I met you in Dublin…

Dublin (Gabriel Ramos/unsplash)

In wenigen Wochen haben wir Silberhochzeit, und der Blick zurück ist immer noch wunderschön. Wir begegneten uns zum ersten Mal Anfang 1998 in der Königin-Luise-Schule (1871 als erste höhere Töchterschule in Köln gegründet), wo zwei meiner insgesamt vier Englischkurse stattfanden: „Spot your mistakes“ und „Getting ready for your trip abroad“. Beide hatte ich selbst ins Leben gerufen. Den ersten, um deutschen Muttersprachlern ihre typischen Fehler abzugewöhnen. Meine Lieblingssparte waren „false friends“, Wörter, die zwar englisch klingen, aber entweder auf Englisch gar nicht existieren oder eine völlig andere Bedeutung haben als bei uns, oder Wörter, die in beiden Sprachen verblüffend ähnlich klingen und daher leicht verwechselt werden. Mit dem zweiten Kurs wollte ich zukünftige Globetrotter oder Reisende für Großbritannien und die Vereinigten Staaten so fit machen, dass ihnen nicht all die peinlichen Fehler unterliefen wie mir selbst. Etwa Müll in einen blauen US-Briefkasten werfen, Amerikaner mit dem falschen Wort für Klo zu Tode schocken (nicht loo oder toilet, sondern bathroom!), Waliser als Engländer bezeichnen und damit einen hysterischen Schreianfall provozieren und vieles mehr. Zudem gab es eine kleine Einführung in die lange und hochinteressante Liste von Tabuwörtern, einen Exkurs über die Begehung nationaler Feiertage sowie über besondere Tischmanieren (Gabelhaltung! Zuerst die Milch in den Becher, dann erst den Tee!). Wir schauten uns die damals noch relativ unbekannten Besonderheiten der landestypischen Küche an („Toad in the Hole“, „Bubble and Squeak“, „Sweet Potato“, „Digestives“, „Cilantro“) und vieles mehr. Es machte Freude, das alles zu vermitteln. Die Kursteilnehmer von „Getting ready“ verabschiedeten sich leider oft schon schnell ins Ausland und schickten mir danach nette Kartengrüße, in denen sie sich für die nützlichen Tipps bedankten. „Spot your mistakes“ war beständiger, einige Teilnehmer kannte ich schon seit Jahren, was den Nachteil hatte, dass ich nichts recyceln konnte und mich für jeden Abend aufwändig neu vorbereiten musste. Ich steckte viel Zeit und Energie in die Vorbereitung.

Die VHS-Tätigkeit hatte ich noch während des Studiums nach der Rückkehr aus England aufgenommen, um die Miete für meine kleine Wohnung in der Südstadt bezahlen zu können. Sie lag direkt am Römerpark und wenn man nachts aus dem Fenster schaute, blickte man auf den alten Hafen, der mich oft an ein Schloss erinnerte, besonders, wenn der Mond direkt über den Turmspitzen hing. 1998 wohnte ich bereits in einer größeren Wohnung im Belgischen Viertel, hatte einige Jahre als Fachübersetzerin für psychiatrische Texte an der Uniklinik hinter mir und arbeitete nun vor allem als freie Buchübersetzerin. Ich lebte nicht allein, hatte zwei Katzen und verfügte über zwanzig Jahre Lehrerfahrung. Doch „erste Stunden“ machten mich nach wie vor nervös, auch wenn man es mir nicht mehr anmerkte. Das Gute war, dass ich im Unterricht grundsätzlich nur Englisch sprach, für mich fast wie ein weicher Seelenschutzmantel.

Wie üblich war ich zu früh im Klassenraum, saß mit baumelnden Beinen auf dem altmodischen Pult, starrte die leeren Plätze an und versuchte, mich nach der Winterpause unterrichtsmäßig einigermaßen zu akklimatisieren. Übersetzerisch steckte ich mitten in einem Reiseführer über Dublin, saß den ganzen Tag zwischen Stapeln von Irlandbüchern und fand es schwierig, meine Gedanken von der O’Connell Bridge, St. Stephen’s Green, Molly Mallone, Anna Livia Plurabelle und den bunten Scheiben von Bewley‘s Oriental Café zu lösen, um mich einer neuen Gruppe auszusetzen. Da saß ich also auf meinem Pult vor einem leeren breiten zweireihigen U aus Stühlen und Tischen, hatte mir zum Trost eine halbe Beruhigungstablette aus dem Fundus meiner Mutter gegönnt, aber ich fühlte mich trotzdem aufgeregt und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Erste Stunden waren Stress pur. Jedenfalls bis zu diesem Abend.

Ein leises Geräusch ließ mich aufblicken. Jemand hatte die Tür vorsichtig geöffnet. Ich erblickte einen etwas verloren wirkenden Mann mit Brille, der einen hellen Trenchcoat ohne Gürtel trug, mich fragend ansah und wissen wollte, ob dies der richtige Raum für seinen Englischkurs „Spot your mistakes“ sei, „yes, it is“, daraufhin nahm er rechts vor mir Platz. In nächster Nähe, was mir irgendwie gefiel, denn er strahlte etwas sehr Beruhigendes aus. Auch er war sehr früh dran und hatte anscheinend dasselbe Bedürfnis wie ich, sich mit Räumen vertraut zu machen, denn er schaute sich aufmerksam um und beobachtete auch diskret die anderen Kursteilnehmer, die langsam den Raum füllten. Natürlich sprach ich ausschließlich Englisch mit ihm, was ihn ein klein wenig unsicher machte und mich um einiges sicherer. An unsere Konversation kann ich mich nicht mehr erinnern, vielleicht steht dazu etwas in einem meiner Tagebücher, wohl aber, dass meine Aufgeregtheit sich schon sehr bald zu verwandeln begann, im Laufe des Abends eine durchaus angenehme Farbe annahm und schließlich einem leichtköpfigen Gefühl Platz machte, das ich damals noch nicht benennen konnte: Eu-Stress.

Wir fanden uns zufällig, waren beide nicht auf der Suche, vielleicht die beste Voraussetzung für die Liebe? Es „passierte“ bereits am ersten Abend, head over heels, auch wenn es mir damals nicht bewusst war. Bereits bei der üblichen Vorstellungsrunde versuchte ich, mehr über den nachdenklichen Fremden im Trench herauszufinden, doch der blieb spröde. „I am just a civil servant“, stellte er sich vor. Ein einfacher Beamter! Das konnte alles bedeuten, aber wie ein typisch deutscher Beamter wirkte er so gar nicht. Alles, was ich an diesem ersten Abend sonst noch herausfand, war, dass er einen Sohn mit Internetzugang hatte und ein Saab Convertible fuhr (beides gestand er natürlich nur auf Nachfrage), sogar mit Navigationssystem (das gestand er auf hartnäckige Nachfrage eines anderen Kursteilnehmers, der sich mit neuen Autos auskannte und ein Saab-Fan war), was ich mir genauer erklären lassen musste, weil ich mir darunter damals nichts vorstellen konnte. Bei den Übungen merkte ich schnell, dass er bei englischen Präpositionen ziemlich ins Trudeln kam. „Always take the second one that comes to your mind“ riet ich ihm spontan. Es half! Die richtige Präposition war tatsächlich immer genau die zweite, die ihm einfiel, und schon war sein Problem gelöst.

