Köln und Corona: Masken (1)

(Leo2014/pixabay)

Jetzt ist die Pandemie bereits über 100 Tage alt, und noch immer ist kein Ende abzusehen. Letzte Woche las ich in der Zeitung einen Bericht über die Vorbereitungen für den nächsten Rosenmontagszug. Der Kölner Karneval soll 2021 trotz Corona stattfinden, die Prunkwagen sollen wie geplant gebaut werden, und „d’r Zoch“ kommt (natürlich) auch. Wenn es bis dahin keinen Impfstoff gibt, wird er allerdings nur in stark veränderter Form möglich sein. Vielleicht werden die Wagen an verschiedenen Stellen der Stadt aufgestellt und die Jecken können dann von einem zum anderen ziehen und Kamelle sammeln.

(Leo2014/pixabay)

Köln ohne Karneval ist schwer vorstellbar. Seit 1946 ist der Rosenmontagszug, den es schon seit 1823 gibt, nur ein einzige Mal ausgefallen. Ich erinnere mich noch. Das war 1991, während des zweiten Golfkriegs. Doch so einfach geben sich die Kölner nicht geschlagen, wenn es um ihre fünfte Jahreszeit geht. Bisher haben sie allen Orkanen, Überflutungen und Katastrophen getrotzt. Sogar im Krieg wanderten verkleidete Jecke durch die Ruinen, und selbst an der Front und im Lazarett sangen die Kölner Soldaten das Heimweh-Lied von Willi Ostermann. Irgendwas fällt ihnen immer ein, um ihren Karneval zu retten.

(LunarSeaArt/pixabay)

Auch 1991 fanden sie einen Ausweg, sie belebten einfach den alten „Geisterzug“ neu. Den gab es zwar auch schon seit 1860, aber im Ersten Weltkrieg war er verboten worden und geriet danach offenbar in Vergessenheit. Jetzt gehört er wieder zur Tradition. Seit der Wiederentdeckung machen nun auch jedes Jahr (an Karnevalssamstag) die Geister die Straßen unsicher, mitsamt ihrem Maskottchen, dem „Ähzebär“, der den Winter persönlich darstellt. In diesem Jahr gespensterten sie für den Klimaschutz, als Gewitterwolken und Nebelgeister und in vielen anderen gruseligen Gewandungen. Auch Schnabelköpfe waren wie immer dabei, doch zu denen komme ich später.

In Köln ist man an Masken gewöhnt. Hier zuckt keiner mit der Wimper, wenn Mitte November plötzlich überall Hexen, Prinzessinnen, Vampire, Piraten oder Superhelden auftauchen. Die vermutlich kleinste Maske ist wohl die dicke rote Knollennase. Doch die „neuen“ Masken, die wir seit einiger Zeit (fast) alle tragen, sind wenig phantasievoll und dienen nicht der Verkleidung, sondern dem Schutz. Sie sind wahrlich keine Hingucker und verdecken im Gegensatz zu den Karnevalsmasken nur die untere Hälfte des Gesichts. Anfangs haben sie mir Unbehagen bereitet, inzwischen gehören sie fast schon zum Alltag dazu und geben ein zaghaftes Gefühl von Sicherheit. Offenbar helfen sie ja wirklich, Corona in Schach zu halten. Ich habe zum Glück kein Problem damit, mir bekannte Menschen auch „maskiert“ zu erkennen, und kann Stimmen auch noch stoffgedämpft gut verstehen. Eine Freundin von mir, die kaum noch hören kann, ist darauf angewiesen, von den Lippen zu lesen, und fühlt sich seit Monaten abgeschnitten von der Welt. Für taube und schwerhörige Menschen sind diese Masken ein Riesenproblem.

Gesine mit Maske (BFL)

Aber offenbar sind sie nötig. Wenn wir sie tragen, nehmen wir Rücksicht, halten uns an die Schutzregeln, tun etwas für die anderen und damit letztlich auch für uns selbst. Die meisten Kölner scheinen vorsichtig zu sein, auch wenn es hier momentan (Stand von gestern) lediglich noch 45 Infizierte gibt. Vielleicht ist die Zahl nur deshalb so niedrig, weil wir so diszipliniert der Maskenpflicht nachkommen? Ob die „Maskierung“ den verkleidungsgewohnten Kölnern wohl leichter fällt als anderen?

Leider haben am letzten Wochenende 10.000 Menschen in der Deutzer Werft gegen Fremdenhass und Rassismus demonstriert, am Sonntag dann noch einmal 5.000 auf dem Neumarkt. Gerechnet hatte man lediglich mit 500 Personen. Die Stimmung war bedrückend. „America we see you“. Wie viele der Demonstranten mögen wohl Masken getragen und den nötigen Abstand gewahrt haben? Ich hoffe inständig, dass die zahlreichen Massenveranstaltungen in aller Welt keine weiteren Corona-Monsterwellen auslösen.

Kleine Sammlung (BFL)

Die „neuen“ Masken sind einfarbig oder bunt gemustert und sehen insgesamt recht langweilig aus. Sie sind flach bis häßlich spitz, lassen Brillen beschlagen und Ohren schmerzen und haben viele Namen: Behelfsmaske, Behelfs-Mund-Nasen-Maske, Gesichtsmaske, Textilmaske, Alltagsmaske, Mund-Nase-Bedeckung (MNB), Schutzmaske, Hygienemaske, Stoffmaske, Papiermaske, Community-Maske, DIY-Maske, Do-it-yourself-Maske. Es gibt sie mit langen und kurzen Haltebändern und diversen Gummis. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Gummisorten es gibt! Einige sind angenehm weich und elastisch, andere hart und starr. (Mamas Hosengummis! Manchmal peinigten sie mich sogar in den sonntäglichen Kniestrümpfen!) Andere leiern schnell aus und lassen den Schutz ständig von der Nase rutschen, während wieder andere dauerhaft stramm und einschneidend bleiben.

Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass man frisch erworbene Masken auf keinen Fall mit unverknoteten Gummis in die Waschmaschine stecken sollte. Es dauert Stunden, bis man die Gummis, die beim Waschen (zumindest bei mir) alle rausrutschen, endlich wieder in ihre engen Tunnel gefrickelt hat. Man gerät dabei ins Schwitzen und Fluchen und sogar die Fingernägel brechen ab. Noch schlimmer ist es, wenn der Pfeifenputzer- oder sonstige Draht sich in der Waschmaschine verbiegt oder gar spitz herausragt, Stoffe aufreißt und partout nicht wieder an seinen Platz will.

(Adam Niescioruk/unsplash)

Meine Mask-Awareness ist in den letzten Monaten durch die Omnipräsenz verschiedenster Gesichtsbedeckungen so gestiegen, dass ich mir viele Gedanken zum Thema Masken gemacht habe. Durch die Katastrophennachrichten haben sich auch die OP-Masken und die FFP-Atemschutzmasken nachhaltig in meinem Bewusstsein verankert und versetzen mich in latente Dauerunruhe, denn Krankenhäuser sind ja mein spezielles Angstgebiet. Angeblich sind die chirurgischen Masken bequem und leicht, aber man kann sie nur einmal tragen, umweltfreundlich sind sie also nicht.

(Jacob Boavista/unsplash)

Auch die schweren Atemschutzmasken und Visierhelme der Polizei sind jetzt dauernd in den Nachrichten zu sehen, und gleich fallen mir auch wieder die martialischen Gasmasken aus Kriegszeiten ein, die an Insektenköpfe erinnern und von denen mein Vater nur mit Grauen sprach. Im Ersten Weltkrieg trugen sogar Pferde und Hunde solche Gasmasken und sahen aus wie bizarre Horrorfilmwesen. Kurz bevor die Pandemie losging, habe ich mich noch mit dem Thema beschäftigt, denn im Literaturkreis wollten wir als nächstes „Im Westen nichts Neues“ lesen (Remarque ist in diesem Jahr 50 Jahre tot). Aber dazu kamen wir durch den Lockdown nicht mehr. Harter Lesestoff, und wenn man einen kriegstraumatisierten Vater hatte, kann der Roman viele belastende „geerbte“ Erinnerungen triggern.

