gefilden als Sommermensch sicher ganz in ihrem Element. Leider habe ich sie so nie erleben können. Kennengelernt habe ich sie aber als Kunstliebhaberin und vielseitig interessierte Leserin, die sich sogar beim Zeitungslesen Notizen machte und ganze Ordner mit Zeitungsausschnitten hatte. Ihr Lieblingsbuch „Schweigeminute“ habe ich auf ihren Rat hin mit meinem Literaturkreis gelesen. Alle waren von dem Buch beeindruckt. Genau wie ich war sie eine leidenschaftliche Fotografin. Sie verschickte zu allen Anlässen schöne selbstgestaltete Karten, meine Eltern haben viele davon aufbewahrt. Ich erkenne ihre Handschrift und auch den Duft, den sie später am liebsten mochte. „Wish“ von Chopard, in einem merkwürdigen Flacon, der an einen Diamanten erinnert und in ihrem Sekretär lag. Damals hielt ich ihn allerdings für einen Briefbeschwerer. In ihrer Rodenkirchener Wohnung hatte Edith unzählige Fotos, die sie in prall gefüllten Alben und Kartons aufbewahrte. Und viele Filme, die sie sich abends oder am Wochenende ansah, mit Kopfhörern, weil sie so schlecht hörte. Überhaupt muss Edith es früher geliebt haben, Gäste einzuladen und zu bewirten, ist sehr gern verreist, war immer bereit zu Spontanausflügen und Unternehmungen, war ganz versessen auf Ausstellungen und Museen und hat wohl auch gern gefeiert, besonders Karneval. Eine Freundin meint, dass sie auch ausgefallene Kostüme entworfen habe. Ich weiß auch, dass Lutz und Edith ausgesprochen sportlich waren und früher beide Hockey spielten.

Buchkunst in Ediths Wohnung

Irgendwann fing ich an, die vielen schönen Dinge in ihrer Wohnung zu fotografieren. Vielleicht würde sie sich ja über ein Fotobuch freuen? Ich schenkte es ihr 2013 zum Geburtstag. „Ich kann nicht fassen, dass ich hier zwischen so wunderbaren Schätzen lebe. Das ist wirklich meine Wohnung in deinem Buch! So ganz anders, gesehen durch deine Augen! Ich danke dir sehr dafür!“ Das Buch ist genauso verschwunden wie der Stein. Entsorgt oder möglicherweise in einem der Kellerkartons. Für Edith war es nach der Umsiedelung tröstlich, dass sie ihre Schätze noch bei sich hatte. Im Heim habe ich nur ein einziges Foto gemacht, weil mich das Stillleben aus Brille, Stift und trauriger Vase mit getrockneter Blume anrührte. Die Fensterbank schmückte Edith mit Kerzen und bedrucktem Transparentpapier und liebte es, wenn die Sonne damit Licht- und Schattenspiele machte. An den Wänden hingen ihre Fotos, in Wechselausstellungen, allerdings nur notdürftig mit Tesafilm oder kraftlosen Heftzwecken befestigt, die in der harten Wand krumm wurden und nicht lange hielten, so dass die Seite über ihrem Bett voller Löcher war.

Steinkunst in Ediths Wohnung

Die Idee mit dem Fotografieren kam nicht von ungefähr. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich auch mein Elternhaus vor dem Verlust ausgiebig fotografiert. Ich ertrage es nicht, wenn Erinnerungen verschwinden. Die geschmackvolle, farbharmonisch eingerichtete Wohnung meiner Tante mit all ihren Kostbarkeiten, die sie aus Ausstellungen und aus der Natur zusammengetragen hatte, lud in der Tat zum Schauen und Fotografieren ein. Dicke Mohnkapseln waren von Künstlerhand nebeneinander arrangiert, verschiedenfarbige flache Kiesel fein übereinander aufgereiht, Holzstückchen zu fragilen Bauten aufgeschichtet, Buchseiten kunstvoll gefaltet, von ihr selbst gesammelte Steine schmückten flache weiße Schalen, und überall hingen zahlreiche kleine und einige wenige große Bilder, am Fenster schwebte ein luftiges Boot oder vielleicht war es auch ein Vogel aus Treibholz und milchigen Pflanzenteilen. Sogar im Flur und im Bad hingen Bilder, alles lud zum Schauen ein. Die Fähigkeit, wie ein Kind zu staunen und sich zu freuen, hat Edith sich bis ins hohe Alter bewahrt, und ihre Begeisterung war durchaus mitreißend. Ihre Wohnung wirkte aber nicht etwa voll, sondern aufgeräumt und genau durchdacht. Alles befand sich an der richtigen Stelle, alles war genau am richtigen Ort, nichts wurde dem Zufall überlassen.