Aber meins kam noch! Leicht gerührt erinnere ich mich an den Moment, als mir – absolut typisch für erste Stunden, daher zu Recht von mir gefürchtet – ein total wichtiges Wort partout nicht einfallen wollte. Ich weiß nicht mehr, ob es ein deutsches oder englisches war. Meine Wortblockaden waren wirklich ärgerlich. Kaum war die Stunde vorbei, kreuzte das verstockte Wort natürlich sofort wieder grinsend in meinem Kopf auf. So war es immer gewesen, und ich hasste es. Diesmal nicht. Mr Just a civil servant sah mich kurz an, spürte den Stress, zauberte blitzschnell ein winziges Wörterbuch aus seiner Tasche (gelb, Langenscheidt), schob seine Brille hoch, hielt das Büchlein extrem nah vor seine Augen und soufflierte dezent den verstockten Begriff. Ich war beeindruckt und mit einem Mal ruhig und entspannt. Das war mir in zwanzig Jahren noch nie passiert. Wir waren bereits am ersten Abend ein Dream Team.

Zu Hause angekommen war ich so aufgekratzt, dass es meinem Mitbewohner schon an der Tür auffiel. „Du bist ja gar nicht so müde wie sonst!“ Nein, kein bisschen. Elated geradezu. Normalerweise musste ich mich mindestens eine Stunde lang erholen nach den anstrengenden Unterrichtsstunden, redete keinen Ton, wollte nicht angesprochen werden, knallte mich vor den Fernseher, fühlte mich, als hätten mich Energievampire bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt. Erst danach war ich wieder normal.

Ob ich mich da schon richtig verliebt hatte? Immerhin fand ich den Mann im Trench so interessant, dass ich später in der Teilnehmerliste seine Adresse nachschaute und ihn dann auch noch im Telefonbuch suchte. Er hatte einen Doktortitel? Davon hatte er im Unterricht nichts erwähnt. Aber er neigte offenbar ohnehin eher zu Untertreibungen. Er wohnte in der Aachener Straße, sah ich, also gleich um die Ecke. Dachte ich! Im Telefonbuch gab es noch jemanden mit seinem Nachnamen. Seine Tochter? Hatte er überhaupt eine Tochter? Seine Frau? Lebten sie getrennt? Waren sie geschieden? Ich fürchtete, dass so ein netter Mensch unmöglich ungebunden sein konnte. Bloß nicht, dachte ich. Verheiratet geht gar nicht. So was will ich nie wieder! Aber vielleicht ist er ja geschieden. Hoffentlich. Wie lang die Aachener Straße tatsächlich ist, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Da ich zahlenblind bin, fiel mir die tierisch lange Nummer nicht wirklich auf und ich mag ja Hexennummern. Selbst wenn sie doppelt sind.

Am nächsten Morgen kehrte ich zurück nach Dublin. Doch von nun an war ich nicht mehr allein in der quirligen Stadt an der Liffey. Ein extrem kurzsichtiger Mann um die fünfzig, der einen abgeliebten Trenchcoat ohne Gürtel trug, überaus charmant lächeln konnte, eine Schneidezahndiastase hatte und ein kleines Wörterbuch in der Tasche trug, begleitete mich. Er war auch bei mir im Zimmer, saß neben mir am Schreibtisch, las mit mir aufmerksam in der Sekundärliteratur, blätterte für mich in den Büchern von James Joyce, unterhielt sich mit mir (zu meiner großen Verblüffung) über Anna Livia Plurabelle (wer kennt schon Anna Livia Plurabelle!), schlug für mich komplizierte Wörter nach (damals hatte ich noch kein Internet und natürlich konnte man auch noch nichts googeln) und hörte gemeinsam mit mir die angenehme Musik, die leise im Hintergrund lief, um mich angemessen auf das Land meiner Übersetzung einzustimmen. Beim Arbeiten war es ruhige Irish Folk Music, damit ich mich konzentrieren konnte. In den Pausen tranken wir frisch gebrühten Bewley’s Tea, aßen englische Biscuits und hörten Van Morrison. So laut es ging in einer Mietwohnung mit dünnen Wänden. Meine Katzen Sam und Kitty schliefen wie immer zusammengerollt auf meinem Schreibtisch. Dann kam „River of Time“  und beamte mich weit, weit weg. Hinauf in die Wolken. Hinein in zwei weit ausgebreitete Arme. Und die trugen mich fort. Von jedem und allem. In ein komplett neues Leben. Schon am ersten Morgen nach dem ersten Treffen.

Dublin (Lucas Swinden/unsplash)

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still here

Magic (B.F-L)

Lange habe ich hier nichts mehr geschrieben, aber Kriege, Klimakatastrophen und persönliche Krisen sorgen im Moment dafür, dass die sicheren inneren Orte, an denen meine Geschichten, Träume und konstruktiven Bilder entstehen, für mich kaum noch zugänglich sind. Dabei wäre sicher selbst ein kurzer Aufenthalt dort äußerst hilfreich und angstlindernd. Meine liebste Jahreszeit ist schon fast vorbei, Halloween habe ich schon zum zweiten Mal nicht gefeiert, selbst der zunächst schöne große Kürbis ist gesichtslos und vor seiner Zeit verfault. Ich werde in den nächsten Tagen versuchen, mich durch das unwegsame Dickicht dieser aus den Fugen geratenen Welt wieder nach innen vorzuwagen. Vielleicht kann ich ja die alte grüne Tür finden und öffnen und mich zumindest eine Weile im geheimen wilden Garten aufhalten oder in dem kleinen verwunschenen Haus ausruhen, in dem mein Vater jetzt mit seinen Käuzchen lebt. Ich bin noch da, auch wenn ich gerade große Mühe habe, zur Ruhe zu kommen, meine Schrecken in Worte zu fassen oder mich in die Vergangenheit, in meine Geschichten oder in meine Fantasie zu retten.