Die Giftgasangriffe müssen entsetzlich gewesen sein. Selbst wer eine Schutzmaske trug, war nicht sicher, denn es wurde ein brechreizauslösendes Gas entwickelt, das mühelos in die Masken eindrang und die Träger zwang, sie abzureißen. Woraufhin der Gegner gleich das eigentliche, tödliche Giftgas einsetzte. Welche Gehirne denken sich solche Grausamkeiten aus? Auch beim Anblick der bis an die Zähen bewaffneten amerikanischen Polizisten wird mir elend. Ich sehe das unbarmherzige Knie im Nacken von George Floyd. Über acht Minuten lang. „I can’t breathe!“

(Kuma Kum/unsplash)

Der Vorläufer der Schutzmasken  und vielleicht auch der Gasmasken war wohl die Maske des sogenannten Pestarztes, des „Dottore della Pesta“. Eine lange „Rabenmaske“, gefüllt mit Flüssigkeit (Essig oder Kräuteressenzen), Räucherwerk oder Kräutern (Wacholder, Gewürznelken, Zitronenmelisse, Kampfer, Myrrhe u.a.). Zu Zeiten des „Schwarzen Todes“ glaubte man, wohlriechende Kräuter und Spezereien könnten den Maskenträger vor dem „Pesthauch“ bzw. den gesundheitsgefährdenden „Miasmen“ (üble, krankmachende Dünste, giftige Ausdünstungen, Ansteckung) schützen. Auch der Begriff „Malaria“ entspringt dieser Vorstellung von gefährlichen, ansteckenden Dünsten, denn wörtlich übersetzt bedeutet er „schlechte Luft“.

(Marc Vandecastteele)

Zusätzlich zur auffälligen Maske mit dem langen Schnabel oder Rüssel und den eingesetzten Glasaugen (die gegen den krankmachenden Blick schützen sollten) trugen die Pestdoktoren des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gewachste Stoffgewänder oder Ledermäntel, die alle Körperteile bedeckten, lange Handschuhe und einen Krempenhut. Echte Schutzkleidung also. Oft hatten sie auch noch einen Stab, mit dem Untersuchungen durchgeführt und die Infizierten auf Abstand gehalten werden konnten.

(xxxmax/pixabay)

Wenn ich im Fernsehen die bis zur Unkenntlichkeit vermummten Ärzte auf den Intensivstationen sehe, muss ich an die schwarzen Pestärzte denken, auch wenn die medizinische Kleidung heute ganz anders aussieht. Doch auch die Menschen in den Covid-Stationen wirken wie Wesen aus einem Fiebertraum. Vieles ist gleich geblieben: Genau wie in Pestzeiten versuchen auch wir, uns vor der Luft, dem Atem, den Infizierten zu schützen. Nur dass wir heute wissen, dass es winzige Viren sind, die uns krank machen. Wir wissen sogar, wie sie aussehen, wie genau wir uns infizieren, wie sie sich in unseren Körpern vermehren und dass wir uns vor allem vor den unsichtbaren Aerosolen in der Luft hüten müssen. Auch Angst und Hilflosigkeit sind leider geblieben. Allzu oft können unsere Ärzte nichts mehr tun für ihre sterbenden Patienten. Wer den Covid-Intensivstationen mit den Beatmungsgeräten entkommt, ist kein Genesener, sondern ein „Survivor“, ein Überlebender.

(vreichel/pixabay)

Heute assoziiert man die Schnabelmasken vor allem mit dem Karneval in Venedig. Ich weiß nicht, ob es die „Rabenköpfe“ schon während der ersten großen Pestepidemie gab, der Justitianischen Pest (Mitte des 6. Jahrhunderts). Als im Frühjahr der Karneval in Venedig aus Sorge vor einer weiteren Ausbreitung der Pandemie abgesagt wurde, sah man schon die ersten Schnabelmasken in den Straßen der Lagunenstadt. Corona ließ sich weder durch sie noch durch den Lockdown aufhalten und wütete in Italien besonders schlimm.

Pestärzte (BFL)

Menschen mit Vogelköpfen haben mich schon als Kind fasziniert, doch sie sahen nicht aus wie die Pestärzte. Sie waren Mischwesen. Meinen ersten Vogelmann sah ich in den Collagen von Max Ernst, es ist ein laufender Mensch mit dem Kopf eines Zaunkönigs, vielleicht ist es auch eine Schnepfe, genau kann ich das nicht erkennen. Mein erstes Buch heißt nicht von ungefähr „Mann mit dem Vogelkopf“. Es ist wohl wieder eine dieser merkwürdigen Fügungen, dass auch mein Mann eine persönliche Beziehung zu Vogelkopfwesen hat. Das eigens für ihn entworfene Exlibis, das hier in so vielen Büchern klebt, stellt den Pestarzt dar.

(Alefolsom/pixabay)

Die unheilverkündende Schnabelmaske des „Dottore della Pesta“, die das ganze Gesicht bedeckte, fand ihren Weg bald in die Maskenwelt des Karnevals und erinnert gleichzeitig auch an die noch älteren venezianischen Halbmasken. Die beliebten „Zanni“ haben ebenfalls Schnabelnasen, sind in der „Commedia dell’Arte“ verankert und verbunden mit Theaterfiguren wie Pulcinella, Scaramouche, Brighella, Arlecchino oder Capitano. Sie werden in verschiedenen Formen und Farben angeboten. Aber irgendwie haftet auch ihnen in meiner Wahrnehmung (vor allem den schwarzen und weißen Varianten) die Erinnerung an den „Schwarzen Tod“ an, der Europa so schwer heimsuchte. Inzwischen kann ich mir noch besser vorstellen, wie sich die Menschen damals gefühlt haben müssen.

Auch Bücher fallen mir ein: Boccaccios „Decamerone“, „Die Pest“ von Albert Camus, „A Journal of the Plague Year“ von Daniel Defoe und das Tagebuch von Samuel Pepys.

(Blickpixel/pixabay)

Ich liebe phantasievolle Verkleidungen und Masken, auch wenn ich mich selbst nur ungern „maskiere“, weil meine Haut sich dabei schon nach kurzer Zeit unwohl fühlt. Das gilt auch für die weichen Corona-Stoffe, die schnell unangenehm feucht werden, die Nase wie verrückt jucken lassen (nur nicht ins Gesicht fassen!) und den gewohnten Umgang miteinander ziemlich unmöglich machen. Wir haben plötzlich aufgehört uns anzulächeln.

Seelenlos glänzende schwarze Helmköpfe (wie bei Darth Vader in „Star Wars“) oder Schockgesichter (wie der verzerrt grinsende Joker, der gräßliche Freddy Krueger oder Stephen Kings Horror-Clown) sowie Vermummungen, die einzig dem Zweck dienen, unerkannt Verbrechen zu begehen (wie die Spitzhüte des Ku-Klux-Klans), machen mir Angst und dringen ein in meine Alpträume. Dazu gehören für mich auch die ironisch grinsenden weißen Guy Fawkes-Masken, die alle Träger gleich aussehen lassen. Masken verbergen die Mimik, machen den Träger darunter unsichtbar. Nur gut, dass wir im Moment nicht alle so herumlaufen müssen! Übrigens kann man auch zu Corona-Zeiten und fern von Amerika einem hässlichen alten Bekannten begegnen. So wurde in Thüringen vor kurzem die Maske des Ku-Klux-Klans als „Alternativ-Mund-Nasen-Schutz-Pullover“ zum Verkauf angeboten. Zum Glück wurden die Pullover, es gab sie in Schwarz und in Weiß, gleich wieder aus dem Verkehr gezogen.

Wer mag wohl die allererste Maske erfunden haben? Das bisher erste bekannte Exemplar stammt bereits aus der Jungsteinzeit, man schätzt die Entstehungszeit auf etwa 7.000 vor Christus. Es handelt sich um eine einfache Steinmaske mit runden Augenlöchern, schmaler, gerader Nase und offenem Mund. Sie ist aus rosa-gelbem Kalkstein und wirkt geradezu minimalistisch. Wer trug sie? Wurde sie überhaupt getragen oder wurde sie vielleicht aufgehängt? Welchem Zweck diente sie? Wir werden es wohl nie erfahren.

(sdk/pixabay)

 

Veröffentlicht unter Corona, Köln | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Kleine Pandemische Sprachbetrachtung (2) – „There is no Glory in Prevention“

 

(AnnelieseArt/pixabay)

Als Übersetzerin fallen mir natürlich die vielen Anglizismen und englischen Sätze auf, die uns in Coronazeiten zunehmend begegnen, obwohl es dafür durchaus auch deutsche Begriffe gibt. Aber irgendwie sind die englischen Wörter „griffiger“ und klingen besser. „Lockdown“ (Ausgangssperre – leider gibt es auch Lockdown-Partys, zu denen sich Unvorsichtige hinreißen lassen) oder „Shutdown“ (Herunterfahren) haben es jedenfalls locker ins Deutsche geschafft. „Home-Office“ bzw. „Homeoffice“ (mit Rechner und Kommunikationstechnik ausgestatteter Arbeitsplatz zu Hause) kannten wir zwar schon länger, aber eher in der Theorie und nicht im geräumigen Eigenheim oder winzigen Apartment und schon gar nicht mit den Kindern als Dauer-Challenge. Auch „Home-Schooling“ bzw. „Homeschooling“ klingt more up to date als Hausunterricht, häuslicher Unterricht oder gar Domizilunterricht.