Edith in ihrer Wohnung

Edith besaß ein ausgeprägtes Stilgefühl, einen sicheren ästhetischen Blick, und umgab sich grundsätzlich nur mit ganz bestimmten Farben, auch ihre Kleidung spiegelte ihr Farbempfinden wider, so dass sie fast mit ihrer Umgebung verschmolz. Ediths Farben waren Weiß, Beige, Grau, alle Schattierungen von Erdtönen und Braun bis hin zu einem fast schwarzen Dunkelbraun. In ihrer Wohnung spielte sie gern mit Kontrasten. Was Farben betraf, reagierte sie übrigens erstaunlich emotional. Sie hasste Gelb und Rot so sehr, dass sie nichtsahnend mitgebrachte gelbe oder rote Blumen schlichtweg nicht annahm. Die konnten Besucher wieder mitnehmen. Sie ertrug diese Farben einfach nicht in ihrer Nähe. Sie taten ihren Augen weh.

Ediths Wohnung mit Entenbild

Ich verstehe diese Abneigung, allerdings nur, wenn es meine eigene Kleidung betrifft. Der rote Pullover, in den meine Mutter mich als Kind steckte, versetzte mich geradezu in Panik, und ein gelber, den sie mir gestrickt hatte, machte mich jedesmal so übellaunig und unruhig, wenn ich ihn trug, dass meine Mutter entnervt aufgab. Gelb und Rot waren laute, schrille Farben, die auffielen! Viel zu grell und aggressiv, geradezu giftig! Ich reagiere mit Herzrasen und Beklommenheit, wenn ich diese Farben trage, doch bei anderen und auch bei Blumen stören sie mich kein bisschen. Vielleicht liegt es daran, dass sie in der Natur tatsächlich oft Signal- oder Warncharakter haben? Rot ist die Farbe von Feuer, Glut, Hitze, Krieg, Verwundung, Blut, Aggression und Leidenschaft, und Gelb (meist in Kombination mit Schwarz) kennzeichnet häufig giftige, gefährliche oder radioaktive Stoffe und ist die Farbe des Neids. In der Natur und in meinem Garten liebe ich alle Farben, ganz besonders Gelb und Rot, und auch beim Malen und Basteln bin ich mit meiner Farbpalette erstaunlich experimentierfreudig. Vielleicht wirkten Rot und Gelb auf Edith ähnlich? Übrigens ist meine persönliche Hassfarbe Weiß, weil es mich an Krankenhäuser, Kinderheime, Schmerzen und Tod erinnert. Weiße Bettwäsche und weiße Wände sind für mich unerträglich. Beige und Orange mag ich an mir auch nicht besonders. Meine Lieblinge sind alle Blau- und Lilatöne. Und bei Kleidung auch Braun und Schwarz.

Bei Ediths Beerdigung haben wir (natürlich!) darauf geachtet, dass die Rosenblüten, die ihr ins Grab folgten, auf gar keinen Fall gelb oder rot waren, sondern ganz hell. Das habe ich auch dem Bestatter mitgeteilt. Die Blüten in Ediths Grab waren cremeweiß, nur einige wenige hatten zartrosa Ränder. Es war wirklich nur ein Hauch. Ich hoffe, es hat sie nicht gestört.