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„Früher war alles besser“ (Printmedien)

„Früher war alles besser.“ Diesen Satz sagten die Erwachsenen, als ich klein war, und ich wusste genau, dass er nicht stimmen konnte. Denn „früher“ bedeutete Krieg und Holocaust, da konnte gar nichts besser gewesen sein! Es gab auch noch eine richtig schlimme Variante bei der Großelterngeneration, die „das hätte es bei Adolf nicht gegeben“ lautete und einem böse Schauern über den Rücken laufen ließ. Deshalb wurde der Satz auch eher hinter vorgehaltener Hand geäußert und wenn das Kind mit den Antennenohren nicht in Hörweite war.

Bald hörte ich den Früher-Satz noch öfter, und oft stimmte er auch. Ich lebte in einem Dorf, und früher war zum Beispiel der Käsemann jeden Freitag mit seinem Wagen gekommen und hatte Milch, Eier und Käse gebracht. Früher hatte der Bäcker jeden Morgen eine Tüte mit frischen Brötchen vor die Tür gestellt. Früher gab es noch die alten Damen in den gemütlichen, hochinteressant und wild durcheinander duftenden Tante Emma-Läden, die auch am Wochenende und abends ausnahmsweise öffneten, wenn man lieb an die Tür klopfte. Vielleicht war es früher für den Käsemann und den Bäcker und die Frau vom Tante Emma-Laden nicht so gut gewesen, aber für uns andere Dorfbewohner auf jeden Fall. Jetzt musste man seine Einkäufe alle selbst machen, da kam keiner mehr ans Haus und schwang die große Glocke.

In der Pubertät fing der Satz schließlich an, mich wirklich zu nerven, denn die Vergleiche und Vorwürfe betrafen plötzlich mich persönlich und waren nur noch vorwurfsvoll und kritisch. Früher hatten die Jugendlichen noch richtig schöne Haarschnitte, gute Manieren, hörten anständige Musik, hatten noch Anstand im Leib, waren ordentlich und fleißig, liefen nicht in unmöglichen Klamotten herum. „Als wir jung waren“, behandelte man seine Eltern und Lehrer noch mit Respekt, räumte ohne Widerworte sein Zimmer auf, aß alles, was auf den Tisch kam, püselte nicht mit seinem Freund in aller Öffentlichkeit herum …. Die Litaneien waren endlos. Ich glaubte den Erwachsenen kein Wort und schloss messerscharf, dass wahrscheinlich jede Elterngeneration mit Früher-Sätzen nur so um sich warf.

Offenbar ist es eine Frage des zunehmenden Alters, jedenfalls ertappe ich mich neuerdings zu meinem großen Entsetzen selbst immer öfter dabei, dass ich den ärgerlichen Satz sage. Wobei „früher“ bei mir vor allem „vor der Pandemie“, „bevor ich Covid hatte“, „vor dem Ukraine-Krieg“ und „als ich noch besser laufen konnte“ bedeutet. Aber manchmal auch „als noch nicht alles digitalisiert war“, „als noch nicht alle am Handy hingen“ oder „als es noch nicht so viele Pins und Tans und ID-Passwörter gab“, „als noch nicht alles so kompliziert war“. Für mich stimmen diese Frühersätze sogar. Immer mehr Läden schließen. Immer schwieriger wird es, einfache alltägliche Dinge „richtig“ zu kaufen statt einfach im Internet, und immer nerviger werden die Kontaktaufnahmen mit Behörden und Firmen.

Früher gab es nur echte Menschen am Telefon, heute gibt es immer mehr unerträgliches Gedudel mit nervigen Warteschleifen (Postbank, Vodafone, Telekom, Taxiruf, Hermes und DPD verdienen hier in meiner persönlichen Erfahrung eindeutig einen eigenen Beitrag, zu dem ich mich möglicherweise auch noch aufraffen werde), die einen auch nach stundenlanger Warterei („Die momentane Wartezeit beträgt länger als 40 Minuten“, bei der Postbank habe ich einmal am Telefon gehangen, bis der Akku leer war, nämlich vier geschlagene Stunden, aber es war auch echt dringend) noch gnadenlos rauskatapultieren. „Leider sind alle unsere Mitarbeiter gerade im Gespräch, bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“, „leider rufen Sie außerhalb unserer Geschäftszeiten an, bitte versuchen Sie es später noch einmal“, dabei IST gerade Geschäftszeit! Oder sie schmeißen dich einfach nur so mit einem kurzen Knacks aus der Verbindung. Und es gibt immer mehr ärgerliche Bots, die sich langatmig und monoton mit „ich bin ihr persönlicher Sprachassistent und werde Sie jetzt durch den Reklamationsprozess/die Anmeldung/die Registrierung/die Buchung führen“ vorstellen. Auch bei Zeitungsverlagen, mit denen ich notgedrungen im Moment mehr kommuniziere, als mir lieb ist.

Früher war alles besser…..

Zum Beispiel, als unser wunderbarer Stammzusteller noch die Zeitungen auslieferte. Das ist zwar erst einige Monate her, aber gefühlt mindestens zehn Jahre. Seitdem ist eine Zeitung vor der Tür (oder gar durch den Briefkastenschlitz geworfen wie „früher“) fast wie ein Sechser im Lotto. „Die Zeit“ haben wir seit vier Wochen gar nicht mehr bekommen (heute kündige ich das Abo, ist eh viel zu viel Papier), die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ kommt nur noch alle drei Wochen. Sonntagsfrühstück mit Zeitung hat irgendwie was, jedenfalls für mich. Ich habe das Frankfurter-Abo schon vor zwei Wochen (schriftlich) zu kündigen versucht, aber die nette Dame, die mich daraufhin anrief, war so freundlich, dass ich mich doch noch mal habe überreden lassen. „Geben Sie uns bitte noch eine Chance, wir werden alles tun, damit Sie Ihre Zeitung wieder bekommen!“ Sie hat uns sogar für einen Monat umsonst die digitale Ausgabe freigeschaltet (wird nicht automatisch kostenpflichtig verlängert, hat sie versprochen). Ich wurde weich, die Zeitung kam dann auch tatsächlich am folgenden Samstag, aber nur EINMAL, am vorigen Wochenende glänzte sie bereits wieder durch papierlose Abwesenheit. Ich warte jetzt noch dieses eine Wochenende ab, nachdem der Herr am Telefon gestern auch äußerst nett war, dann werde ich das Abo endgültig kündigen. Übrigens ist die FAZ bisher die einzige Zeitung mit derart konstruktiven Menschen am anderen Ende. Jetzt liefern sie uns sogar die verpasste Ausgabe mit der Post nach! Ich werde sie mir wohl für den kommenden Sonntag aufsparen, damit ich was zu lesen habe, und mir dabei vorstellen, wir hätten eine Woche früher. Ach, früher…..

Früher war alles besser…..

Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, den „Stadt-Anzeiger“ zu kündigen, denn er ist unsere altvertraute Tageszeitung, die wir uns allerdings schon seit vielen Wochen fast täglich selbst kaufen müssen, obwohl wir zig Jahre ein Abo haben. Früher rief man noch beim Verlag an und der Mensch am anderen Ende sagte fröhlich: „Das tut uns sehr leid, wir schicken Ihnen sofort einen Boten“, und kurz darauf hatte man die verpasste Ausgabe in der Hand und war glücklich und zufrieden. Jetzt nervt jeder Anruf dort enorm. Wenn man sich erst mal durch die vielen zeitaufwändigen „Drücken Sie die 1, drücken Sie die 2, drücken Sie die 3 etc“ gequält hat und endlich (als echter Beschwerde-Profi) „Mitarbeiter“ oder „Kundenservice“ in den Hörer brüllt oder auch nur eisern schweigt und den Bot quatschen läßt, bis ihm nichts mehr einfällt, statt die zehnstellige Abo-Nummer („Bitte wiederholen Sie …. Ich habe Sie leider nicht verstanden“), hat man einen hilflos wirkenden Menschen am Apparat, der wahrscheinlich wegen der 1 („Wenn Sie mit der Aufzeichnung des Gesprächs einverstanden sind, drücken Sie bitte die 1“) nicht so recht weiß, was er noch sagen soll, nachdem man schon unzählbar oft mit ihm telefoniert hat und sich immer noch nichts geändert hat. „Ich schreibe Ihnen die Ausgabe gut“ hilft herzlich wenig, wenn ich gern meine Zeitung lesen möchte. Auch „Morgen sollte es eigentlich wieder klappen!“ und „Ich werde es an den Zusteller/die höhere Ebene (whatever that means) weiter geben“. „Vielleicht weiß er ja nicht, was er bei Ihnen einwerfen soll, er ist ja vielleicht noch neu!“ hat bei mir dazu geführt, dass ich zwei Schilder an der Tür kleben habe, eins nur für Samstags (Freitagabends raushängen), das andere für die ganze Woche (klebt permanent und sieht häßlich aus), damit der geplagte Zusteller auch wirklich ganz genau weiß, was wir wann bekommen und nicht lange suchen muss. Helfen tut es NICHTS. Niente. Nada.

Nachdem Er- oder Sie-Zusteller einmal samstags die falsche FAZ eingeworfen hat, habe ich „Sonntagszeitung“ noch mal extra rot mit Filzstift unterstrichen und noch etwas dicker geschrieben, auch das hat nichts geholfen. Niente. Nada. Vielleicht kann er oder sie ja nicht lesen und daher kommt all das Chaos? Vielleicht ist das Zustellewesen ja ein Bot, ein Alien oder ein Android, der oder die oder das keinen Bock auf unsere Adresse hat?

Früher gab es noch einen Kiosk gegenüber, an dem man sich all seine Zeitungen sogar am Sonntag vor oder nach den Brötchen kaufen konnte. Doch der ist weg. Genau wie die Bäckerei, bei der man die Brötchen holte. Ersatzlos gestrichen. Genau wie die Metzgerei daneben und die alte Tierarztpraxis. Die neue Tierärztin hat keine offene Sprechstunde mehr, man muss in einem völlig anderen Ort anrufen und einen Termin machen, und sie kastriert nur Kater und keine Katzen und kommt auch nicht nach Hause, wenn man mehrere Katzen hat und nur um die Ecke wohnt. Ich habe keinen Schimmer, wie ich die drei Riesenkatzen zum Impfen dorthin bekommen soll. Sie passen nicht mehr in eine Transportbox und sind reichlich schwer. Egal. Mir fällt schon was ein.

Die diversen Zeitungsstapel, die der neue Zusteller oder der Ersatzzusteller vom neuen Zusteller oder der oder dem Was-weiß-ich-wer-auch-immer NICHT zugestellt hat, liegen häufig hinten unter der Brücke am Einkaufscenter, wo man sich dann problemlos das einem zustehende und bereits bezahlte oder gutgeschriebene Exemplar wegnehmen kann. Es sei denn, man war blöd genug, es sich kurzentschlossen selbst zu kaufen, weil man einfach nicht bis Nachmittags warten konnte. So wie ich. Offenbar bin ich schon so alt, dass ich nicht mehr aus meinen Fehlern lerne. Manchmal nehme ich mir dann zum Trost die „Rundschau“ oder die „FAZ“ Tageszeitung, eh sie vom Regen oder Wind erwischt wird. Die Printmedien sind selbst dran schuld, wenn sie aussterben. Zum Lesen muss man sie nämlich erst mal in der Hand haben.

Früher war alles besser…..

Früher bedeutet hier einfach nur, bevor der zuverlässige tolle ehemalige Stammzusteller seine (gewohnt freundliche) Abschiedskarte eingeworfen hat. Schade, dass ich sie nicht aufbewahrt habe, dann würde ich sie mir jetzt weinend als schöne Erinnerung an die Wand pinnen, als nostalgische Erinnerung an frühere Zeiten, als zeitungsmäßig noch alles gut lief. Der Stammzusteller kam meist gegen fünf in der Früh, das leise Briefkastengeräusch war vertraut und tröstlich, ganz besonders in der Pandemie. Anfangs kam wenigstens noch IRGENDWAS Gedrucktes, meist leider ausgerechnet der „Express“ (nicht im Abo und für mich leider unlesbar, dafür kam er immer doppelt) oder, wenn es besser lief, die „Rundschau“ (auch nicht im Abo und nicht so gut wie der „Stadt-Anzeiger“, finde ich jedenfalls), ab und zu kam auch die „FAZ“ (Tageszeitung), aber wir haben ja bewußt nur die Wochenendausgabe im Abo, und die kam leider nicht. Ein paar Mal lagen die armen Zeitungen draußen im Regen und trieften nur so, einmal hat sie der Wind doppelblattweise in den Zaun verweht. Und schließlich kamen sie dann überhaupt nicht mehr.

