Das Kind braucht Luftveränderung (8) – Rieke

Kinder (Annie Spratt/unsplash)

Der Beitrag meiner Freundin Effi zu ihrer „Kinderverschickung“ als Kleinkind nach Bonndorf hat inzwischen viele ehemalige „Bonndorfer Kurkinder“ erreicht, vor kurzem auch Rieke, die ihre eigenen Erinnerungen an Haus Johnen erzählt und mir erlaubt hat, ihren Brief in meine kleine Serie „Das Kind braucht Luftveränderung“ aufzunehmen.

Das Thema hat erst vorige Woche wieder einen Schub bekommen durch einen längeren Bericht im  Fernsehen und Radio (in dem auch mein „Kurort“ Niendorf vorkam) zum frisch erschienenen Buch von Lena Gilhaus „Verschickungskinder: Eine verdrängte Geschichte“. Langsam lichtet sich das Dunkel aus verlorenen (!) und verschwundenen (!) Akten, Nichtwissenwollen und Leugnen. Inzwischen weiß man, dass es sogar Todesfälle in einigen Heimen gegeben hat. 

Ich muss gestehen, dass mich bei den Berichten immer noch schaudert. Auch beim Lesen von Riekes Brief. Plötzlich habe ich wieder die klare Erinnerung an die eklige Schokoladenpuddingsuppe, mit der man uns so oft malträtiert hat. Einen ganzen Suppenteller randvoll mit purer brauner Scheußlichkeit! Auch die welken Salatblätter mit Ravioli hatten wir auf dem Teller. Wer hat sich bloß diese schauderhaften Gerichte ausgedacht, mit denen wir armen Kinder unbedingt zunehmen oder abnehmen sollten? Wir waren ja immer „falsch“, egal, wie wir aussahen. Zu dick, zu dünn, zu blaß, zu wild, zu kräftig, zu schüchtern. Millionen Kinder wurden künstlich für krank und kurbedürftig erklärt. Jahrzehntelang war ich der Meinung, als Kind „zu zart“ gewesen zu sein. So zart, dass ich in Kur musste. Ich brauchte dringend „Reizklima“, gute Seeluft. Und wir waren die Generation, die sich nicht gewehrt und nicht beklagt hat. Wir waren ja Schlimmes gewöhnt.

Der Ekel vor vielen Speisen ist mir bis heute geblieben. Bei mir sind es vor allem Sülze, noch jetzt schüttelt es mich, Büchsenmilch (als Sauce über dem Nachtisch) und der für meine Nase irgendwie schmutzig-erdige Geruch, der aus den riesigen Blechkannen mit dünnem „Kinderkaffee“ aufstieg. Davon wurde mir im Heim jeden Morgen und Abend schlecht. Ich habe mir schon überlegt, ob ich es mir antun soll,  mir dieses Gebräu noch einmal herzustellen und daran zu riechen. Aber diesmal wohl dosiert und freiwillig, als Erinnerungspforte sozusagen, wer weiß, was mir dann noch alles einfällt. Trinken werde ich es bestimmt nicht! 

Riekes Erinnerungen – Haus Johnen, Bonndorf

„Liebe ehemalige Verschickungskinder,

wie froh ich doch bin, endlich diese Seite gefunden zu haben… Menschen, die auch als Kurkind im Haus Johnen in Bonndorf waren. Die Berichte über die Örtlichkeiten im Haus haben geholfen, bei mir einige Erinnerungstürchen etwas weiter zu öffnen. Danke dafür. Trotzdem sind meine Erinnerungen insgesamt leider auch immer noch sehr bruchstückhaft.

Ich war mit 9 oder 10 Jahren im Haus Johnen, irgendwann zwischen 1973 und 1974. Es gib bei der DAK und in der Familie leider keine Unterlagen mehr, aber es muss in diesem Alter gewesen sein, denn ich war bei der Gruppeneinteilung an der Grenze zwischen den großen und den kleinen Kindern.

Bei den Kleinen

Es wurde die Gruppe der kleinen Kinder, die zum Spielen ständig mit Bauklötzen lärmend, aber ansonsten fast still im Speiseraum blieb und kaum rauskamen. Stundenlang habe ich als viel älteres Kind in dieser „Spielzeit“ sinnentleert allein am Esstisch gesessen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich am zweiten Tag mutig bei der Aufsichtstante über die Langeweile beschwert habe und die Gruppe wechseln wollte. Bekommen habe ich nur Papier und Stifte zum Malen. Ich fühle heute noch die verzweifelte Wut in mir und wie ich versucht habe, ja nicht zu weinen…

Ich erinnere mich an „Heilgymnastik“ im Garten mit Blick zum Haus, ohne dabei Laufen zu dürfen. Rumpfbeugen kann ich bis heute nicht, auch wenn Sie mir „helfen“ wollten, die Hände auf den Boden zu kriegen. Es hat sehr wehgetan…