Ediths Dachterrasse mit Kranich

Onkel Albert, Ediths Vater, besaß wie viele Feltens eine ausgesprochen künstlerische Begabung und eine tiefe Naturverbundenheit. Edith hatte noch einige Originale ihres Vaters und malte selbst auch manchmal, die drei kleinen Vögel auf Porzellan rettete sie sogar bis in ihr letztes Zimmer. Wie ihr Vater und seine Brüder hatte sie einen grünen Daumen und liebte ihren großen Dachgarten über alles. Dort beobachtete sie die Vögel, hing Nisthilfen auf, eine Kugel für den Zaunkönig, pflegte und hegte ihre riesigen, üppigen Pflanzen. Sie ließ sich eigens einen Wasseranschluss nach draußen legen und genoss den Blick über die Dächer von Köln. Nie habe ich eine schönere Passionsblume gesehen als auf Ediths Dachterrasse, ein wahres Blütenmeer. Zwischen den Kübeln standen Vogelstatuen. Den schlanken Kranich hat sie dem Heim geschenkt, wo er jetzt verloren am Haus steht, doch auch dafür war sie dankbar und besuchte ihn oft. „Da ist er! Mein Kranich! Ein Freund!“ Sie schaute voll Freude auf den Heimgarten und kannte dort jeden Baum, jeden Strauch. „Ist das nicht herrlich hier?“ freute sie sich. Auch ihr metallener Fisch steht jetzt dort, wasserfern, inmitten von Kieseln. Mich hat die Gartenanlage immer nur deprimiert, für Edith war sie ein Lichtblick.

Ediths Dachterrasse mit Fisch

Sehen konnte sie selbst im hohen Alter noch erstaunlich gut. Familienmitglieder erkannte sie bis zum Schluss, vor allem wenn ich ihr alte Fotos zeigte, auf denen längst Verblichene noch jung und frisch aussehen und den Betrachter strahlend anlächeln. „Der Günter! Der Kurt! Die Margot! Tante Auguste! Vati! Dein Opa!“ In diesen Momenten wirkte sie überrascht und bewegt. Sie konnte sich einfach nicht erklären, wieso die Gesichter jetzt alle in meinem Handy waren. „Wie machst du das? Was man heute alles kann! Die Technik!“ Manchmal sagte sie auch Sätze, die mich traurig machten. „Dann gibt es mich also noch!“ „Dann bin ich also nicht vergessen!“ „Ich danke dir, dass du mir meine Familie zurückgibst!“ An den Wänden und auf dem Tisch fanden sich auch im Heimzimmer noch viele Fotos von Personen, die ihr einst lieb gewesen waren. „Freunde. Von früher. Spanien. Ich hatte so viele Freunde.“ Sie nannte etliche Namen, doch für mich waren es Fremde.

Ediths Papierkunst

Bei unserem letzten Besuch im Heim, es war um die Weihnachtszeit, wirkte Edith in sich gekehrt und weit fort. Als sie mich erkannte, sagte sie zu meinem großen Schrecken wörtlich denselben Satz, den auch mein Vater auf der Demenzstation zu mir sagte: „Wie hast du mich hier bloß gefunden?“ Als befände sie sich bereits in einer Anderswelt, weit weg, durch tiefe Abgründe vom Leben getrennt. Sie war an diesem Tag schwer zu erreichen, sprach nicht, starrte ins Leere, aß mechanisch die Plätzchen, die wir mitgebracht hatten, sank immer wieder tief in sich selbst zurück und konnte sich nur mit großer Kraft konzentrieren. Schließlich deutete sie auf das Foto, auf dem sie mit Herbert zu sehen war. „Das sind meine Kinder“ murmelte sie. Sie merkte wohl, dass ich erschrocken war und sah mich ratlos an. „Entschuldige. Verwirrt. Mein Kopf.“ Sie kam nicht mehr wie sonst mit zum Aufzug, sondern blieb still und verloren an ihrem Platz im Speiseraum, sah uns gehen und winkte. Das ist mein letztes Bild von ihr.

Kurze Zeit später brach die Pandemie über unsere Welt herein. Lockdowns und Distanzregeln prägten unser Leben. Ich dachte jeden Tag an Edith, rief auch manchmal im Heim an und erkundigte mich, wie es ihr ging, fragte nach, ob sie schon geimpft sei, aber besucht haben wir sie nicht mehr. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie sie sich gefühlt hat, als sie plötzlich nur noch von Masken umgeben war, denn sie konnte ja nichts hören und las meist von den Lippen ab. Beim letzten  Besuch klang ihre Stimme rau und fremd, und ich konnte nichts weiter tun als ihren Arm und ihr Gesicht streicheln und ihre kühle Hand halten. „Das tut mir gut!“ sagte sie. „Dann gibt es mich also doch noch.“