Heute ist die letzte Zustellung vom „Stadtanzeiger“ exakt eine Woche her. Ich lese ihn jetzt übrigens morgens mühsam digital im Handy, um mich schon mal langsam an den papierlosen Zustand zu gewöhnen. Allerdings unter ständigem Stress, dass ich das kostbare Ding mit Marmelade vollschmiere oder es mir von einer der Katzen in den Tee gestossen wird. Nur für letzten Mittwoch gab es angeblich beim Verlag ein Zustellungsproblem, für alle anderen Tage war nichts vermerkt. „Da seh ich hier leider gar nichts.“ Heute habe ich nicht angerufen und reklamiert, sondern lieber diesen Beitrag geschrieben, um meinem Ärger endlich konstruktiv Luft zu machen. Am Montag werde ich das Abo aber WIRKLICH kündigen. Echt jetzt. Ich schiebe es schon seit Wochen vor mir her und drohe auch am Telefon jedes Mal damit (der Mensch am anderen Ende der Leitung reagiert darauf mit neutralem Schweigen), aber weil ich an dem Blatt nun mal so hänge, warte ich immer noch ab. Mit Engelsgeduld. Aber Montag ist Schluss. Meine Entscheidung ist unumstößlich. Äußerst bedauerlich. Ach, wie war es doch schön, morgens beim Frühstück noch die gedruckte Tageszeitung zu lesen. Den „Guardian“ und die „New York Times“ lese ich ja schon lange digital, aber vor allem nachts und frühmorgens. „Country Living“ und „The New Yorker“ kommen zuverlässig mit der Post. Bin halt ein Zeitungsmensch. Als unser Keller neulich unter Wasser stand, waren die richtigen Zeitungen aus richtigem Papier, die ich alle gehortet hatte, übrigens ein wahrer Segen. Vor allem die großen. Ich muss mal das Foto raussuchen, das ich damals gemacht habe.

Fazit: Die Zeitungszustellung war früher EINDEUTIG besser, daran gibt es gar nichts zu zweifeln und zu rütteln. Zumindest hier im Kölner Westen.

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Rooms and Stories – Sidcup

Sie fühlt sich unsicher im neuen Land, bereits im Zug und im Taxi und erst recht im Linksverkehr in P.‘s rotem Morris Marina, den sie „Meerauto“ tauft. Immer noch kommt sie sich vor wie in einem Farbfilm ohne Skript, ihr Magen ist so aufgeregt, dass sie kaum etwas essen kann, was sich leider während des gesamten Aufenthalts nicht ändern wird.

Sein Haus hat eine blaue Tür und lustige Gardinen. Die Mutter, zart und schmal, von ihm zärtlich Mummikins genannt, eilt gleich nach draußen, um sie freundlich zu begrüßen und verwandelt ihren Namen gleich in Biatta. Später, in ihrem englischen Leben, begegnen ihr noch weitere Aussprachevarianten wie Bihty (Beaty) und, die etwas unangenehme Londoner Version, Bai-A-Ö, inklusive Glottal Stop. Mutter und Schwester sind sehr nett, im Hintergrund bewegt sich auch noch die Großmutter, die aber bis auf ihren lustigen Vornamen in den Tiefen der Erinnerung verloren gehen wird. Dass P.‘s Vater erst wenige Wochen zuvor verstorben ist, tut ihr unendlich leid. Sie hätte ihn gern kennengelernt und wagt sich sie Trauer, die seine Familie empfinden muss, kaum vorzustellen. Alle bemühen sich, sie davon nichts spüren zu lassen, doch sie registriert es trotzdem. Die Familie ist nicht mehr vollständig. Der Vater fehlt. Der leere Platz schmerzt.

Im Zimmer ihres Freundes setzt sie sich auf den Boden und sieht sich lange und genau um, was ihn amüsiert, aber sie findet Räume einfach wichtig. Sie verraten viel über ihre Bewohner und verhalten sich ihr gegenüber gelegentlich durchaus persönlich, heißen sie willkommen oder versuchen sie abzuschrecken oder schnell wieder loszuwerden. Genau wie Häuser. Manche wirken auf sie fast bedrohlich oder so kalt, dass sie fröstelt. Dieses Haus ist freundlich zu ihr. Beim Hereinkommen riecht es nach Lavendel, bald auch nach Toast und Tee. Zu Hause in Deutschland gibt es nie Toast, dafür Graubrot, Weißbrot, Rosinenbrot, Schwarzbrot und Brötchen. Hier gibt es für den Toast sogar eigene Toastständer! Sie hat allen Eau de Cologne mitgebracht, etwas typisch Deutsches, fand sie beim Kaufen, aber das ist ihr plötzlich peinlich.

Sein Zimmer ist hübsch grün gestrichen, mit vielen Büchern, orangefarbenen Vorhängen und einer orangefarbenen Bettdecke. Hier wird sie also schlafen. Einige Gegenstände im Raum kennt sie schon, den blauen Frosch, den gelben Fisch auf dem Kamin, das winzige Enzianfläschchen, das Foto, das P. von ihr im Garten ihres Elternhauses gemacht hat und das zu den besten gehört, die je einer von ihr machen wird. Es scheint fast so, als habe sie ihren Freund dabei sekundenlang in ihre Seele blicken lassen. Er wird noch ein weiteres Seelenbild aufnehmen, doch das weiß sie natürlich noch nicht. Aus einem ihr selbst unerklärlichen Grund hat sie ihm ein kleines Keramik-Rhinozeros mitgebracht, was ihr inzwischen ebenfalls peinlich ist, zum Glück kommentiert er es nicht und stellt es nur ruhig zu den anderen Sachen. Seine Mutter hat frische Rosen für sie auf den Schreibtisch gestellt. Ob sie vom kleinen Prinzen und der Rose weiß? Sicher ist es nur ein Zufall.

Auf dem Bücherregal über seinem Bett entdeckt sie ein Bild von Burg Eltz, das ihr gefällt. Diese Burg muss sie unbedingt besuchen. Am liebsten natürlich mit P., der immer noch nach Cedarwood duftet, auch seine Haare riechen noch vertraut nach Karamell und Nüssen. Sie lässt ihn raten, hinter welchem Burgfenster sie am liebsten schlafen würde, er rät sofort richtig. So gut kennt er sie. Das Türmchen erinnert sie an das Märchen von Rapunzel. Sie liebt Türme. Ein merkwürdiges, irgendwie unheimliches Foto gibt es noch hier im Zimmer, es zieht ihren Blick an wie ein Magnet, offenbar stammt es aus alten Zeiten, viele schwarzweiße fremde Menschen sind darauf zu sehen. Auf der Rückseite steht 1938, es wurde in einem Ballroom in Cambridge aufgenommen. Das Besondere daran ist das zerbrochene Glas im Rahmen. Das scharfzackige Loch hat im Laufe der Zeit die Form eines Herzens angenommen, und man muss aufpassen, dass man sich daran nicht verletzt. Den anderen Familienmitgliedern gefällt die Glaswunde offenbar nicht. Sie überlegt, ob das Glas schon so kaputt war, als er das Bild kaufte. Die Menschen auf dem Bild wirken sorgenfrei und entspannt. Was mag das Glas so zersplittert haben?