Ravioli und welkes Salatblatt

Ich erinnere mich an etwas Ähnliches wie Ravioli mit welkem Salatblatt. Mir war übel vom Geruch und dem ekeligen Aussehen. Im Essraum war schon lange kein anderes Kind mehr. Es wurde dunkel. Ich saß wie gelähmt auf der Bank am Tisch gefangen vor dem Teller. Kein Ausweg…  laute Drohungen… Blackout. Ich erinnere, wie ich mich auf Klo übergebe und sofort spüle und dann hinterher die tiefe Erleichterung und ein Glücksgefühl, das sich der Magen zu beruhigen beginnt… Blackout… Ich erinnere mich sehr verschwommen an einen kleinen dunklen Abstellraum oder Verschlag mit Holztür, in dem ich von einem Mann eingesperrt wurde… Blackout…

Außerhalb des Hauses erinnere ich eine Fahrt zum Schwimmbad, aber nur die Tür in die Schwimmhalle und ein kleines Stückchen einer Wanderung auf dem Philosophenweg – alle Kinder schön geordnet an den Händen gefasst.

Ein Junge hatte Geburtstag. Sein Postpaket hat einfach eine der Tanten geöffnet, das Geschenk noch verpackt einbehalten (bis zu Abfahrt) und die süßen Sachen an alle verteilt. Einige Kinder wollten die gestohlene Schokolade nicht. Die hat die Tante dann gegessen.

Mein Bett stand im Schlafraum gleich links an der Wand bei der Tür. Nach dem „Ravioli-Tag“ wurde ich morgens als krank eingestuft. Ich musste im Bett bleiben und durfte sogar mein mitgebrachtes Buch lesen. Aber ich hatte nach den ganzen schlimmen Erlebnissen einfach nur noch Angst… den ganzen Tag allein im Zimmer mit ständig wachsamen Ohren, ob jemand Böses wiederkommt… Nur nicht einschlafen, um nicht überrascht zu werden… Es waren mindestens 2-3 Tage. Irgendwann ist auch tatsächlich ein Arzt gekommen… Diagnose unbekannt.

Was ich nicht erinnern kann: Die genauen Örtlichkeiten im Haus, Gesichter, Namen, der übliche Tagesablauf, andere Kinder. Wie lange war ich überhaupt da? Zwei Wochen? Länger?

Rettung

Denn ich hatte Glück… Ich habe es tatsächlich geschafft, mindestens zwei Briefe über die schrecklichen Zustände im Haus Johnen mit dem Hilfeschrei „Holt mich sofort hier raus!“ nach Hause zu schicken. Ich weiß sicher, dass ich Sie im Essraum und vermutlich während der „Spielzeit“ auf meinem Malpapier geschrieben habe. Vielleicht war die Gruppe mit den kleinen Kindern am Ende sogar meine Rettung. Nur wie ich es geschafft habe, sie abzusen-den, bleibt ein großes Rätsel.

Meine Eltern haben mich nach den Briefen tatsächlich sehr schnell und gegen alle Widerstände der DAK und des Kurheims vorzeitig in Bonndorf mit dem Auto abgeholt. Anschließend mussten sie sich dann monatelang gegen horrende Kostenrückerstattungs-forderungen der DAK wegen „eigenmächtigem Kurabbruch“ wehren. Der Schriftverkehr und meine Briefe sind leider nicht mehr auffindbar. Die DAK hat nach 30 Jahren alle Schreiben vernichtet.

Für mich ging das Leben zu Hause danach einfach weiter, als sei nichts geschehen. Eine tatsächliche Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse im Haus Johnen gab es damals üblicherweise nicht. Heute bin ich weiter, aber die Erinnerungslücken und Auswirkungen auf mein ganzes Leben sind immer noch zu groß und spürbar, um mit diesem unmenschlichen Umgang Frieden machen zu können.

Rückblick

2007 war ich zur Spurensuche in Bonndorf und bin noch einmal den Philosophenweg gegangen. Als ich auf einer Bank Pause gemacht habe, bin ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch gekommen, der damals Arzt in Bonndorf war. Er sagte, dass sich die Kurheime tatsächlich alle kaum voneinander unterschieden hätten. Es sei eine schlimme Zeit gewesen und oftmals wurden auch die Ärzte viel zu spät von den Heimleitungen gerufen, wenn Kinder krank oder verletzt waren.

Es ist wichtig, dass wir damaligen Kurkinder lesen können, was vielen von uns in der ein oder anderen Weise passiert ist. Und je mehr Geschichten erzählt werden, desto einfacher wird es für uns Kurkinder hoffentlich zu begreifen, dass uns die schrecklichen unmenschlichen Dinge nicht passiert sind, weil wir schlechte Kinder waren. Wir sind nicht selbst schuld an dem, was wir in Kindererholungsheimen wie dem Haus Johnen erleben mussten.

Es war das Kinderkurdenken der damaligen Zeit und wir entsprachen einfach nicht der gewünschten Sorte Kind, das nie vor Heimweh weint, nie auf Klo muss, nie krank wird, auf Kommando glücklich einschläft, jedes billig schreckliche Essen mit Hochgenuss isst, jede angeordnete Aktivität gehorsam begeistert bejubelt und dick-gesund wieder fröhlich nach Hause fährt.