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer. Als mein Mann an Ediths Grab diese Zeilen aus Psalm 139 sprach, dachte ich an ihr glückliches, erfülltes Leben in Spanien, in der wärmenden Sonne, direkt am Rand des Meeres. Jetzt ruht ihre Asche weit weg vom Meer in einem grünen moosigen Wald voller Farne und Steinschalen zwischen den Wurzeln einer jungen Kastanie an einem von ihr selbst gewählten Ort. Er passt zu ihrer Naturnähe. Es war mein erster Besuch in einem Friedwald, und ich war angenehm überrascht. Ich erinnere mich noch, wie sie uns vor einigen Jahren von den Gärten der Erinnerung und Pfaden der Sinne erzählte. Sie hatte in der Zeitung darüber gelesen und das schöne Foto ausgeschnitten, tröstliche Laternenlichter unter herbstlichen Bäumen. „Ein schwerer Gang für mich! Aber so nette Menschen. Verständnisvoll. Freundlich. Sie haben mir sehr geholfen.“ Sie sprach oft ein wenig bruchstückhaft. Und ziemlich laut, weil sie sich selbst nicht hören konnte. Es muss kurz vor der unerwarteten Übersiedlung ins Heim gewesen sein. Vielleicht hat sie gespürt, dass eine tiefgreifende Veränderung bevorstand. Edith hat viel gespürt, auch die Schwingungen anderer Menschen und die Schatten der Zukunft. Genau wie mein Vater.

Friedwald in Bergisch Gladbach

Gemeinsam mit dem netten Herrn sei sie durch die Anlage gegangen und fand, dass ein Laubbaum gut zu ihr passte. „Laubbäume verändern sich. Sehen immer anders aus. Gefällt mir gut.“ Viel Kraft hatte dieser Schritt sie gekostet. „Aber jetzt ist alles geregelt, jetzt bin ich ruhig.“ Vorher hatte sie nächtelang nicht geschlafen vor Aufregung. Hatte sich verfahren an dem Tag. Sie fuhr gern und viel, war stolz darauf, ein kleines Auto zu haben, so mobil zu sein, allerdings war ihr Fahrstil zumindest in späteren Jahren für nichtsahnende Beifahrer ziemlich gewöhnungsbedürftig. Als sie mich einmal im Wagen von Köln an den Niederrhein mitnahm, war ich heilfroh, als wir endlich wohlbehalten am Ziel waren und saß während der Hin- und Rückfahrt mehr oder weniger auf der Kupplung.

Ediths Mohnkapseln

Bei meinem letzten Besuch in der Rodenkirchener Wohnung wohnte Edith bereits im Heim. Die Pflanzen auf der Dachterrasse waren einsam und vertrocknet, die Wohnung war traurig und leer, nur der Sekretär stand noch da, sah im falschen Zimmer noch kleiner und fragiler aus. Wenige Tage vorher hatte sie mich angerufen. „Ich habe nachgedacht. Ich möchte dir meinen Sekretär schenken. Ihr müsst ihn nur noch abholen.“ Lange haben wir nicht den richtigen Platz gefunden, aber jetzt steht er hier im Ahnenzimmer, in seinen Schubladen sind Farben und Stifte und alte Briefe und Fotos. Und ein Flakon „Wish“. Genau in dem Fach, wo er auch bei Edith gelegen hat. Das würde ihr gefallen. Das Entenbild, das ihr Vater gemalt hatte, schenkte sie mir im letzten Jahr in ihrer Rodenkirchener Wohnung. Sie nahm es bei unserem Besuch von der Wohnzimmerwand, wo es so viele Jahre rahmenlos neben dem Schrank gehangen hatte. Sie muss gemerkt haben, wie sehr ich es mochte. „Das sollst du haben. Ich freue mich, dass es dir gefällt.“ Ich weiß sehr wohl, wie wichtig ihr dieses Bild war. Und so schwimmen jetzt fünf Enten bei uns im Flur, in einem Rahmen mit den gedämpften Farben des Entengefieders, dass längst nicht mehr weiß ist, sondern sich in verschiedene Cremetöne verwandelt hat. Ediths Farben.

Ediths Wohnung

Edith war das, was man heute als hochsensibel bezeichnet, feinfühlig, feinsinnig, mit einem sicheren Blick für kleine Dinge, an denen andere achtlos vorübergehen. Sie bemerkte winzige Schneckenhäuser, verfallene Turmgemäuer und bizarre Wolkengebilde. Leider gingen ihr schon früh zwei wichtige Sinne verloren. Sie konnte kaum noch riechen, was sie sehr bedauerte, und war so taub, dass jede Kommunikation mit ihr schwierig war. Ich meine mich zu erinnern, dass auch andere Feltens ziemlich schwerhörig waren.