(Alexandra_Koch/pixabay)

Neu dagegen war auch für mich das „Social Distancing“ (räumliche Trennung, physische Distanzierung). Ein etwas komplizierter Begriff, der möglicherweise besser „Physical Distancing“ heißen sollte, denn gemeint ist ja nur die körperliche, physische Distanz bei weiter bestehender gesellschaftlicher Nähe. Aber das englische Wort „social“ ist ohnehin schillernd und bedeutet längst nicht nur sozial, sondern auch gesellig, gesellschaftlich, umgänglich, sozialistisch und mehr. Gemeint ist ja gerade nicht die soziale Isolation, an die man gleich denkt, wenn man den Begriff mit „Soziale Distanzierung“ übersetzt. Aber man kann natürlich auch argumentieren, dass unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränkt werden sollen, so dass der Begriff dann am Ende doch irgendwie greift. Wie ich in der ausländischen Presse lese, tut sich auch die englischsprachige Welt mit der Entscheidung für oder gegen „social“ oder „physical“ schwer. Es gibt Verfechter für beide Varianten. „Superspreader“ (Virenschleuder) und „Superspreading-Ereignis“ sind da eindeutiger und klingen dem Ereignis angemessen. Viele neue Wörter. You live to learn.

(amit69/pixabay)

Wofür die Abkürzung PCR steht, kann ich mir jetzt endlich auch merken, nachdem Christian Drosten es oft genug wiederholt hat: Polymerase Chain Reaction (Polymerase Ketten-Reaktion, erklären kann ich das jetzt allerdings nicht).  Die Abkürzung weckt bei mir viele Erinnerungen. So höre ich gleich einen netten Menschen sagen: „Ich mach jetzt mal schnell noch die PCR.“ Lange her. Als Psychiatrie-Übersetzerin hatte ich mein Arbeitszimmer einige Jahre im Laborhaus der Kölner Uni-Klinik, und schräg gegenüber im Laborraum wurden jeden Tag interessante Tests mit wohlklingenden Namen wie Western Blot, Elisa und PCR (damals noch recht neu) durchgeführt, und wenn man in den Raum spähte, sah man auf den Tischen entspannt schaukelnde Geräte (Mikrotiterplatte auf Rüttler).

In den Anfängen der Aids-Pandemie saß ich damals sozusagen genau gegenüber der Quellenauswertung, denn dort wurden vor allem unzählige HIV-Tests durchgeführt. Mein Zimmer war schön und geräumig, mit zwei Schreibtischen und Regalen voller Bücher (meinen eigenen, nebst einigem Krimskram), und war eigentlich für einen Arzt gedacht. Nur einen Computer hatte ich dummerweise nicht, weil mein Chef der Ansicht war, dass ich (und Frauen überhaupt) damit nicht umgehen könne. Also musste ich alles mühsam niederschreiben, in ein blödes Gerät diktieren, von einer Sekretärin tippen lassen, Korrektur lesen und danach nochmal von der Sekretärin verbessern lassen. Sie war nett, aber oft hat sie Begriffe nicht verstanden und nur nach Gehör geschrieben. Da hätte man sich wirklich mehrere Arbeitsschritte sparen können. Außerdem kann ich sehr gut mit Computern umgehen.

Apropos Aids-Pandemie: Ich erinnere mich noch an meine tiefe Verunsicherung, an meine Alpträume und auch daran, dass eine gute Freundin lachte, als ich ihr von der (damals noch tödlichen) neuen „Seuche“ erzählte. „Mit dir geht mal wieder die Fantasie durch! Alles Panikmache!“ Egal, die Freundschaft besteht längst nicht mehr. Mir hat die Krankheit damals große Angst gemacht, und „danach“ war für mich alles anders als vorher, die Leichtigkeit des Seins war vorbei, aber vor allem sind mehrere liebe Freunde von mir an Aids erkrankt und elend gestorben. Doch man konnte sie anders als heute bei Corona bis zum Schluss noch besuchen, wenn auch in Schutzkleidung. Zur ihrem Schutz, nicht zum eigenen!

Im Erdgeschoss jenes (inzwischen abgerissenen) Laborhauses standen komische Gefäße mit menschlichen Gehirnen, aus denen feinste Schnitte angefertigt und anschließend eingefärbt wurden. Ich muss jedes Mal daran denken, wenn ich Walnüsse sehe. Manchmal brachte ein nervöser Eilbote „frische Muskelschnitte“ in ekligen Plastikbeuteln. Ich habe die Proben höchst ungern im Empfang genommen, und nur, wenn sonst keiner die Klingel hörte. In der Kaffeepause um die Mittagszeit (der nette Mensch und ich waren die einzigen Teetrinker, so dass er immer fürsorglich auch für mich eine Tasse machte) wurden ab und an besonders gelungene histologische Schnitte herumgezeigt, was mir sofort auf den hochsensiblen Magen schlug. Und dann gab es dort auch noch eine nette Putzfrau, die eine Katze hatte und eine Art Seelenverwandte von mir war. Wie hieß sie doch gleich? Aber ich ufere aus. Dazu neigt man als Romanautorin. Sorry. Zurück zur aktuellen Pandemie.

Das Corona-Motto „Flatten the curve“ (die Kurve flach halten, ich habe auch schon „Stop the Curve“ gesehen, ach, wenn das nur ginge!) und die Corona-Mantras „Stay home, stay safe, save lives“, „Stay alert“ und „Keep calm“ in allen Varianten (and wash your hands, carry on, drink tea, love Colin Firth, stay at home) dürften hier inzwischen jeden erreicht haben. Auch das WHO-Mantra „Test, test, test“ hat es geschafft, allerdings vor allem in der Übersetzung als „Testen, Testen, Testen“. Unter der Strategie „Hammer and Dance“ (beides sehe ich gerade lebhaft vor mir!) versteht man ein abwechselndes Anziehen und Lockern der Eindämmungsmaßnahmen. Momentan sind wir offenbar nach dem ersten Hammer im ersten gemäßigten Dance-Modus.

Relativ unbekannt war für viele Nichtmediziner bisher wohl der Begriff „Cocooning“ (Kokon-Strategie), bei dem ich spontan an die geheimnisvolle Verpuppung von Schmetterlingen denke. Man bezeichnet damit aber auch das gemütliche Einigeln im eigenen Heim, und in diesem Sinn, allerdings nicht annähernd so gemütlich, wird es als Anti-Corona-Strategie auch benutzt. Risikopersonen werden abgeschirmt und bleiben zu Hause („Alte ins Nest!“). Auch im Kreißsaal und auf der Wöchnerinnenstation scheint es in Pandemie-Zeiten Cocooning zu geben, habe ich gelesen (nur noch eine gesunde Person darf mit in den Kreißsaal).

kind of cocoon (Dieter_G/pixabay)

In der Medizin versteht man darunter übrigens auch noch etwas anderes, vor allem im Bereich des Impfens. Ein Beispiel: Säuglinge sind besonders anfällig gegen Keuchhusten und können daran sterben. Um die Kleinen zu schützen, ist es sinnvoll, wenn alle Bezugspersonen geimpft sind. So wird quasi ein schützender Familien-Kokon „gesponnen“, was aber leider durch die zu geringe Impfbereitschaft in der Realität nicht sonderlich gut funktioniert. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt daher jetzt die Impfung der Schwangeren (am Beginn des letzten Drittels der Schwangerschaft). Das funktioniert sehr viel besser, denn werdende Mütter bringen ihr Kind nicht unnötig in Gefahr. Keuchhusten ist in keinem Alter ein Spaziergang im Park. Mich hat es als Erwachsene voll erwischt (bis dahin dachte ich fälschlich, es sei „nur“ eine Kinderkrankheit), und ich weiß noch genau, wie mich die heftigen Hustenkrämpfe alle paar Sekunden auf den Fußboden zwangen. Alles tat weh, ich bellte schier ununterbrochen, bekam keine Luft und fürchtete, mir würde jeden Moment der Kopf explodieren oder ein Blutgefäß im Gehirn platzen. Ich wäre fast im Krankenhaus gelandet, so schlecht ging es mir. Seitdem lasse ich mich auch gegen Keuchhusten regelmäßig impfen, denn man ist nach Durchmachen der Krankheit leider nicht immun. Nochmal will ich das auf gar keinen Fall erleben!