Ich bin sehr froh, dass ich mit diesem Zeitzeugen sprechen konnte. Aber es reicht nicht.
Mir fehlen noch Puzzleteile. Vielleicht hat jemand noch Fotos oder genauere Beschreibungen vom Heim. Ich würde mich darüber sehr freuen! Ich wünsche Euch alles Liebe und Gute.
Herzliche Grüße
Rieke“

Kinder (Jamie Taylor/unsplash)

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Rooms and Stories – Flughafen Düsseldorf

July she will fly, wie bei Simon und Garfunkel. Kurz nach dem bestandenen Abitur geht sie in das einzige Reisebüro des Ortes und bucht für den 8. Juli einen Charter-Flug mit Dan-Air von Düsseldorf nach London Gatwick, obwohl ihr deutscher Freund gedroht hat, sich zu trennen, falls sie es wagen sollte. Sie kann es nicht ausstehen, wenn man sie zu etwas zwingen will, das werden die anderen nie verstehen. Immerhin hat sie P. seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und er kennt ihre Seele besser als jeder andere. Er kennt sogar ihre Träume. Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne. Sie bucht. Ihr deutscher Freund trennt sich. Aber nicht für immer. Noch nicht.

Eigentlich hat sie schon Weihnachten fliegen wollen. Christmas in England must be totally different. Mit Mince Pies, Christmas Pudding, Pantomimes und Turkey, aber außer P. und ihr selbst waren alle dagegen. Zu Weihnachten muss die Familie zusammen sein, vor allem in Deutschland! Jetzt ist schon wieder Sommer, ein Jahr ist vorbei. Ob P. sich sehr verändert hat? So viele dicke Briefe haben sie einander in der Zwischenzeit geschrieben, haben sich immer besser kennengelernt, Gedichte und Geschichten ausgetauscht und füreinander ausgedacht, von Rose, Fuchs und Reh, Frosch und Brausekönig. Schliefst du mir am Halse ein, du in dem Schäfchenbaum, so wär ich ruhiger. Doch sehnsuchtsvoll zu schreiben ist nicht dasselbe wie einander zu sehen und zu umarmen. Und Träume verwehen schon am Morgen. Du schliefst am Strande ein. Ich auf dem Meere. Stiegen die Dünste auf, warn beide verschwunden.

Sie hat ihm Bilder gemalt, auf dickes und dünnes Papier, auf Umschläge, unter Geschriebenes. Wenn sie doch schöner zeichnen könnte! Alles würde sie malen, besonders sein Lächeln damals in der Brunnenkopfhütte. Sie malte die Stimme der Früchte, Perlenumrisse, Eisdornen, die Morgenfrühe. Doch es werden nur kleine Drachen und Glasschnecken, so zart, dass man sie auf keinen Fall anrühren darf. Sie haben feinste Antennen und spüren bereits, wenn man nur an sie denkt. Besonders im Dunkeln. Nacht ist wie ein stilles Meer.

Immer wieder Zweifel, sobald ein Brief länger über den Kanal braucht. „Du, bist du bitte ganz ehrlich in deinem nächsten Brief und sagst mir, ob ich kommen soll oder nicht?“ Für sehr umfangreiche Umschläge muss sie jedes Mal Nachporto bezahlen, doch das tut sie äußerst gern. „Willst du mich überhaupt noch sehen? Ich kam mir mit meinem langen Brief so vor, als ob ich mich dir aufdränge.“ Natürlich will er sie noch sehen. Er hat nur nicht so viel schreiben können, weil er in Cambridge wichtige Prüfungen bestehen musste. Im Mai hat sie beschlossen, dass sie außer Germanistik nun doch auch Anglistik studieren will, es hat auch ein ganz winziges Bisschen mit dir zu tun, und bekommt den gewünschten Studienplatz in Köln. Am Tag, als sie den Flug bucht, schreibt sie nachmittags an die ZVS nach Dortmund. Nie mehr Klosterschule. Ein Zimmer in einem Stundentinnenheim ist ihr schon so gut wie sicher. Vom Dorf in die Großstadt. Von Deutschland nach England. So viele Veränderungen.