Da sie nicht mehr gut zuhören konnte, wurden Gespräche meist zu Monologen, bei denen sie irgendwann den Faden verlor, weil sie mit Vorliebe von einem Thema zum nächsten mäanderte. Auch hatte sie die Angewohnheit, mitten im Satz abzubrechen, lange Pausen  einzulegen, dabei in die Ferne zu starren und dann urplötzlich weiterzureden, was ihre Gesprächspartner stark irritierte. Ich habe mehrfach versucht, sie gezielt zu „interviewen“, so richtig mit vorbereiteten schriftlichen Fragen, um mehr über unsere Familie herauszufinden. Viel erfahren habe ich leider nicht. Ihre Hörgeräte funktionierten meist nicht, was sie selbst allerdings weniger störte als ihre Besucher. Telefonate waren schon vor Jahren so gut wie unmöglich. „Ich verstehe dich nicht!“ war ein Satz, der mich sofort hilflos machte. Genau wie „Bitte schrei nicht so laut!“ und „Sprich bitte lauter!“ Das alles machte mich so unsicher, dass ich vor jedem Anruf einen seelischen Anlauf nehmen musste. Meist sagte ich nur schnell, dass und wann wir kommen wollten, und fragte, ob es ihr gelegen kam. Und Edith antwortete: „Das passt mir gut. Ich freue mich auf euch!“ Oft war ihr letzter Satz, noch an der Tür: „Ich muss mich entschuldigen, dass ich schon wieder so viel geredet habe.“ Besuche bei Tante Edith waren schön und interessant, aber sie konnten auch anstrengend sein.

Viele Gedanken habe ich mir gemacht über sie in den letzten Wochen, habe mit Freunden und Verwandten gesprochen, in alten Alben geblättert und ihre Karten und Briefe gelesen. Nein, ich ertrage es ganz und gar nicht, wenn Menschen und alles, was ihnen lieb und wichtig war, einfach so verschwinden. Ich musste diesen Nachruf schreiben, auch wenn er zu lang geraten ist, aber es war ja auch ein langes, dichtes Leben. Liebe Edith, ich hoffe, meine Erinnerungen gefallen dir. Es gibt dich noch. Du hast in unseren Leben viele Spuren hinterlassen. Du bist nicht vergessen.

Herbst

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Pandemischer Jahresrückblick

Amsel (pixabay)

Heute vor genau einem Jahr (zwei Tage zuvor hatte die WHO die Pandemie ausgerufen) schrieb ich hier auf meiner Seite: „Über 4.200 Menschen sind bereits an der Erkrankung gestorben.“ Weltweit, wohlgemerkt. In Köln gab es damals gerade mal 61 bestätigte Krankheitsfälle, und die Quarantänefälle lagen noch unter 200. Und die meisten von uns machten sich Sorgen. Wie anders sieht es jetzt aus. Bis heute wurden allein in Köln 35.433 Fälle gemeldet, aktuell infiziert sind 1.658, verstorben 552. Morgen vor einem Jahr wurden zum ersten Mal jegliche Veranstaltungen im Stadtgebiet untersagt, auch die Gottesdienste.

Ich kann kaum fassen, wie sehr sich die Welt in den wenigen Monaten verändert hat. Wieder ist März, wieder nähert sich zuverlässig der Frühling, die Amseln singen schon morgens und abends, bald wird es wärmer, auch wenn es heute stürmisch ist und zwischendurch sogar Hagelkörner herunter prasselten. Die ersten Knospen erscheinen an den Zweigen, die Wacholderdrossel kommt neuerdings zum Frühstück, die Zugvögel kehren zurück. Heute Morgen um gab es als wetterliche Zugabe sogar noch einen richtig lauten Donnerschlag.

vaccine (hakan nural/unsplash)

Heute vor einem Jahr befanden wir uns am Beginn der ersten Welle, verunsichert bis ungläubig, fühlten uns soldarisch und hilfsbereit. Sangen gemeinsam um 9 Lieder. Vorbei. Heute singt und klatscht kein Mensch mehr. Pandemiemüdigkeit. Damals trugen wir noch keine Masken, konnten uns nicht mal vorstellen, mit den unbequemen Lappen vor dem Gesicht herumzulaufen. Die ersten Hamsterkäufer räumten die Klopapierregale leer, als könnten sie mit den weißen Rollen ihr Leben retten. Darüber lächeln wir heute. Wir haben viele neue Wörter gelernt, hören Podcasts, sind wahre Impfstoffspezialisten, kennen mindestens fünf bekannte Virologen und sehen zu, wie die Menschheit in immer mehr kleine Gruppen zerfällt. Und jede hat ihr eigenes Kürzel und wehe, man nimmt ihr was weg. Ich sehne mich zurück nach der Zeit, als das wichtig war, was wir gemeinsam hatten, und nicht das, was uns trennt und unterscheidet.