Clanger – in die Jahre gekommen

Auf dem Kamin thront eine Art gestrickter Ameisenbär, vielleicht auch eine Kreuzung aus Schwein und Maus, mit einem Schild, auf dem „Chief Clanger of Cambridge“ steht. Was genau ein Clanger ist, wird sie erst Jahrzehnte später herausfinden, als sie ihr Tagebuch wieder liest und nachfragt. P. schickt ihr einen Link, und sie hört und sieht tatsächlich die Clangers in Action. Es sind seltsame Fantasiegestalten, die mit anderen merkwürdigen Wesen, etwa einem Metallhuhn, auf einem blauen Planeten hausen und nicht sprechen, sondern nur melodische Pfeiftöne von sich geben. Das Sprechen in den Kinderfilmen übernimmt ein Erzähler mit wohltönender Stimme. Damals, bei der ersten Begegnung in P.‘s Zimmer, registriert sie vor allem und fragt nicht nach. Es gibt auch so schon genug Dinge, die sie nicht kennt und die sie erfragen muss.

Über dem Bett hängen zwei Fotos, eins zeigt seinen Freund D., der sie ständig mißbilligend anzustarren scheint, was sie stark irritiert, das andere zeigt ihn selbst. Oder vielmehr seinen Kopf. Unten im Garten aufgenommen, schwarzweiß und irgendwie scheinen sich die Pflanzen darauf zu bewegen. Offenbar stand, hockte oder saß er hinter einem Ginsterbusch, so dass es aussieht, als schwebe sein abgetrennter Kopf in der Luft. Beheaded, beheaded, survived. Auch sein Gesichtsausdruck ist unheimlich. Er schaut schelmisch zur Seite, erinnert sie an den Puck aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, die dunklen Haare nach hinten gekämmt, mocking lips. Und ein bisschen sieht er auch aus wie die Büsten bei Madame Tussaud, denkt sie. Sie kennt die starren Wachsfiguren aus dem Museum in Amsterdam. Doch hier im Zimmer sieht ihr Freund zum Glück normal und lebendig aus, so dass sie die schlimmen Gedanken abschütteln kann. Auf der Schreibtischlampe klebt ein Schweinchen, dessen Geschichte er ihr nicht erzählen mag, aber es gibt bestimmt eine Geschichte, da ist sie ganz sicher. An der Tür hängt eine große schwarze Spinne. Doch sie mag Spinnen und findet sie lustig.

So entspannt wie auf dem Sofa seines Elternhauses hat sie ihn noch nie gesehen, in der Hand eine riesige Teetasse, eigentlich ist es ein hoher Becher mit Henkel, der „mug“ heißt, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Er schaut sie plötzlich so verliebt an, als gäbe es nur sie beide auf der Welt. Dabei ist er sich eigentlich gar nicht so sicher, ob er wirklich noch so verliebt in sie ist nach der monatelangen Entfernung. Das sagt er einige Tage später auch zu einer Bekannten, die ihn anruft und nachfragt. „No“, sagt er und schaut sie dabei an, „but it’s still nice.“ Sie hört die Antwort, deutet seinen Blick und schon kennt sie die Frage. Vielleicht will er es auch nur nicht zugeben, denkt sie. Hoffentlich ist das so.

Fremd und vertraut zugleich, nah und doch fern, und so wird es bleiben. So auf dem Sofa liebt sie ihn sehr. Wenn er gähnt, sieht er immer noch so spitzzahnig und müde aus wie ein verschlafenes Füchschen. Sein Tee ist heiß, daher schlürft er ihn, und Mummikins sagt: „Oh, Peter! Don’t make such a noise!“ Überhaupt der Tee! Dass viele Engländer so dünn sind (englische Hunde dagegen eher rund, vermerkt sie im Tagebuch) liegt vermutlich an den Giftstoffen im Tee. Denn die Hunde trinken ja keinen. „Ungelogen, der extreme englische Teekonsum haut jeden Ausländer um. Eigentlich mag ich ja gern Tee, aber dieses dunkle Gebräu ist selbst für einen Elefanten zu stark. Ein Engländer schluckt davon pro Tag etwa fünf Liter. Das Zeug ist so heftig, dass man es nur mit Milch vertragen kann.“ Die Milch kommt als erstes in die Tasse, lernt sie, so mischt es sich besser, und so kann man auch besser dosieren. Und so ist es auch nicht zu heiß. An die Teegebräuche gewöhnt sie sich erst in ihrem englischen Leben, als sie aufhört, ihn mit Zucker zu trinken. Die Umgewöhnung dauert nicht lange, danach ist sie dauerhaft teesüchtig und rührt niemals mehr Zitronentee oder andere abartige Mischungen an. Tee wird wie englische Biscuits (Digestives!) zum festen Bestandteil ihres Lebens. „Have a nice cup of tea, dear.“ Das tröstet sogar in den schlimmsten Krisen und bei den schlimmsten Schmerzen von Leib und Seele. Zu jeder Jahreszeit. Auch „Rose’s Lemon and Lime“ Jelly wird sie ewig lieben nach diesem ersten Stay. Richtige englische Marmelade ist in Deutschland nur schwer zu bekommen, vor allem „Lemon and Lime“, man muss sie daher von Freunden und Verwandten importieren lassen.

An diesem ersten Abend geht sie mit ihrem englischen Freund in einen kleinen Wald in der Nähe. „Englische Bäume ähneln den deutschen“, spottet sie später in ihrem Tagebuch. „Wir fanden einen Pfad (foot path), streiften durch hohes Gras und stiegen über ein merkwürdiges Gatter (wooden stile)“. Ihre Körper sind immer noch auffällig distanziert, Hände und Lippen finden kaum zueinander, was sowohl an der langen Abwesenheit als auch an ihrem deutschen Freund liegt, den sie irgendwie mitgebracht hat und der sie unablässig mißbilligend beobachtet. Genau wie D. auf dem Foto. Auf Schritt und Tritt.

In der ersten Nacht, P. bleibt bis Mitternacht bei ihr, es ist die Nachtigall und nicht die Lerche, findet sie keinen Schlaf, weil die Zimmerwände anfangen zu schwanken, alles ist in Bewegung, der Boden wird zur Straße und zum ratternden Gleisbett, das Bett zum steigenden und fallenden Flugzeug. Ihre Ohren rauschen und knacken, ihr Körper steigt wieder hoch in den Himmel. Sie weiß nichts von ihrer „Hochsensibilität“, die bewirkt, dass alle Reize und Eindrücke intensiver verarbeitet werden, auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum, und ungewöhnlich lange und intensiv nachhallen. Nach Fährfahrten hat sie später manchmal tagelang das Gefühl, dass die Erde bebt und die Wände sich hin und her bewegen. Weil die anderen mit dieser merkwürdigen Variante ihrer Propriozeption so gar nichts anfangen können („Was du immer hast!“), fürchtet sie mal wieder, „nicht normal“ zu sein, und hält sicherheitshalber den Mund. Doch es ist nur die Hochsensibilität. Wie schade, dass Elaine Aron diese Besonderheit erst in den 1990er Jahren erforscht und benannt hat. Sie hätte diese Erklärung dringend früher gebraucht.