Passenger Ticket and Baggage Check for use on Student Charter Flights. Es ist ihr erster Flug, noch dazu allein in ein fremdes Land mit einer anderen Sprache, sie ist gespannt und aufgeregt. Ihr Vater ist noch gespannter, dreht während der Fahrt nicht nur am Lenkrad und schafft es fast, dass sie den Flug verpasst. Dabei waren sie so früh losgefahren, obwohl es nicht weit ist nach Düsseldorf, aber Vater verfranst sich hoffnungslos. Zuerst kurven sie eine Stunde in Krefelder Vororten, dann umkreisen sie den Flughafen wie eine Fata Morgana. Vater sieht aus, als würde er jeden Moment explodieren, und sie muss ihn beruhigen. Später wird er ihr gestehen, dass er Angst hatte, die Maschine mit seiner Tochter könne abstürzen. Es hat mit dem Familienkrach am Vorabend zu tun, der Grund ist vergessen, die schlechte Stimmung nicht, danach plagt ihn sein Gewissen, weil er den unnötigen Streit angefangen hat. Und das am Vorabend einer wichtigen Reise! Wahrscheinlich war er da schon nervös. Irgendwie schaffen sie es in den Flughafen. Beim Abschied muss sie schlucken. Abschiede hassen sie beide. Besonders voneinander. An Bahnhöfen geht er später immer sehr schnell weg, damit er seine Tochter nicht im Zug davonfahren sehen muss. Abschiede sind für ihn kleine Tode. Für sie auch.

Es ist ihr erster Aufenthalt in einem Flughafen. Alles ist neu und aufregend, die riesigen lichtdurchfluteten hohen Räume, die unwirklichen Stimmen aus den Lautsprechern, die fremden brummenden, sirrenden, rauschenden Geräusche der Flugzeuge, die heftigen Geruchsmischungen aus Kaffee, Parfums, Deos, warmem Essen und Reinigungsmitteln. Und die vielen Wörter, die auf sie einprasseln. Check-In, Sicherheitskontrolle, Personenkontrolle, Gepäckkontrolle, Aufgabegepäck (der rote Koffer), Handgepäck (die braune Handtasche), Metalldetektor, Boarding, Gates, Lounge, Flugsteig, Startbahn. Schade, dass sie die neue Erfahrung mit niemandem teilen kann.

Sie kommt sich gleichzeitig mutig und verloren vor, wandert jung und vorsichtig umher, blickt neugierig in die Book Stalls und den Duty Free Shop, kauft nichts, berührt nichts, alles wirkt so aufgeräumt, ordentlich und geräumig. Und vor allem so riesig!

Ihre Reiselektüre erweist sich als Fehlschlag. Warum hat sie auch ausgerechnet „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff mitgenommen! Allen Erwartungen zum Trotz verspürt sie immer noch keine Angst vor dem Fliegen, auch nicht später in der Wartelounge, denn sie liebt Höhen und kann es kaum erwarten, die Welt von oben zu betrachten. Wünsche wie die Wolken sind. Endlich wird sie den Himmel richtig sehen, vielleicht sogar Brechts besondere Wolke entdecken, sehr weiß und ungeheuer oben, daran kann man sie erkennen. Hoffentlich bekommt sie einen Fensterplatz. Obwohl es jetzt nicht mehr lange dauert, ziehen sich die Minuten zu Ewigkeiten. Heute Abend wird sie bei P. sein, sie werden am Fenster stehen und in die Londoner Nacht schauen. Den Mond sehen. Gedichte hätte sie mitnehmen sollen. Oder seine Briefe. Zumindest einen. Von den ganz dicken. Mit Nachgebühr. 

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Rooms and Stories – when thou art gone

Hands (Rémi Walle/unsplash)

Krefeld Hauptbahnhof, September 1973. Sie saßen auf der grauen Bank, ganz nah beieinander, hielten sich an den Händen und schwiegen. At the still point of the turning world. Die Luft um sie herum war voller Geräusche. Gongs und Ansagen aus Lautsprechern. Leise und laute Fahrgastgespräche. Schleifende Güterzüge. Quietschen, Rattern, Bremsen. Bahnsteig zwei, bitte Vorsicht. Der Schnellzug wird voraussichtlich fünfundzwanzig Minuten später eintreffen. Bitte einsteigen, Türen schließen, der Zug fährt sofort ab. Achtung, Bahnsteig drei, Zug fährt durch. Ihre Züge waren noch nicht da, etwas Zeit blieb ihnen. Sie rückten noch enger zusammen, sie legte den Kopf an seine Schulter, fühlte sich unglücklich und verzweifelt. Jetzt war es zu spät, sie konnte nichts mehr ändern. Sie hatte nicht erwartet, dass es so weh tun würde. Die beleibte alte Dame, die sich neben ihnen niedergelassen hatte, rief immer wieder ungeduldig nach einem Gepäckträger. Passagiere hasteten und schlenderten vorbei. Sein Zug hatte Verspätung, ihr Zug kam zu früh. At the still point of the turning world.

Trink Ludwigsbrause, das köstliche Getränk mit Pittgewürz, dachte sie. Trink Ludwigsbrause. Mit Pittgewürz. Pittgewürz. Pitt.

Ihr Zug fuhr zurück nach Kempen, seiner würde ihn zur Fähre bringen, um halb eins war er in Ostende, spätabends dann in London, wo man ihn vom Bahnhof abholte. Sie wussten nicht, wann sie einander wiedersehen würden, und waren betrübt, weil nichts, aber auch gar nichts, so schön und wunderbar gewesen war, wie sie es sich vorgestellt und erhofft hatten. Vor allem der letzte Abend. Fast hätten sie alles ruiniert und einander verloren.