Update (Markus Winkler/unsplash)

Völlig neu war für mich allerdings der augenöffnende Satz „There is no glory in prevention“, den ich zum ersten Mal bei Professor Drosten hörte und der gar nicht leicht zu übersetzen ist. Wörtlich wohl mit „Vorbeugen wird nicht belohnt“ oder „Kein Ruhm für Prävention“, aber der tiefere Sinn wird erst verständlich, wenn man das Ganze weiter ausschmückt. „Die Verhinderung gefährlicher  Krankheiten bringt leider (wenn überhaupt!) bei weitem nicht den gleichen Ruhm wie ihre Heilung“. Oder, ganz frei: „Wer heilt, hat recht und wird berühmt, wer Krankheiten „nur“ verhindert, wird möglicherweise auch noch angefeindet und beschimpft. Heutzutage gerät man deswegen sogar leicht in Twitter-Gewitter und virtuelle Shitstorms (hat im Englischen übrigens nicht ganz dieselbe Bedeutung wie bei uns). Das gilt sogar für Leute, die lediglich versuchen, die Prävention zu fördern (siehe Bill Gates) oder einen Erreger erforschen und darüber wissenschaftlich fundiert informieren (siehe Prof. Drosten, der gerade wieder neue Morddrohungen und gestern sogar ein Drohpaket mit einer offenbar üblen Substanz erhalten hat, genau wie der SPD-Politiker und Arzt Karl Lauterbach).

Für meinen Mann war der Satz nicht neu, denn als Arzt kennt er das „Präventionsparadox“ nur allzu gut. Im Bereich der Impfepidemiologie beobachtet man das Prinzip seit langem. Tritt eine gefährliche Krankheit auf, ist die Akzeptanz der Impfung bei der Bevölkerung zunächst hoch. Man hat Angst und sieht, dass andere schwer krank werden und will das auf gar keinen Fall selbst haben! Beispiel: Im Stammbaum meiner Eltern sehe ich mit Schrecken, wie viele Kinder früher an Diphterie gestorben sind. Allein bei meiner Mutter waren es mehrere Geschwister, bei meinem Vater ein Schwesterchen (dazu kamen bei beiden auch noch Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen), aber in den Generationen davor waren es noch viel, viel mehr Kinder.

Die Krankheit galt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht von ungefähr als „Würgeengel der Kinder“. Heute ist sie aufgrund von Impfungen sehr stark zurückgegangen und tritt hier nur noch vereinzelt auf. Mein Vater hat sie im Zweiten Weltkrieg dann noch einmal aus nächster Nähe erleben müssen, weil sie als Epidemie grassierte und auf einen Schlag 3 Millionen Menschen infizierte. Meine Eltern hatten daher eine Heidenangst vor dieser Infektionskrankheit. Ich auch. Bei jeder Halsentzündung hieß es gleich: „Hoffentlich hat das Kind keine Diphterie!“ Da ich ziemlich oft krank war und meine Mutter  wohl doch ein bisschen Angst vor dem Impfen ihrer zarten Tochter hatte (ich wurde als einzige in der Klasse nie gegen Pocken geimpft), bekam ich erst 1963 meine Diphterie-Impfungen, wie ich in meinem Impfausweis sehe. Gerade noch rechtzeitig. Meine viel jüngere (noch ungeimpfte) Schwester musste die Krankheit durchmachen, es ging ihr richtig schlecht und sie hatte tagelang hohes Fieber. Ausgerottet ist die Diphterie zwar immer noch nicht, aber der Würgeengel der Kinder hat durch die Impfung seinen Schrecken verloren. Jetzt hat man Angst vor der Impfung! Genau so funktioniert das Präventionsparadox. (Kleiner Nebengedanke: Ob sich die Impfbeteiligung wohl steigern ließe, wenn man die Impfungen wieder selbst bezahlen müsste? Was nichts kostet, taugt schließlich nichts!) Aber wie heißt es doch so schön: „If you don’t like the vaccine, try the disease.“

Die Auswirkungen des Präventionsparadox-Prinzips kann man gerade gut beobachten: Hier ist ja zum Glück (noch!) nicht viel passiert, also kann das Virus so schlimm ja nicht sein und deshalb können wir jetzt auch alle wieder ganz normal weiterleben wir vorher. War doch alles total überzogen! Die meisten Leute, die hier krank waren, sind wieder gesund und die Alten wären sowieso bald gestorben. Die Politiker und Virologen haben uns hinters Licht geführt (um Machtgelüste auszuleben, sich selbst zu bereichern, die Weltherrschaft an sich zu reißen, weiß der Kuckuck, wie die Verschwörungstheorien alle lauten). Explosives Thema.

News (Markus Winkler/unsplash)

Wer in den letzten Wochen und Monaten die englischsprachige Presse verfolgt hat, kennt die schockierenden Bilder und Filme aus den New Yorker Krankenhäusern und Leichenhallen und ist vorsichtiger mit Schlussfolgerungen und Schuldzuweisungen. Doch bei uns führt das Präventionsparadox gerade dazu, dass die Risikowahrnehmung ausgerechnet durch den Erfolg der Präventionsmaßnahmen ins Kippen gerät. Genau wie beim Impfen. Die Angst vor der Krankheit nimmt ab, weil man sie nicht (mehr oder noch nicht) sieht, und die Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen der Schutzimpfung bzw. die Entrüstung über die einschneidenden Vorbeugungsmaßnahmen wächst. Am Anfang war man noch kooperativ, da konnte man ja auch noch nicht einschätzen, was einem blühte. Aber dann passierte NICHTS! War also alles nur Panikmache! Die Krankenhäuser sind leer! Was soll der ganze Lockdown-Mist? Dafür verlieren wir jetzt unsere Jobs und haben wochenlang in Quarantäne gehockt? Wo sind denn nun all die Schwerkranken und Toten?

„There is no Glory in Prevention.“ Wer todkrank ist und geheilt wird, ist seinem Retter sein Leben lang dankbar. Wer eine Krankheit nicht bekommt, weil er dagegen geimpft ist oder weil Vorsichtsmaßnahmen dies abwenden konnten, nimmt es nicht wahr. Dankbar? Wofür? Da war doch gar nichts! Wir haben in Deutschland bisher nur deshalb so wenige Fälle – obwohl 181.293 bestätigte Infektionsfälle und (nach heutigem Stand, 14:30 Uhr/Johns-Hopkins-Universität) 8.377 Todesfälle meiner Meinung nach nicht grade wenig sind, weil wir sehr frühe und umfangreiche Testungen, ausgezeichneten Virologen, umsichtige Politiker und den ganzen (rechtzeitigen) Quarantäne- und Lockdown-Mist hatten! Aber das kann sich sehr schnell ändern (hoffentlich nicht!).

Ein genauer Blick in die italienischen, französischen, englischen, spanischen und amerikanischen Krankenhäuser müsste eigentlich jeden sofort zur schockierten Einsicht bringen. In New York standen reihenweise Kühllaster voller Leichen vor den Hospitälern und Beerdigungsinstituten. Zeitweise gab es nicht mal genug Leichensäcke, Särge und Gräber für die Toten. Aber New York ist nun mal weit weg und hier stehen keine Kühllaster. Dabei sind wir immer noch mitten drin in der weltweiten Pandemie, auch wenn grade Dance-Modus ist. Um die Bevölkerung zu schonen oder Panik zu vermeiden, hat man hier die Katastrophenbilder und Filmaufnahmen kaum oder nur sehr kurz gezeigt, und diese Rücksichtnahme geht bei einigen offenbar gerade nach hinten los. Wir sind nicht immun, weil es uns (noch) gut geht und wir ein stabiles Gesundheitssystem haben. Genau das haben auch andere gedacht, die es dann eiskalt erwischt hat. Willkommen im Club von Boris Johnson, Donald Trump und Bolsonaro.

Message on a tree (Nick Fewings/unsplash)

Veröffentlicht unter Corona | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , | 4 Kommentare

Innere Kraftorte – Der Nachtgarten

Garden (Yukitaka Iha/unsplash)

In meiner Vorstellung ziehe ich mich gern in meine inneren Gärten zurück. Es gibt drei, einen Nachtgarten zum Einschlafen und für tagsüber einen freundlichen sonnigen Obstgarten und einen wilden englischen Cottage Garden. Ich kenne sie so genau, dass ich sie mühelos zeichnen kann. Für alle gibt es reale Vorbilder, in denen ich sinnliche Eindrücke sammle. Für den Nachtgarten finde ich sie in den Schattenbereichen unseres eigenen Hausgartens und im großen Japanischen Garten in Leverkusen. Ich versuche, ihn mehrmals im Jahr zu besuchen, mich in aller Ruhe darin zu bewegen und dabei möglichst viele Fotos zu machen, die ich mir später zu Hause genau ansehe, um mir alle Eindrücke einzuprägen oder gezielt zu verstärken, damit ich sie auch mit geschlossenen Augen gut abrufen kann. Wie die Hütte im Käuzchenwald sehen auch die inneren Gärten bei jedem Besuch ein wenig anders aus, je nach Verfassung und Jahreszeit, nur die Grundstruktur bleibt bestehen.