Mitten in der Nacht versucht sie schließlich, den schwankenden Wänden zu entkommen, indem sie aufsteht und sich ans Fenster stellt. Sie schaut hinunter auf den schlafenden Marina, in dessen Windschutzscheibe sich beruhigend und blaß der Mond spiegelt. „Der englische Mond ähnelt dem deutschen. Kein großer Unterschied.“ vermerkt sie im Tagebuch. Der amerikanische sieht völlig anders aus, wie sie von ihrem Vater weiß und später mit eigenen Augen sehen wird.

Die Türen im Haus lassen sich nicht abschließen, was sie etwas verunsichert. Sie steht jedes Mal Heidenängste aus, jemand könnte unverhofft ins Bad kommen. Die Haustüre hat als einzige einen Schlüssel, dafür aber keine Klingel, sondern einen Türklopfer. Sie hat tatsächlich noch nie im Leben einen Türklopfer gesehen. Und auch noch nie so komische eckige Stecker und Steckdosen. Die Wände im Gäste-WC sind lilafarben, an einer Seite hängt ein lustiges buntes Poster, auf dem Mäuse mit Hilfe eines Igels und eines Frosches die Sommerernte einbringen. Auf dem Boden neben der Toilette steht eine Sprühdose mit der Aufschrift „Air Mist“, was ihr deutsches Gehirn täglich aufs Neue zu Heiterkeitsausbrüchen verleitet. Es gibt auch „Body Mist“, wie sie bald bei „Boots the Chemists“ herausfindet. In Riesenmengen. Genau wie „Air Mist“. Und im Bad gibt es ein Schild, das man draußen an die Tür hängen kann und auf dem „engaged“ steht, was doch eigentlich verlobt heißt, auch das findet sie lustig. P. dagegen verstimmt ihre Feststellung, weil er dabei offenbar eher an ihren deutschen Freund denkt, dabei hat sie den diesmal gar nicht gemeint. Sie vermisst die vertrauten deutschen Klinken, hier gibt es offenbar nur Drehgriffe.

Im Morgengrauen schläft sie schließlich doch noch ein, ist aber schon wieder um halb sieben wieder wach. Und sehr müde. Zweieinhalb lange Stunden später klopft P. an die Tür und stellt erstaunt fest, dass sie schon auf ist. Jetzt wird sie London „richtig“ sehen, darauf freut sie sich. Wäre sie doch nur nicht so aufgeregt. Und wäre doch nur nicht alles so fremd. Auch ihr englischer Freund. Einfach alles. Warum ist sie nicht schon zu Weihnachten hergekommen? Vielleicht wäre dann jetzt alles leichter. Aber das hätten ihre Eltern ihr nie verziehen. Aber vielleicht wäre es im Winter auch nur noch fremder gewesen. Weihnachten in England. Sicher ganz anders und ungewohnt und dazu die vorwurfsvolle Familie in Deutschland.

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Rooms and Stories – Über den Wolken

Der erste Flug nach London Gatwick sollte ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Sie war aufgeregt, doch auf angenehme Weise, denn schließlich warteten auf sie lauter Abenteuer, ihr Freund P., ein neues Land, die weite Welt! Schade, dass er sie nicht vom Flughafen abholen konnte. Doch er hatte versprochen, sie in der Victoria Station zu erwarten, einem Ort, den sie nach diesem Tag für immer mit ihm verbinden würde, denn dort begrüßten und verabschiedeten sie sich später oft, auch wenn sie ihn in Cambridge besuchte.

Im Flugzeug sicherte sie sich einen Fensterplatz und bekam gleich zwei männliche Nachbarn, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine war jung und entspannt, der andere mittelalt und verkrampft. So spannend hatte sie sich das Fliegen nicht vorgestellt, vor allem den Start, der sie mit unsichtbarer Hand in den Sitz drückte und ihr die Ohren brausen und zuploppen ließ, fand sie wunderbar. Sie kam sich vor wie in einem gigantischen Riesenrad, das sie immer höher trug. Wie angenehm, die Verantwortung für ihr Schicksal völlig in die Hände des Piloten abzugeben, hier oben gab es nichts mehr, das sie tun konnte. Die Flugbegleiterinnen vollführten ihr Luftballet und sie las gehorsam die Broschüre mit den Sicherheitsmaßnahmen.

Bald konnte sie auf winzige Häuser und Kirchen, klitzekleine Autos und Schiffchen hinuntersehen, die Welt schrumpfte auf Miniaturengröße und verschwand schließlich gänzlich, als sie ein wenig schaukelnd durch die Wolkenschichten stießen. Da war sie, Reinhard Meys grenzenlose Freiheit, ohne Ängste, ohne Sorgen. Schon bald wurde es gleißend hell und sie glitten über einem Meer aus steif geschlagener Sahne und fluffigem Eischnee. Sie stellte sich vor, auf einer der großen Wattebäusche zu liegen, in Weichheit zu versinken und nur noch zu träumen. Bis in alle Ewigkeit. Ab und zu gab es Wolkenlöcher, durch die man weit, weit unten bunte Landschaften oder Wasser sah. Es gab auch ein paar Turbulenzen, bei denen ihr Magen hüpfte, daran musste man sich erst gewöhnen.