Beim Abschiednehmen wollte sie ihn richtig küssen, doch es ging nicht. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten und hoffte, er würde es nicht merken. Beim letzten Lebewohl standen sie in ihren Zügen hinter den trüben Fenstern und hoben still die Hände. Noch konnten sie sich sehen. Noch. Bald nicht mehr. Plötzlich war ihr, als würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen. Alles hatte sie falsch gemacht. Er hätte nie herkommen dürfen, es war ein Fehler gewesen, doch sie hatte ihn unbedingt wiedersehen wollen und alles riskiert. Und jetzt war es zu spät. Am Morgen hatte er ihr noch ein kleines Geschenk gegeben und ein Gedicht in einem Briefumschlag. „Aber das darfst du erst lesen, wenn ich weg bin.“ Music when soft voices die.

Schon ruckte ihr Zug los und sie sah ihn nicht mehr. Die ganze Zeit auf der Bank hatte sie sich beobachtet gefühlt, genau wie in den Tagen zuvor im Dorf, und tatsächlich, ihr Gefühl hatte sie auch diesmal nicht getrogen. Selbst auf dem Krefelder Bahnhof gab es jemanden, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Ein großes blondes Mädchen aus der Parallelklasse. Sie befand sich nun im selben Abteil und grinste wissend, hatte aber genug Anstand, sie nicht zu stören. Morgen würden es wohl auch die anderen erfahren, doch das war ihr egal. Rose leaves, when the rose is dead.

Bockwürste entstehen aus toten Eidechsen, dachte sie. Aus toten Eidechsen. Toten Eidechsen. Eidechsen. Echsen. Nicht aus Rosen. Ich bin für meine Rose verantwortlich.

Zu Hause angekommen, ging sie gleich auf ihr Zimmer. Nur Chris, den kleinen getigerten Kater, nahm sie mit. Er war der Einzige, der sie ablenken konnte. Und das Buch, das P. ihr geschenkt hatte: „Cider with Rosie“ von Laurie Lee. Vorn hatte er ein Rosengedicht für sie hineingeschrieben. Die Rose blüht, ich bin die fromme Biene. Es war falsch gewesen, ihn hierher kommen zu lassen, so schrecklich falsch! In das Dorf, in dem sie jeder kannte, in dem nur wenige Straßen weiter ihr deutscher Freund wohnte, der leider allgegenwärtig war. Das Dorf, in dem jeder alles sah. Sie hatten keine Chance gehabt. Keinen Moment lang hatte sie sich frei gefühlt, alles troff vor Erinnerungen, überall lauerten Spitzel. Natürlich auch in der Eisdiele, auf die sie sich so gefreut hatte. Dort hatten gleich zwei Klassenkameradinnen hinten in der Ecke gesessen, eifrig tuschelnd, die eine hatte gar mit dem Finger auf sie gezeigt. Alles in ihr verspannte sich. Sie hatte ihren englischen Freund mitten ins Feindesland kommen lassen, wo er arglos und verliebt umhergegangen war, ohne die unzähligen Blicke und Erinnerungen auch nur zu bemerken, die sie so quälten. Hier war kein Zentimeter unbelastet, nicht mal in der Natur. Auch nicht in den Hinsbecker Höhen und an der Niers. Vor allem nicht im Gelände am Schwimmbad. Tausendmal war sie schon dort gewesen. Aber mit jemand anderem.

Als sie am Abend ihren deutschen Freund traf, wurde sie mit Klagen und Vorwürfen überschüttet. „Du liebst ihn wohl immer noch!“ Er war außer sich. „Du musst endlich den Kontakt mit ihm abbrechen!“ Sie war zu müde, um sich zu verteidigen, ihr war nur noch schlecht. Er hatte trotz ihrer Vereinbarung angerufen, als P. da war, hatte sie sogar von der Schule abgeholt und war mit ihr ins Feld gefahren. Ihr Gewissen war so verwirrt, dass sie nicht mehr gewusst hatte, wen sie mit wem betrog. Falls Liebe denn überhaupt Betrug sein konnte. Und es war ja auch nichts passiert.

And so my thoughts when thou art gone. Ich habe den Falschen verraten, dachte sie. Ich habe einen schrecklichen, unverzeihlichen Fehler gemacht. Und jetzt ist er weit fort und entfernt sich mit jeder Minute noch mehr von mir.

Erst in ihrem Zimmer ging es ihr besser. „Ich habe ihn sehr lieb gehabt, als er so still auf meinem Bett saß, die Beine auf dem Tisch, den Block auf den Knien, die Augenlider fast geschlossen, ganz konzentriert“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „So schön sah er aus.“ Er hatte ihr bei den Englischhausaufgaben geholfen, eine Zusammenfassung der Kurzgeschichte „Désiree’s Baby“ für sie geschrieben. With no offspring of their own, Mr. and Mrs. Valmondé  fing es an. Das Wort offspring kannte sie bis dahin noch gar nicht. Sie würde den ganzen Text auswendig lernen und fing gleich damit an.