In the shade (BFL)

Am schönsten ist mein Nachtgarten im Frühling und Herbst. Ich besuche ihn abends im Bett zum Entspannen und Beruhigen, zum „Erden“ und „Abschalten“. Früher konnte ich darin sehr gut einschlafen, denn es gibt dort ein kleines Haus mit einem bequemen Bett, aber seit Corona gelingt mir das Einschlafen besser in der Hütte im Wald, wobei auch das langsam schwieriger wird, daher muss ich mir vielleicht bald noch ein weiteres Plätzchen suchen. Käuzchen gibt es in den Gärten übrigens auch. Sie scheinen in all meinen Kraftorten zu leben, genau wie an den Wänden meines Arbeitszimmers.

Um in den Nachtgarten zu gelangen, muss ich zuerst durch ein großes uraltes Tor, das zwischen hohen Steinmauern liegt. Ich lege die Hände auf das raue Holz und warte. Wenn ich Glück habe, öffnet sich das Tor, gleitet lautlos beiseite, schließt sich sofort hinter mir, und ich kann den Garten betreten. Es klappt nur, wenn ich keine störenden Gedanken habe und mich ganz auf den inneren Ort einlasse, sonst muss ich aufgeben oder noch mal von vorn anfangen, manchmal sogar mehrmals – mich dem Tor erneut aus einiger Entfernung nähern, mich davor stellen, das Holz berühren und stumm darum bitten, eingelassen zu werden. Die Steinmauer um meinen japanischen Garten erinnert mich an die alten Mauern von englischen Herrenhausgärten und auch an die lange Mauer, die in meinem Geburtsort früher von der Kirche bis hin zum kleinen Friedhof führte. Überhaupt mag ich alte Mauern und auch die kleinen wilden Pflanzen, die dort in den Fugen wachsen. Wir haben hinten im Garten eine Trockenmauer, die eine Kräuterspirale umschließt und aus der alle möglichen winzigen Gewächse sprießen, vor allem Farne. Ganz von selbst, und ich nenne sie „Gartengeschenke“.

Stone Flower (BFL)

Einmal habe ich „richtig“ von meinem Nachtgarten geträumt und war total erstaunt, den sonst nur im Wachzustand imaginierten Ort plötzlich so unerwartet im Schlaf zu sehen. Doch ich stand nur vor der verschlossenen Tür und musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Mir ist zwar so gut wie immer bewusst, dass ich träume, aber ich bin leider keine gute luzide Träumerin, denn ich kann die Handlung selten beeinflussen. Ich träume mit allen Sinnen und wachem Bewusstsein, aber in meiner Traumwelt scheinen Gesetze zu gelten, auf die ich (noch) keinen Einfluss habe. Ich kann mich allerdings leicht aus unangenehmen Träumen herauskatapultieren oder wie an einer unsichtbaren Nabelschnur herausziehen. Aber dann ist der Schreck meist schon so groß, dass ich mit Herzrasen erwache.

Red Bridge (BFL)

Der echte Garten in Leverkusen liegt offen, ist von allen Seiten einsehbar und kann über Brücken und durch mehrere Eingänge betreten werden. Mein geheimer Garten dagegen ist komplett umwallt, hat nur ein Tor und wird ausschließlich von mir besucht, obwohl ich auch hier das Gefühl habe, dass mein Vater noch vor kurzem anwesend war. Vielleicht ist er in einen der angrenzenden Gärten gegangen, den freundlichen Obstgarten oder den wilden Cottage Garden mit Rosenbüschen, Clematis, Fingerhut, Frauenmantel, Herbstanemomen und der Bank unter den Kletterrosen – alles Pflanzen, die ich hier im Garten habe und die auch in den Gärten meines Vaters wuchsen.

Dreaming Flowers (BFL)

Zwischen den Gärten wandert ein zahmer Fuchs hin und her, der sich streicheln lässt, aber vor allem finde ich hier alle Katzen, die je mein Leben geteilt haben und inzwischen gestorben sind. Nur Alice fehlt, denn sie ist ja noch bei mir. Den Trosttrick mit dem „versetzten“ Weiterleben habe ich aus den Harry Potter-Büchern. J.K. Rowling hat ihre Mutter sehr früh verloren, vielleicht hat sie mit den inneren Bildern ja nicht nur ihrer Romanfigur, sondern auch sich selbst geholfen? Der Tod ist in ihren Büchern jedenfalls nicht das Ende. Als Dumbledore stirbt, ist er gleich darauf in seinem Portrait im „Headmaster’s Office“ zu sehen und schläft, wacht und spricht dort weiter, ohne dass ihm Zeit und Tod noch etwas anhaben können. Harrys verstorbene Eltern sind für ihren Sohn im Spiegel von Erised auch noch zu sehen. Beide Vorstellungen sind für mich sehr anrührend und tröstlich und erinnern mich an meine eigenen inneren sicheren Orte.

Fox (Nathan Anderson/unsplash)

Die acht Katzen freuen sich jedes Mal, mich zu sehen. Meine Kindheitskatze Topsi, schwarzweiß, klein und drahtig, ist meistens die erste, die angerannt kommt und Köpfchen gibt, aber dann sehe ich auch schon den riesigen silbergrauen Cisco, meinen Seelenkater, bei dessen unerwartetem Tod ich vor sieben Jahren tatsächlich Angst hatte, ich würde den Verstand verlieren. Wie gut, dass ich ihn hier noch besuchen kann. Meistens laufen mir die anderen Katzen spätestens dann entgegen, wenn ich auf die zweite Brücke trete, und wir schlendern zusammen über Trittsteine und Wege durch den geheimnisvollen Schattenteil bis zum Fischteich und dann die Stufen hoch zum Teehaus. Oder ist es ein kleiner Tempel?

Contemplation (BFL)

Hinter dem Tor wachsen Farne und Hostas, Rododendren und Azaleen, Hortensien und Elfensporn, rechts gibt es einen Moosgarten mit leisem Wasserlauf und glänzenden Steinen, und überall stehen halbverborgen  kleine  und große Statuen und Steinornamente. Natürlich findet man überall auch Bäume und Sträucher – vor allem Koniferen, Fächerahorne und große Eichen, aber auch Pinien, Kamelien und Bambus. Und am Fischteich steht eine Trauerweide, die so groß ist wie meine alte Baumfreundin an der Dorenburg in meinem Heimatort.

Rhododendron (BFL)

Der japanische Nachtgarten ist eine Oase der Entspannung, kontemplativ und meditativ, sanft und beruhigend, mit Hügeln und Wasser, weich fließenden Formen, ein wirklich poetischer Ort. Immer wieder leuchtet kräftiges Rot zwischen mattem Grün und Weiß und vielen Rosa- und Lilatönen. Es herrscht ein angenehmes Wechselspiel von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, Hügeln und Flächen, feucht und trocken, rund und eckig. Einige Steinlaternen und Statuen habe ich mir aus dem realen Garten in Leverkusen ausgeliehen. Kurz vor dem Teehaus gibt es auch einen Abschnitt mit fein geharktem Kies, einer Bank und Findlingen. Dort kann man besonders gut nachdenken und den Geist klären. Der Garten ist nicht immer gleich. Es hängt ganz davon ab, was mir gerade gut tut und welche Bilder mir mein Unterbewusstsein schenkt. Ich bin da offen und lasse mich auf meinen Bildern davontragen.

Water Steps (BFL)

Auch hier gehe ich zum Einschlafen am liebsten meinen vertrauten Weg, nachdem sich das Tor hinter mir geschlossen hat. Oft mit bloßen Füßen, um den Boden, die Pflanzen, das Moos, die Steine, das Holz und den Kies besser zu spüren, ich höre die Pflanzen und Bäume atmen, das Wasser leise plätschern (das höre ich tagsüber auch hier im Garten, denn wir haben einen  kleinen Teich mit Goldfischen, Quellstein und Holzsteg), gehe über die Trittsteine des großen Koi-Teichs den Hügel hoch bis zum Haus, in dem in einem fast leeren Raum mein aufgedecktes Bett steht. Hier ist es angenehm kühl, von draußen hört man die leisen Klänge eines Windspiels (ich habe mehrere hier im Garten, so dass ich den Ton im Ohr habe) und den sachten Wind in den Blättern.