Gerade stehen wir vor der dritten Welle und schauen mit bangem Blick auf Ostern. Heute denken wir in Millionen. Weltweit gibt es 119.187.414 (bekannte) Fälle (ohne Dunkelziffer), 67.491.954 Menschen sind genesen (was immer das bedeutet, das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht sichtbar), 2.641.707 sind gestorben. Zum Glück gibt es in Deutschland bereits drei zugelassene Impfstoffe (in einigen anderen Ländern sind es noch mehr), auch wenn die Impfungen nur sehr schleppend voranschreiten und sich bei einem der Impfstoffe die Probleme häufen. Gerade heute wurde wieder ein Lieferengpass verkündet. Wir kommen nicht weiter mit den Schutzimpfungen. Deutsche Gründlichkeit und suboptimales Krisenmanagement sind keine gute Kombination. Die Impfstoffe sind zwar ein Hoffnungsschimmer und eine wahre medizinische Hochleistung, aber leider gibt es auch bereits mehrere gefährliche und hochansteckende Virusmutationen aus Südafrika, Brasilien und aus dem Vereinigten Königreich. Sie sind längst auch schon bei uns. Besonders B 1.1.7, momentan ist sie bereits für 50% der Fälle verantwortlich.

Masked  (Engin Akyurt/unsplash)

Letzten März wußten wir noch sehr wenig über dieses Virus und seine Tücken. Dass es so viele Bereiche unseres Körpers schädigen kann, uns (oft leider nicht nur vorübergehend) komplett die Sinne rauben kann, dass selbst milde Verläufe üble Folgen haben können, manchmal erst Monate später, und dass Genesene eher Überlebende sind. Das wirtschaftliche Ausmaß dieser Katastrophe ist noch gar nicht absehbar. Heute wissen viele von uns, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr riechen und schmecken zu können. Wochenlang. Wochen voller Unsicherheit und Angst. Und wie es sich anfühlt, auch nach Monaten noch urplötzlich in eiskalten Schweiß gebadet dazustehen, ohne dass einem warm ist oder man Stress hat, einfach so. Dass einem büschelweise die Haare ausfallen. Das Herz rast wie ein Rennpferd. Wie es sich anfühlt, tagelang so schmerzende Fingergelenke zu habe, dass man keinen Stift mehr halten kann, oder sich so matt und kraftlos zu fühlen, dass man nur noch liegen und vor sich hindämmern kann. Wie bei Jetlag (das verstehen die meisten), nur schlimmer. „Dann mußt man sich eben zwingen!“ oder „Du musst dich zusammenreißen“ sind gut gemeinte Sätze, helfen aber nicht. Hier stellt sich keiner an, das ist traurige, kräfteraubende Realität.

Eine derartige Losigkeit kannte man bisher höchstens bei Depressionen. Kraftlos, motivationslos, zuweilen hoffnungslos. Hört das denn nie auf? Auch nach einem Jahr nicht? Heute gibt es so viele Long Haulers, heute gibt es Long Covid, Post Covid, Chronic Fatigue. Es gibt Brain Fog (Nebel im Kopf), jähe neurologische Aussetzer, bei denen man voll Schrecken seine eigene Adresse nicht mehr weiß, sich in Wörtern verheddert oder sie nicht mehr findet und sich nicht mehr konzentrieren kann. Tage, an denen man in der Küche oder im Keller steht und nicht weiß, warum. Vor Verwirrung und Schrecken zu weinen beginnt. Das passiert auch jungen Menschen, ganz ohne Altersdemenz.