Spätabends saß sie unten im Wohnzimmer neben dem schwarzen Telefon und wartete auf den Londoner Anruf, war erleichtert, dass ihrem englischen Freund nichts passiert war, stellte sich vor, wie er gemütlich auf dem Sofa saß, die Farbe wusste sie nicht, vielleicht braun oder dunkelblau, und starken Tee mit Milch trank. Danach wurde sie ruhiger. Sie würde ihm schreiben, das war sicher. Und er würde ihr schreiben, das hatte er versprochen, sie freute sich schon auf die Briefe. Hoffentlich waren es viele, viele, viele. Zu Weihnachten oder auch erst im nächsten Jahr würde sie zu ihm nach England fliegen, egal, was alle sagten. Nichts würde sie abhalten. Gar nichts. Und dann, weit weg von ihrem Dorf, würden sie alles richtig machen.

gone (Lou Baier/unsplash)

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Rooms and Stories – Said the Fox

Während der beiden Wochen in Oberammergau wurde ihr Leben unmerklich neu justiert. Der junge Engländer war etwas älter als sie und studierte in Cambridge Philologie und Germanistik. So einen Seelenfreund wie ihn hatte sie noch nie vorher getroffen. Jemand, der auf der Gitarre „Something“ und „Jealous Guy“ für sie spielte und auf dem Plattenspieler „Heart of Gold“ (was hatte Neil Young nur für eine merkwürdig hohe Stimme), der wie sie die Beatles und Simon and Garfunkel liebte. Jemand, der Tagebuch führte und seine Träume aufzeichnete, ohne dadurch auch nur im Geringsten lächerlich zu wirken. Bisher hatte man sie immer für verrückt erklärt, weil sie nachts so ausgiebig träumte und sich morgens sogar noch daran erinnerte. „Du brauchst dringend einen Psychiater“, sagte ihr deutscher Freund. „Das ist nicht normal.“ Er selbst konnte sich an seine Träume nie erinnern, was sie wiederum für nicht normal hielt, aber das sagte sie vorsichtshalber nicht. Jeden Morgen war der junge Engländer DJ und legte „Freßmusik“ für die Jugendhausgäste auf, meist Songs, von denen man garantiert sofort wach wurde, etwa „Whisky in the Jar“ und „The Lion sleeps tonight“ oder „Crocodile Rock“, und sie freute sich schon darauf, ihn nach der langen Nacht endlich wiederzusehen. Meist war er natürlich beschäftigt, doch zwischendurch fanden sie immer wieder Zeit füreinander. Manchmal nahm sie auch an den Exkursionen nicht teil, um bei ihm bleiben zu können. Aus diesem Grund war sie nie in Schloss Linderhof und bestieg auch nie den Kofel, aber das war es wert.

P. hörte ihr nicht nur zu, er sprach auch über seine eigenen Nachtgespinste. Mit ihm konnte sie über C.G. Jung und meaningful coincidences reden, denn die Liebe zur Psychologie hatte sie schon damals. Sie hatte zu Haus bereits angefangen Freud zu lesen, immerhin beschäftigte der sich mit Traumdeutung und hatte ein dickes Buch darüber geschrieben, doch derartige Lektüren waren ein einsames Unterfangen in ihrem konservativen niederrheinischen Dorf. In Oberammergau kaufte sie sich in der Buchhandlung Theodor Hanika „Sprechstunden für die Seele“ von Eric Berne, „Spezialist für Psychiatrie und Psychoanalyse“, und las es während der Heimfahrt fast aus. Als sie etliche Jahre später als Psychiatrie-Übersetzerin an der Uni Köln das Kapitel über Bernes Transaktionsanalyse übersetzte, dachte sie sofort an Oberammergau und musste die ganze Zeit lächeln.

Gleich nach der Heimkehr erstand sie im einzigen Schreibwarenladen des Ortes ein dickes leeres Buch, orangerot, eine andere Farbe hatte der Laden nicht vorrätig, und begann, alles ihr Wichtige aufzuschreiben. Vor allem die Nachtgespinste, denn sie hatten es verdient. Mit wenigen Pausen führte sie danach regelmäßig Tagebuch, später schrieb sie auch direkt ins Handy (Träume sind am klarsten, wenn man gerade aufgewacht ist) oder in den Computer. Ihr englischer Freund war der erste, der sie Bee nannte, und der einzige, der ihr ein Buch über Bienen schenkte. Mit Zeichnungen, denn Bücher ohne Bilder sind keine richtigen Bücher. Sie nannte ihn P. oder Pitt und schenkte ihm Tütchen mit Pit Brause. Im Garten in Oberammergau zeigte er ihr das Bienenkapitel in „Winnie-the-Pooh“. You never can tell with bees. Zuerst verstand sie take statt tell, aber das störte ihn nicht. Als sie fat und thick verwechselte, korrigierte er sie sanft, und danach verwechselte sie es nie wieder. Aber dass sie statt jealous guy zuerst yellow sky verstand, verriet sie ihm lieber nicht.