Der junge Mann direkt neben ihr war ein gesprächiger,  freundlicher Vielflieger und hieß Horst. Sie unterhielten sich angeregt über Bücher, Filme und England. Bis sie ihm ihren heißen Tee über die Hose schüttete. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Getränk so heiß sein würde, und reflexartig die Tasse fallen lassen. Just in diesem Moment war das  Flugzeug kurz abgesackt, hatte die Tasse überraschend zur Seite geleitet, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Horst stieß einen überraschten Schrei aus, der seinen Nebenmann endgültig in Panik versetzte. Das Malheur war ihr entsetzlich peinlich, doch Horst hatte sich schnell von seinem Schrecken und dem Verbrühungsschmerz erholt und meinte, dass man den Fleck auf der schwarzen Hose bald nicht mehr sehen würde, so dass alles wieder gut war. Seinem Nebensitzer war der Schock allerdings so sehr in die Glieder gefahren, dass er begonnen hatte, leise zu beten. Offenbar war er katholisch, denn es waren sehr vertraute Gebete. Vor allem das „Gegrüßt seist du Maria“. Er schaukelte dabei leicht mit dem Oberkörper, vielleicht wollte er seinen Worten damit mehr Kraft verleihen. Horst warf ihr einen vielsagenden Blick zu, und sie war froh, dass sie nicht unmittelbar neben dem Beter saß. Angst war ansteckend, wie sie aus Erfahrung wußte. „Vielleicht hört ihn ja jemand da oben“, flüsterte Horst. „Nah genug sind wir ja. Keine Ahnung, welcher Heilige für Flugreisen verantwortlich ist.“ Ein interessantes Thema. „Wahrscheinlich Christophorus“, vermutete sie. Dass Gott höchstpersönlich sich die Mühe machen würde, ihr Flugzeuge zu beschützen, konnte sie sich nicht vorstellen. Das war eher Aufgabe des Piloten, der sich zwischendurch mit sexy Stimme immer mal wieder meldete und angab, auf welcher Höhe sie sich befanden und welche Wetterlage in London zu erwarten war. Es war ein ziemlich warmer Tag. Schließlich packte sie „Die Judenbuche“ weg und konzentrierte sich nur noch auf die Wolken, die Stimme von Horst und die Sicherung ihrer Teetasse. „Ich hab keine Ahnung, wie ich von Gatwick nach Victoria kommen soll“, hörte sie sich plötzlich sagen, und ihre Stimme klang ziemlich besorgt. „Kein Problem, „sagte Horst. „Ich fahr da auch hin. Und ich bleib bei Ihnen, bis Sie Ihren Freund gefunden haben“. Und genau das tat er.

Bei der Ankunft in London fühlte sie sich wieder unwirklich wie in einem Film. Sie verließ den Bauch des großen roten Vogels und landete in den Hallen von Gatwick Airport, Horst kannte zum Glück den Weg und nahm sie mit in den Bereich, wo die Koffer kreisten. Eine Flut von Stimmen, Farben, Bildern und Geräuschen prasselte auf sie ein. Englische Bahnhöfe und Züge rochen ganz anders als in Deutschland. Vor allem der stechende Geruch von Kreosot war gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie die Bezeichnung damals noch nicht kannte. Die Züge sangen hier in einem anderen Takt, es klang wie Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick. Sie schaute aufmerksam aus dem Fenster und beobachtete die anderen Passagiere.

„Englische Schornsteine sehen aus wie kleine Mülltonnen mit komischen Deckeln und Dächern, und besonders in London gibt es davon ziemlich viele. Die meisten männlichen Hosenbeine haben ziemlich Hochwasser. Überhaupt gehen englische Männer irgendwie seltsam, ein bisschen, als ob sie vorwärts fallen würden, und lassen dabei die Arme baumeln. Viele Frauen haben ziemlich hohe Stimmen. Die Menschen in den Zügen starren entweder auf ihre Füße oder in ihre Zeitungen oder Bücher. Wenn man versucht, sie anzusehen, schauen sie irritiert weg oder scheinen zu überlegen, ob irgendwas mit ihnen nicht stimmt. Zum Beispiel, ob sie vergessen haben, den Reißverschluß ihrer Hose zuzumachen. Vielleicht ist es hier unhöflich, sich direkt in die Augen zu sehen. Das krasse Gegenteil von Paris. Londoner sprechen äußerst schwer verständlich, zumindest für mich“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie kannte den Londoner Dialekt noch nicht, der ihr später so vertraut werden würde. Cockney. Sounds like home. Blimey. Apples and Pears. Have a butcher’s. Haven’t seen you for donkeys.

Die Fahrt von Gatwick nach Victoria dauerte ungefähr dreiviertel Stunde. Zusammen mit Horst verließ sie den Zug, doch der Bahnsteig war leider peterleer. Wo war er bloß? Sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen, aber für einen kurzen Moment war ihr sehr mulmig. Doch dann sah sie ihn.

Ihr englischer Freund saß auf dem völlig falschen Bahnsteig neben einer völlig fremden Reisetasche, die zu bewachen er sich offenbar bereit erklärt hatte, schaute in die falsche Richtung und sah sie nicht kommen, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genüßlich zu überraschen. Sie verabschiedete sich von Horst, der noch eine Weile in der Ferne stehen blieb und ihr freundlich nachwinkte, pirschte sich langsam an P. heran und blieb schließlich genau vor ihm stehen. „Na, du?“ sagte sie. Zum Glück hatte er sich nicht sehr verändert und freute sich auch ganz offensichtlich, sie zu sehen. Sein Haar war etwas länger als beim letzten Treffen und ringelte sich zu ihrer Überraschung ein wenig im Nacken.

Zuerst waren sie beide verlegen, aber das war normal nach dem langen Fernsein. Hand in Hand gingen sie zum Taxistand. Zum ersten Mal saß sie in einem Black Cab. „Sehr unbequem, hat offenbar keine Stoßdämpfer, dafür eine Trennscheibe aus Glas, aber trotzdem schön“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Zum ersten Mal erblickte sie Piccadilly Circus und Lord Nelson auf seiner einsamen Säule. Schließlich betrat sie an der Hand ihres Freundes Charing Cross Station, den Bahnhof, der ihr später in ihrem englischen Leben so vertraut werden würde und in dem sie so oft stundenlang warten musste, weil ausgerechnet die Züge nach Gravesend dauernd ausfielen. Due to staff shortages. Due to weather conditions. Due to strikes. Due to snow. Due to something or other. 

Viele Ängste kenne ich nur allzu gut, doch Flugangst gehört nicht dazu. Seit jenem ersten Gatwick-Flug genieße ich jede Minute in der Luft und bin einfach nur glücklich, dass ich hoch über den Wolken so entspannt sein kann. Allerdings ändert sich mein Wohlfühlfaktor rapide, wenn ich keinen Fensterplatz habe. Die Flüge in die USA und zurück waren allesamt unschön, ich saß eingezwängt in der Mitte des Flugzeugs und verspürte nur Langeweile und keinen Hauch von Flugfreude. Nur zweimal ist mir im Flugzeug schlecht geworden. Beim ersten Mal, weil die Person hinter mir sich unablässig übergeben musste, beim zweiten Mal, weil ich zwei Stunden rückwärts auf einem der Stewardess-Sitze verbringen musste. Mein eigentlicher Platz war doppelt gebucht und die dort sitzende äußerst dominante Dame machte keinerlei Anstalten, unseren Sitz zu räumen. Noch schlimmer als das Rückwärtsfliegen war die Tatsache, dass ich den anderen Passagieren beim Essen zusehen musste. Ich hatte echt Pech. Der Mann gegenüber salzte und pfefferte sein Tablett großzügig und schob es dann angeekelt von sich. „Den Fraß hier kann ja wohl keiner essen!“ maulte er laut und verdarb mir damit endgültig den Appetit. Und den Flug gleich mit.

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