Right Path (BFL)

Im Haus steht in dem fast leeren Zimmer ein niedriger dunkler Tisch mit einer Teekanne und einer Schale Tee, ich trinke daraus, lege mich auf das Bett, und der Blick durchs Fenster ist blattschattig mit zarten bis kräftigen Gelb- und Grüntönen. Meine Katzen scharen sich um mich, und ihr entspanntes Schnurren bringt mich zuverlässig zum Einschlafen, wenn ich es einmal bis hierher geschafft habe. Oft wünsche ich mir, dass das Letzte, das ich in diesem Leben höre, das Schnurren einer Katze ist. Der warme, weiche Tierkörper vibriert auf äußerst beruhigende Weise, und die Wellen pflanzen sich wohlig in meinem Körper fort und tragen mich mit sich in den Schlaf.

Garden View (BFL)

Am schönsten war es, wenn mein gutmütiger Cisco sich wie eine überdimensionale Fellmütze um meinen Kopf legte (das tat er immer, wenn ich krank war und das Bett hüten musste, aber oft auch einfach nur so) und anfing, laut und tief zu schnurren. Es tut mir bis heute leid, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, seine Stimme aufzunehmen, aber damals ahnte ich noch nicht, dass ich ihn schon so früh verlieren würde. Jede Katze klingt anders. Alice schnurrt leiser und höher, bei Ben klang es irgendwie gepresst, und an das Schnurren meiner Kinderkatzen kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Aber vielleicht würde ich es trotzdem wiedererkennen?

Ladybird (Artem Makarov/unsplash)

Manchmal schlafe ich im Nachtgarten auch schon draußen ein, die Katzen auf dem Schoß, neben mir auf der Bank oder unten an meinen Füßen. Mein getigerter Dorfkater Sam hatte die Angewohnheit, mit beiden Vorderläufen meinen Hals zu „umarmen“ und zärtlich mit seiner rauen Zunge die kleine Kuhle in der Mitte des Schlüsselbeins zu lecken, was ungemein kitzelte und mich oft zu Tränen rührte. Er leckte auch jeden Morgen meine Füße. Im Geheimen Garten macht er das immer noch und bringt mich damit zum Lachen.

Unmittelbar vor dem Einschlafen höre ich nur noch das Schnurren. Die Luft ist klar und würzig, duftet blättrig, holzig, harzig, frisch und herb, durchsetzt mit Efeu- und Farnnoten, aber gelegentlich auch ganz kurz intensiv lilienartig. Manchmal wachsen im Teich statt der Seerosen langstielige Lotusblumen. Ich weiß nicht, wie ihre Blüten in Wirklichkeit riechen, und habe mir daher meinen persönlichen Lotusblütentraumduft geschaffen. Er ist süß und stark und vermischt sich harmonisch mit den Schattengerüchen der Nacht.

Soft Ground (Leo Sammarco/unsplash)

Veröffentlicht unter Angst, Hochsensibel, Imaginieren, Natur | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Kleine Pandemische Sprachbetrachtung (1) – Corona-Wortschöpfungen

Corona-Zeitung? (geralt/pixabay)

Als Schriftstellerin und Übersetzerin beobachte ich seit Anfang des Jahres mit Interesse die zunehmende Coronisierung meiner Muttersprache und bin schon gespannt, welche der vielen neuen Begriffe aus der aktuellen Pandemiefülle es in den Duden schaffen werden. Alle drei bis fünf Jahre kommt eine Neuauflage, und bei der letzten (2017) wurden 5.000 neue Wörter aufgenommen (unter anderem Brexit). Als ich vorige Woche (wieder mal) bei der Duden-Sprachberatung anrufen musste (leider kostenpflichtig), weil ich eine knifflige Rechtschreibfrage hatte, die ich allein unmöglich bewältigen konnte (die nette Mitarbeiterin konnte das natürlich sofort und befand sich offenbar im Home Office, denn die Verbindung war anders als sonst grottenschlecht), kam mir spontan die Idee, die Pandemie mal ein bisschen auf sprachlicher Ebene zu erforschen. Offenbar bin ich nicht die einzige Sprachinteressierte, die auf diese Idee gekommen ist. Googeln Sie mal „Corona und Sprache“!

Corona-Katze? (Chiplanay/pixabay)

Vorbemerkung: Als Katzenfrau kenne ich „Corona“ schon lange. Eine besonders grässliche Variante davon verursacht nämlich bei Katzen die gefürchtete und nach Ausbruch immer tödliche Krankheit FIP (Feline infektiöse Peritonitis) und gehört zu den heimtückischsten Viren überhaupt (wenn man Viren denn eine derartige Eigenschaft zuschreiben kann). Das feline Coronavirus (FCoV) bleibt in der Umgebung wochenlang infektiös, wird über den Kot ausgeschieden und von anderen Katzen oronasal (über den Mund und die Nase, klingt gefährlich vertraut, oder?) aufgenommen, ist höchst mutationsfreudig, kommt weltweit vor und gehört wohl zu den häufigsten infektiösen Todesursachen bei Katzen. Sehr, sehr viele Katzen kommen damit in Kontakt, ohne dass sie schwer erkranken. Leider mutiert das Virus immer wieder unvorhersehbar, scheinbar willkürlich und spontan in bestimmten Katzen, und man weiß nie, warum und in welchen. Besonders Kitten (auch wenn sie zunächst noch so gesund und entspannt wirken und man sie so lieb hat, dass es einem schier das Herz bricht, wenn man sie verliert) und gestresste oder kranke ältere Tieren sind davon betroffen. Einzelheiten erspare ich Ihnen lieber, aber mir wird schon bei der Erinnerung schlecht. Das klinische Erscheinungsbild ist äußerst vielfältig, und ich habe mehrmals bei geschockten Verwandten und Freunden miterleben müssen, wie ihre  Katzenkinder qualvoll an FIP starben. Es kann alle Katzen treffen, ob aus dem Tierheim, aus liebevoller Familienhaltung, von erfahrenen Züchtern oder vom Bauernhof. Meine eigenen Tiere sind bisher zum Glück davon verschont geblieben, aber ich hatte jedes Mal, wenn ich Kitten aufgezogen habe, Riesenangst vor FIP und habe mich erst beruhigt, wenn die Kleinen mehrere Monate bei mir und „über den Berg“ waren. Es gibt einen Impfstoff, aber der wirkt (wenn überhaupt) nur bei Tieren, die nie Kontakt zu den Viren hatten (sehr selten), kann die Krankheit mitunter sogar auslösen (also nur Katzen ohne Antikörper impfen) und umstritten ist er auch. Die Wirksamkeitseinschätzung schwankt  je nach Tierarzt zwischen „vergiss es“ und 80%. Schon das Wort Corona ist für mich daher katzenbedingt erschreckend besetzt, auch wenn ich weiß, dass unter den vielen „harmlosen“ Schnupfenviren auch Coronaviren sind. Ich hoffe inständig, dass Sars-CoV-2 nicht auch eines Tages anfängt, spontan zu mutieren. Als ich las, dass sich sowohl Großkatzen als auch Hauskatzen mit dem neuen Virus bei Menschen angesteckt haben, wurde mir extrem mulmig. Das nur zur Einstimmung. Ich wollte, ich würde FIP nicht so gut kennen. Es stimmt wirklich: Ignorance is bliss.

Corona-Regeln? (congerdesign/pixabay)

Flooding – In den letzten Monaten habe ich das Wort Corona so oft gehört, dass es bei mir einen gewissen Voldemort-Efffekt auslöst, was sich aber möglicherweise durch ein extremes „Flooding“ wieder ins Lot bringen lässt. Einen Versuch ist es wert. Bei der Therapie von Phobien ist „Flooding“ oft erfolgreich: Wer Angst vor Spinnen hat, wird den Viechern so lange und so massiv ausgesetzt, bis seine oder ihre Angst aufhört. Vielleicht klappt das verbal bei Corona ja auch und dann fühlt man sich besser und ist auf Dauer richtig schön gegen das Wort abgestumpft. Die Kombinationen, die dauernd auf uns einprasseln, kann man ohnehin kaum noch zählen. Allein in den kurzen WDR-Nachrichten waren es heute morgen bereits sieben, aber die standen alle schon auf meiner Liste.

Meine kleinen Sprachbetrachtungen beginnen also heute mit den Corona-Combis (sorry, Duden-Redaktion, aber es sieht mit C einfach schöner aus). Eine Woche lang habe ich mir eifrig C-Begriffe notiert – alle, die ich in unserer Tageszeitung, den Nachrichten, im Internet und in meinem Sprachgedächtnis so gefunden habe. Dass es so viele sein würden, hätte ich allerdings nicht erwartet, daher ist meine Sammlung aus Zeitmangel (oder doch eher aus Faulheit) weder vollständig noch alphabetisch, wofür ich um Nachsicht bitte. Als ich gerade fertig war (typisch!), entdeckte ich den lesenswerten Artikel von Christine Möhrs „Ein Wortnetz entspinnt sich um Corona“ (mit Mindmap und „Wortbildungsprodukten“). Dr. Möhrs ist eine Mitarbeiterin des Leibnitz-Instituts für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Die IDS-Seite war für mich übrigens eine echte Entdeckung und die erste Belohnung für meine fleißige Sammelarbeit.