P. liebte Bücher, las Gedichte und kannte sich aus in der Artusepik, gelegentlich entdeckte sie ihn gar als jungen Prinzen inmitten der Tafelrunde. Er kannte sie alle, Parzival, Herzeloyde, Igraine, Merlin und Morgane, den grünen Ritter, Lancelot und Guinevere, die schöne Isolde, den mutigen Tristan und den gehörnten Marke. Und er kannte König Artus. Höchstpersönlich. Aus nächster Nähe. Und Merlins Grab und die Weißdornhecke im Wald Brocéliande. Von P. hörte sie zum ersten Mal von Minnesang, den Winter- und Sommerliedern von Neidhard von Reuental, über die sie später eine Seminararbeit schreiben sollte, und erfuhr die wahre Bedeutung von muot und frôuwe. Bisher kannte sie nur das Nibelungenlied (in hochdeutscher Übersetzung) und hatte sich beim ersten Lesen heimlich ein winzig kleines Bisschen in den jungen Giselher verliebt. Schade, dass er auf so tragische Weise ums Leben kam. Am schlimmsten fand sie den gemeinen Betrug an der starken Brunhilde. Das war so demütigend, kein Wunder, dass sie den Kerl an den Wandnagel hängte. Siegfried und Gunther waren ihr herzlich egal. Später studierte sie wie P. Mittelhochdeutsch, besuchte im ersten Semester gleich ein Seminar über das „Nibelungenlied“, Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, und wählte als Staatsexamensthema seinen „Tristan“. Dèr werlde und disem lebene enkumt mîn rede niht ebene.

P. war jemand, von dem man ungewöhnliche Begriffe, Wortspiele und Namen lernen konnte, seine Wortfindigkeit und seine erfrischenden Gedankensprünge waren überwältigend – er erfand sogar nicknames für ihre Eltern: Anna Pfirsich und Kurt Sühngut. Er war jemand, der ihr Möglichkeiten zeigte, die wirklich zu ihr passten, was neu und angenehm war, denn bisher erwarteten Eltern und Freund vor allem, dass sie klaglos fremden Wünschen entsprach. Volksschullehrerin sollte sie werden, was sie schon jetzt mit Panik erfüllte. Aber das ging schnell und sie konnte während des Studiums sogar zu Hause wohnen bleiben. Dabei wollte sie viel lieber richtig studieren und ganz schnell ganz weit weg! Hier war jemand, der ihr das zutraute, ihr sogar dazu riet, sie bestärkte in ihrem eigenen Gefühl. Jemand, der abgedreht und einfallsreich war, Doublethink beherrschte und in verspielten Schwüngen und kühnen Hakenschlägen dachte, auch wenn sie seinen Humor und seine Ironie zunächst so gar nicht verstand, weil sie das Leben viel zu ernst nahm. Hier war jemand, der zärtliche Vorsicht oder vielleicht auch vorsichtige Zärtlichkeit in ihr Leben brachte. Das war sie nicht gewöhnt. Jemand, mit dem sie sich Dinge traute, die sie sonst nie gewagt hätte. Rollenspiele waren ihr ein Graus, aber am Gruppenabend in Oberammergau spielte sie gemeinsam mit ihm ein altes Ehepaar, das schon seit Jahrzehnten zusammen war, was ihr erstaunlich leichtfiel und an seiner Seite sogar Spaß machte.

Hier war jemand, der ihr freundlich den Unterschied zwischen sympathy und pity erklärte, bei dem das Wort seltsam einen ganz eigenen, seltsamen Klang bekam und die Farbe der Frösche noch grüner wurde. Jemand, der ihr zaghaftes Englisch förderte, ein Muttermal auf dem linken Schulterblatt hatte, von einem Hauch Cedarwood umgeben war und dessen Haar nach Vanille, Nüssen und Karamell roch, was sie verwundert ihrem Tagebuch anvertraute. Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber es stimmt! Jemand, der bei herzhaftem Gähnen einem jungen Fuchs mit spitzen kleinen Eckzähnen ähnelte und beim Lächeln manchmal zuerst den linken Mundwinkel hochzog. Jemand, der Rehe mochte und wach und munter war, so lange er genug geschlafen hatte, was im Normalfall offenbar sehr lange dauern konnte. Jemand, der wie sie zu lesen vermochte, was der Wind in den Sand schrieb. Sie sprachen über Max Frisch, Theodor Storm und Arthur Schnitzler, drei Schriftsteller, die sie später im Studium intensiv erforschen würde. Sie kannten, mochten und bedauerten Reinhard und Elisabeth, Hero und Leander, Romeo und Julia und Pyramus und Thisbe. Das hätte ihnen eigentlich schon damals zu denken geben müssen.