Es gibt großartige Gruppen wie „AbScent“ (ein englischsprachiges Forum), die sich mit den Folgen von Anosmie, Parosmie und Phantosmie beschäftigen, in denen die Betroffenen Halt und Trost finden. In denen sie aufgefangen und verstanden werden. Mit Nichtbetroffenen können sie sich über ihren Kummer kaum unterhalten. Die Reaktionen sind allzu oft unsensibel und verletzend. „Sei froh, dass du nur einen milden Verlauf hattest.“ Ja, ist man, aber man leidet trotzdem an Folgeerscheinungen. Oft sind sie so schlimm, dass man nicht mehr arbeiten kann. Nicht mehr Sport treiben kann. „Nichts riechen? Das hab ich nach jedem Schnupfen.“ Sie wissen nicht, wovon sie reden. „Du kannst nichts mehr schmecken? Das könnte ich auch mal brauchen, dann würde ich wenigstens ein paar Kilo abnehmen.“ Und dabei lachen sie. „Es wird meiner Meinung nach sowieso viel zu viel Tamtam um das Ganze gemacht.“ Was sie nicht wissen: Den Zustand wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.

apple (iamcristian/unsplash)

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In Selbsthilfeforen teilen Betroffene ihre großen und kleinen täglichen Erfolge: „Heute zum ersten Mal nach vier Monaten wieder Kaffee geschmeckt, ohne zu würgen!“ „Ich bin so froh, endlich kann ich wieder Bananen essen!“ Oder die Trauer darüber, was alles nicht mehr geht. „Jetzt hab ich auch noch Äpfel verloren.“ „Ich kann nicht aufhören zu weinen, alles stinkt nach Covid.“ „Covid“ riecht extrem scheußlich, chemisch, eklig. Und die anderen Fehlgerüche und Halluzinationen. Es gibt Betroffene, die sich beim Versuch zu essen regelmäßig übergeben, die nur noch Nahrung zu sich nehmen können, wenn sie sich eine Klammer auf die Nase setzen, wie Taucher sie benutzen, weil sie sich sonst ekeln, weil alles nach Jauche oder faulig riecht. Ranzig und verdorben schmeckt. So viele Menschen entwickeln gerade Essstörungen, Depressionen, Ängste. Wenn alles nur noch nach Zigaretten, Aas oder Gas riecht, auch die eigenen Kinder, Partner oder Haustiere, das eigene Haus und überhaupt die ganze Welt, dann sehnen sich einige sogar zurück in den Zustand des Gar-nichts-Riechens, auch wenn der Zustand ein Alptraum war, weil man sich in so einer leeren Welt nur schlecht zurechtfinden kann. Besonders Verzweifelte überlegen sogar, ob sie sich den Riechkolben operativ entfernen lassen sollen und lieber für immer ohne Geruchssinn bleiben, nur damit die scheußlichen Halluzinationen aufhören. „Ich ertrage das einfach nicht mehr.“ Die Menschen im Forum verstehen das. Die anderen nicht. Sie können es sich nicht vorstellen. „Jammern auf hohem Niveau. Seid froh, dass ihr nicht im Krankenhaus wart und beatmet werden musstet.“ Es stimmt. Und wir sind auch dankbar. Und fühlen uns schlecht und schuldig, weil wir klagen. Doch wenn die Welt stinkt und einem die Gelenke weh tun, wird man jammerig. Überlebensschuld haben wir sowieso. Warum tötet das Virus so viele und verschont andere? Es ist alles so willkürlich.

Lavendel (elly johnson/unsplash)

In Brasilien explodieren wieder die Fallzahlen, kein Wunder bei dem Präsidenten, Italien steht erneut vor einer Katastrophe. Irgendwie haben wir das Jahr überlebt, haben versucht, uns so gut es geht zu schützen, haben erfahren, wie schlimm es ist, voneinander getrennt zu sein.  Für viele lange Monate. Haben uns damit abgefunden, einander über ein Jahr nicht mehr „richtig“ zu sehen oder in den Arm nehmen zu können (wie gut, dass es Zoom und Skype und WhatsApp gibt). Wir entwickeln mitunter merkwürdige Störungen, werden zunehmend eigenbrötlerischer. Vereinzeln und verlernen das Lächeln. Man sieht den Mund ja eh nicht mehr. Schrecken zusammen, wenn wir Filme sehen, in denen Menschen in großen Gruppen auftreten. (Oh Gott, die halten ja gar keinen Abstand! Und keine Masken!) Ich erschrecke selbst im Traum, wenn jemand mir zu nahe kommt. Obwohl ich weiß, dass ich träume!

yellow flower (engin akyurt/unsplash)

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