Corona-Besucher? (congerdesign/pixabay)

Hier kommt meine (durchaus noch ausbaufähige) Sammlung, bei der sich gleich auch einige Fragen auftun: Corona-Virus (kennen wir inzwischen zu Genüge), Corona-Ausbruch (klar, Wuhan), Corona-Welle (die erste legt sich grade, die zweite wird bestimmt noch schlimmer), Corona-Krise (weltweit, mitten drin), Corona-Party (wie früher die Masern-Partys, beides ganz und gar nicht zu empfehlen), Corona-Babys (vielleicht auch nicht zu empfehlen? aber sind das nun Kinder von Corona-Müttern oder Babys, die im Lockdown gezeugt wurden? ob es davon wohl mal viele geben wird? sinken Reproduktionsraten und Vermehrungsgelüste in Pandemien oder nehmen sie zu?), Corona-Ferien (für Kinder sicher vor allem langweilig?), Corona-Maßnahmen (heiß diskutiert), Corona-Tests (auch in den Varianten C-Antikörpertest und C-Schnelltest zu haben), Corona-Ticker (nervt jeden Abend, vor allem der Fanfarenstoß und die blöden Stachelkugeln), Corona-Abitur (die armen Schüler) Corona-Update (im NDR mit Prof. Drosten, leider nur noch zweimal die Woche), „Kekulés Corona-Kompass“ (im MRD, montags bis samstags; optisches Pech, dass Corona kein K am Anfang hat), Corona-Sprechstunde (klar, worüber die da sprechen), Corona-Briefing (mein Favorit: NDR), Corona-Mythen (viele, z.B. „gegen die Krankheit helfen heiße Bäder“, übrigens auch Sonnenbäder, außerdem Knoblauch, Ingwer, Meditieren mit Lungenkraut, hochprozentiger Alkohol sowie Spritzen und Trinken von Desinfektionsmitteln und  Haushaltsreinigern à la Donald Trump.), Corona-Lügen (z.B. „Mundschutzmasken gefährden die Menschen“, „Wir sind längst am Ende der Pandemie“), Corona-Leugner („Es gibt gar keine Viren!“), Corona-Verweigerer (ja, gibt es auch, sehr gelungen fand ich die Überschrift „Corona-Verweigerer attackieren Corona-Streife“). Es folgt eine kleine leserfreundliche Corona-Verschnaufpause mit Abschnitt, also tief durchatmen, gleich geht es weiter und wird dann auch noch persönlicher.

Corona-Paar? (congerdesign/pixabay)

Corona-Angst (leider, siehe FIP), Corona-Fatigue (ja, echt ausgeprägt), Corona-Alpträume (auch, wird besser, wenn man die Träume aufschreibt), Corona-Lockerungen (Hoffnungsfunke), Corona-Frisur (gut, dass mich keiner sieht), Corona-Schnitt (nur den Pony, sonst fällt es auf), Corona-Mattheit (s. oben), Corona-Stress (ditto), Corona-Bonds (übersteigt mein schwach ausgeprägtes Zahlenverständnis.), Corona-Anleihen (ebenso), Corona-Neuverschuldung (schlimm), Corona-Hilfen (dringend notwendig), Corona-Bonus (längst fällig, vor allem bei Pflegekräften), Corona-Verordnung (kompliziert und überall anders, ein „Flickenteppich“ halt, auch so ein nerviges Corona-Wort, dabei sind die Dinger eigentlich ganz schön und sehr gut waschbar, zum Beispiel die von IKEA), Corona-Bußgeldkatalog (auch kompliziert und überall anders), Corona-Berichterstattung (mitunter wirklich ätzend, vor allem die Talk Shows, in denen alle schlecht gelaunt durcheinander und gegeneinander reden, und die vielen Sondersendungen, die jeden Abend das Programm derart aufmischen, dass alles, was man eigentlich sehen will, später kommt als angekündigt und das Aufnehmen nicht mehr funktioniert – oder ist das bloß bei unserem blöden Recorder so?), Corona-Verdacht (stressig), Corona-Nachweis (wie kriegt man den eigentlich mitgeteilt? per Mail? per Anruf?), Corona-Opfer (noch stressiger), Corona-Notfall (lieber nicht dran denken), Corona-Abstrich (tut angeblich weh, da sehr tief), Corona-Selbstabstrich (funktioniert das überhaupt?), Corona-Hotspot (ich sage nur: Heinsberg, und zwar schon wieder!), Corona-Tracking-App (ob es die wohl irgendwann gibt?), Corona-Letalität (absolut tödlich!), coronafreie Zone (aber wo?), Corona-Rezession (schon merkbar), Corona-Star (eindeutig Andrew Cuomo), Corona-Disaster (eindeutig der derzeitige POTUS).

Corona-Baby? (congerdesign/pixabay)

Ob es wohl eines Tages Menschen gibt, die Corona so schwer traumatisiert hat, dass sie selbst als Corona-Überlebende (mit Corona-PTBS) und ihre Kinder als Corona-Kinder in die Geschichte der Psychiatrie oder Psychologie eingehen? Denkbar wären auch noch Nachcorona-Kinder (analog zu Nachkriegskindern, also zwar von Corona-Eltern, jedoch nicht während der Pandemie geboren, beides äußerst suboptimale Begriffe) und Corona-Enkel (eindeutig griffiger). Langsam geht mir jetzt die Corona-Puste aus, Corona-Überdruss und Corona-Allergie flauen ab, und nun kommt auch endlich, endlich das erhoffte erlösende Corona-Flooding. Es scheint tatsächlich zu funktionieren. Die Coronisierung der Sprache verschwimmt angenehm vor meinen Augen und Corona ist mir plötzlich sowas von egal! Schluss mit Corona! Fürs erste jedenfalls. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen: BSg (soll es angeblich schon als Kurzformel unter Mails geben, weil MfG in Pandemiezeiten nicht mehr reicht).

Veröffentlicht unter Angst, Corona | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Innere Kraftorte – Die Hütte im Käuzchenwald

night globe (Drew Tilk/unsplash)

Letzte Nacht habe ich zum ersten Mal seit langem problemlos durchgeschlafen und hatte auch keine Alpträume. Ich war zwar im Traum wieder in London, aber das bin ich ohnehin oft und gern, und Corona spielte diesmal keine Rolle. Es war ein ganz normaler Traum, ein wenig verschroben wie immer und in keiner Weise bedrohlich. Mein Mann war auch da und blieb an meiner Seite. Vielleicht bin ich ja auf dem richtigen Weg? Ich habe den Traum auch gleich nach dem Aufwachen aufgeschrieben (ins Handy, weil es noch zu dunkel war für Stift und Papier), damit mein Unterbewusstsein keinen Grund mehr zur Klage hat.

Der Angst zuliebe praktiziere ich auch wieder jeden Tag „Guided Imagery“, tauche hinab in die Landschaften meines Unbewußten und versetze mich an einen meiner sicheren inneren Orte, die man zum Glück auch in Krisenmomenten noch aufsuchen kann. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass einem dort nichts, aber auch gar nichts Böses oder Schlimmes geschehen kann. Sie sind einfach nur heilende, stärkende innere Kraftquellen. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich erst jetzt wieder darauf besinne. Aber vielleicht wollten meine Alpträume mir genau das mitteilen?

night wood (Ron Otsu/unsplash)

Gestern Abend war ich wieder in der Hütte im Wald und bin dort auch eingeschlafen. Komischerweise sieht das Haus bei jedem Besuch etwas anders aus, was offenbar von der Tageszeit abhängt. Am liebsten besuche ich es nachts, wenn ich in Wirklichkeit schon in meinem richtigen Bett liege, damit ich an beiden Orten gleichzeitig gut einschlafen kann. Nachts ist die Hütte meist aus dunklem Holz. Tagsüber kann sie auch aus Stein sein und in den Bergen oder direkt am Wasser liegen. Ihr Anblick ist immer angenehm und mit dem Gefühl verbunden, nach Hause zu kommen.

night bird (Dominik VO/unsplash)

Wenn es Nacht ist, gehe ich zuerst durch den Wald, der nach Erde, Laub, Tannennadeln und Pilzen riecht, steige dann die moosbewachsene steinerne Treppe empor und komme schon bald zur Hütte im Käuzchenwald. Der Wald heißt so wegen der vielen Eulen und Käuzchen, die draußen in den Baumhöhlen wohnen – aber auch drinnen im Haus in den Regalen. Meistens erwarten sie mich schon und fliegen lautlos voran, aber manchmal sitzen sie auch nur oben auf den Ästen, schlafen oder beobachten mich. Wenn es mir zu dunkel wird, nehme ich meine Lichtkugel in beide Hände und lasse mich von ihr leiten.

mossy stairs  (Kamarudin Mahmood/unsplash)

Durch ein hölzernes Törchen betrete ich den Garten. Manchmal huscht der Fuchs vorbei, der hier lebt. Gelegentlich sitzt er auch auf dem Dach oder auf der Mauer. Ich gehe vorbei an Sträuchern und Büschen, an kleinen Bäumen und großblütigen hellen Blumen, die im Dunkel schwach leuchten, öffne die Eingangstür und trete in den Flur.

my old clock (BFL)

Er ist leer, bis auf eine große Standuhr mit messingfarbenem Ziffernblatt. Es ist dasselbe wie das meiner eigenen Uhr, die noch von meiner Urgroßmutter stammt, und zeigt ein Tier, das ich für einen Nachtfalter halte. Ihr Ticken klingt vertraut und ist eng verbunden mit meinem Vater, der diese Uhr immer sorgfältig mit einem Schlüssel, der im Inneren des Gehäuses liegt, aufzog. Er schenkte sie mir kurz vor seinem Tod. Ich begrüße die Uhr, steige die dunkle Holztreppe hoch, die aussieht wie unsere Treppe hier im Haus, und halte mich am Geländer fest. Es fühlt sich warm und lebendig an, und dann stehe ich auch schon vor der Tür, die ins Zimmer meines Vaters führt. Hier habe ich ihn vor einiger Zeit unverhofft im Traum gefunden und danach beschlossen, sein „neues“ Haus beim Visualisieren nochmals zu besuchen und genauer zu erforschen. Seitdem war ich schon mehrmals dort.

owl hut  (Viktor Talashuk/unsplash)

Ich schaue mich jedes Mal aufmerksam um und entdecke dabei immer etwas Neues. Ich bin dankbar, dass ich auch „nach innen“ gut sehen kann. Bis zu meiner Therapie, wo mir diese Bildreisen mehr geholfen haben als alles andere, war mir überhaupt nicht bewußt, dass es Menschen gibt, die diesen Zugang zu ihren inneren Bildern nicht haben. Vielleicht braucht man dazu viel Fantasie, vielleicht muss man dazu hochsensibel sein, vielleicht muss man dafür einfach nur offen sein. Ich weiß es nicht. Ich kenne es nicht anders und habe schon als Kind meine inneren Bilder genossen wie Filme, die an mir vorüberziehen, besonders kurz vor dem Einschlafen. In der Therapie habe ich dann gelernt, sie aktiv zu erkunden. Ich habe lange nicht darüber gesprochen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass mein Gegenüber damit oft nichts anfangen kann. Ich erinnere mich noch gut, wie fassungslos ich war, als die Lektorin, die mein Angstbuch betreute, meine Visualisierungen in der Therapie als „esoterisch“ abtat und komplett streichen wollte. Fast hätte mein Beharren auf meinem „esoterischen“ Kernkapitel mit der „Schwester Angst“ dazu geführt, dass mein Buch gar nicht erschienen wäre! Bis auf die etwas anderen, gedämpfteren Farben ist das Sehen beim Visualisieren ähnlich wie „richtiges“ Sehen oder das Sehen im Traum. Meine Traumfarben sind auch ziemlich gedämpft.

Mein Vater ist nie anwesend, wenn ich ihn auf diese Weise besuche, aber ich meine zu spüren, dass er noch vor kurzem da war, als habe er gerade erst das Zimmer verlassen. Ich kann noch sein Rasierwasser riechen und sehe seine Brille, Stift und Papier und seine Bücher auf dem Tisch am Fenster. Meistens hat er mir irgendetwas hingelegt als Willkommensgruß, etwa einen kleinen Stein oder eine Blüte.

almost Jinkins (Calum Lewis/unsplash)

Ich stelle mir gern vor, dass die Hütte an der Schwelle zur Anderswelt liegt. Die Wanderer zwischen den Welten können sie zwar nicht gleichzeitig besuchen, sondern nur abwechselnd, aber sie merken, wenn der andere da war. Auch ich bringe jedes Mal etwas mit, das ich meinem Vater auf die Fensterbank lege. Im Zimmer ist es so angenehm friedlich, dass ich mich meist erst eine Weile in den Sessel setze, um zur Ruhe zu kommen. Ich lasse meinen Blick über die Regale und Bilder schweifen und nicke den schläfrigen Käuzchen zu, die ich dort entdecke. Danach lege ich mich auf das Sofa, betrachte den altmodischen Lampenschirm neben den Büchern und schlafe dabei oft auch schon ein. Manchmal leisten mir die beiden längst verlorenen Katzen aus meiner Kindheit Gesellschaft, was mich immer sehr anrührt.

night bed (Annie Spratt/unsplash)

Wenn ich merke, dass keine Katze da ist und es einfach nicht klappen will mit dem Einschlafen, stehe ich wieder auf und gehe in den nächsten Raum. Die Tür ist mir erst bei einem meiner späteren Besuche aufgefallen. Der Raum dahinter liegt nicht im Wald, sondern am Meer. Er ist auch nicht mit meinem Vater verknüpft, sondern erinnert mich an das Zimmer einer Pension in Rye in Südengland, wo ich mit meinem Mann vor vielen Jahren einige Nächte verbrachte. „Jeake’s House“  war für mich ein magischer Ort, der mir schöne Träume und Nachtgeräusche schenkte und einst dem Schriftsteller Conrad Aiken gehörte. Das Bett im Seezimmer ist allerdings kein antikes Himmelbett wie das in „Jeake’s House“, sondern nur ein einfaches, großes Bett. Es sieht auch nicht immer gleich aus. Manchmal hängen Laternen an den Seiten oder meine Leuchtkugel wird zum Mondlicht auf dem Nachttisch.

moon ball (Beazy/unsplash)

Durch das offene Fenster weht angenehm frische, kühle Seeluft ins Zimmer. In der Ferne hört man das Meer und beim Morgengrauen die ersten Möwen, während auf der anderen Seite des Hauses immer noch der träumende Wald liegt. Die Lampe lässt an der Wand Schatten tanzen, und ich weiß, dass ich mich jetzt nur noch bequem auf die Seite zu drehen brauche, um ganz sicher einzuschlafen. (Beim Visualisieren liege ich meistens auf dem Rücken.) Bisher hat es immer zuverlässig geklappt, so dass ich nicht weiß, ob es nicht vielleicht noch weitere Türen gibt, weil ich das Zimmer bisher nie verlassen habe. Ab und zu höre ich hier auch noch die Stimme eines Pfaus, dessen Ruf wie Miauen klingt. Diese akustische Erinnerung stammt aus einem Urlaub in Frankreich, wo mein Mann und ich in einer alten Mühle wohnten. Ein weißer Pfau schlief auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes. Im Dunkeln schimmerte er wie ein Geist und manchmal miaute er.

Sea side (Annie Spratt/unsplash)

Hochsensible Sinne sind ein wahrer Schatz beim Visualisieren und lassen sich allesamt leicht triggern und sehr gut trainieren. Um meine eigenen inneren Bilder aktiv zu verstärken, habe ich auch diesmal nach Fotos gesucht, die meinen Fantasiegebilden so ähnlich wie möglich sind. Während der Therapie habe ich meine inneren Szenen sogar gezeichnet, was sie noch intensiver machte. Wenn ich die Bilder betrachte, präge ich mir die Einzelheiten noch genauer ein, so dass ich sie in meine Reisen mitnehmen kann, und die Gerüche des Waldes und des Gartens kann ich tagsüber gut hier im Garten oder in meinen Erinnerungen finden und sammeln. Hier gibt es viele Schattenstellen mit Farnen, Moos und Hostas. Um mir die Käuzchen besser vorstellen zu können, habe ich mir im Internet Filme angesehen. Wenn sie zahm sind, lassen sie sich gern streicheln, und seitdem fliegen sie mir auch zutraulich auf den Schoß oder auf die Schulter und schmiegen ihre Köpfchen in meine Hand. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Nachtvögel, genau wie mein Vater, und an meinen Wänden hängen viele Eulenbilder.

moon owl (Ray Hennessy/unsplash)

Veröffentlicht unter Angst, Corona, Imaginieren, Natur | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , | 2 Kommentare