Neben P. stand sie eines Abends bei der Besteigung der Klammspitze in Waldes Schatten wie an des Lebens Rand. Und frühmorgens in der Brunnenkopfhütte sah sie ihn im Traum lächeln, während der Bergnebel dick und weiß durch das geöffnete Fenster ins Zimmer quoll. Es war so viel schöner, ihn schräg von oben aus der Höhe des Etagenbetts zu betrachten als einfach nur zu schlafen wie alle anderen, doch sie gab Acht, ihn nicht zu intensiv anzuschauen, denn das hätte ihn möglicherweise geweckt. Sie dachte, dass ihre blauen Augenblicke dazu wohl imstande sein könnten.

In Oberammergau fand sie den Kompass, der sie schon bald nach Köln und England führen sollte. Als sie nach fünfzig Jahren unerwartet ihre alten Briefe an ihn liest, denn er hat sie alle aufbewahrt (genau wie sie seine, und es sind viele!), überrascht sie die ferne ruhige, sichere, weiche Mädchenstimme. Auf den Umschlägen sind Zeichnungen von Kupferraupen, Blechratten, Bleivögeln, Goldmücken, Porzellanfischen und Traumkatzen zu sehen, gleich neben tiefsinnigen oder lustigen Sätze wie Les fleurs sont très contradictoires! oder Alle Sterne sind voll Blumen oder Pepsi Cola is best oder Setze mir ein Denkmal, cher, ganz aus Zucker, tief im Meer oder Ma rose, elle est unique au monde, denn sie war nicht nur das Reh, sondern auch die Rose, für die man verantwortlich war und die man vor Zugwind schützen musste. On ne voit bien qu’avec le cœur. Damals war das noch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte. Und P. war der Fuchs, der gezähmt werden wollte, daher zähmte sie ihn. Zähmen, das bedeutet, sich vertraut machen. 

When the hour of departure drew near… “Ah”, said the fox. “I shall cry.” So geschah es. Doch das kam erst später. Da weinten beide. Der Fuchs und das Reh. Und der Frosch und die Rose. Und sogar die Bienen.

Der Abschiedsabend im leeren Aufenthaltsraum muss so geschmerzt haben, dass ihre zuverlässige Erinnerung ihn für alle Zeiten ausgeblendet hat. Nur nächtliches Gewittergrollen hinter Fenstern und seine ausgezogenen Schuhe vor der Tür sind ihr im Gedächtnis geblieben. An die traurige Zugfahrt dagegen erinnerte sie sich genau. Zu Hause stürzte gleich wieder die schwere alte Gegenwart auf sie ein, genau wie befürchtet, und Oberammergau erschien wie ein Traum. Zum Glück gab es Gegenbeweise: den kleinen Holzfuchs, das hölzerne Reh (inzwischen fehlt ihm ein halbes Bein), den winzigen Frosch, ein Tütchen Pit Brause, das Bild von König Ludwigs geschnitztem Himmelbett, in dem sie so gern einmal geschlafen hätte (hatten sie  tatsächlich gemeinsam auf Neuschwanstein in Ludwigs Schlafgemach gestanden?), Fotos, auf denen P. allein und mit ihr zu sehen war. Es gab ihn also wirklich. Oberammergau war nicht versunken. Und die Karte vom Jugendhaus, auf deren Rückseite in seiner unverkennbaren Handschrift mit den großen runden Unterlängen die vertrauten Goethe-Zeilen standen. Ob ihr damals das kühn ersetzte Wort überhaupt auffiel? Möglicherweise überlas sie es aus reiner Lyrikblindheit, weil sie das Gedicht bereits kannte. Oder hielt es gar für einen Flüchtigkeitsfehler. Was es natürlich keineswegs war. Sie hätte ihn besser kennen müssen. Nach einem halben Jahrhundert springt es ihr sofort ins Auge. „Über allen Gipfeln ist Ruh. Über den Wipfeln spürest du kaum einen Bauch.” Nicht mal den Hauch von einem Bauch.

“Did you actually mean to write Bauch?”  “Of course – bringing the great poem down to earth.” Of course. 

Fox (Nathan Anderson/unsplash)

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Rooms and Stories – Auf der Schwelle

Der graublaue Augenblick, den ich so deutlich vorhergespürt hatte, gehörte einem dunkelhaarigen jungen Engländer, der gleich bei meiner Ankunft im Flur des Europäischen Jugendhauses stand und belustigt zusah, wie ich meinen schweren roten Koffer die Eingangsstufen hochwuchtete. „Du hast zu viel mitgebracht“, meinte er, womit er eindeutig richtig lag, vor allem, wenn man an mein unsichtbares Gepäck dachte. Zu Irmis und meiner Enttäuschung gab es bisher nur Deutsche in unserer Gruppe, die im Laufe des Tages noch sehr viel größer und deutscher wurde, als ein ganzer Bus mit jungen Pfälzern aus Frankenthal eintraf, deren Dialekt für mich zunächst unverständlich war. „Babbelanebleed“ und „Gebabbele“ waren die ersten Lautfolgen, die ich eindeutig identifizieren konnte.

Der junge Engländer, mit dem ich im Laufe des Tages noch weitere Augenblicke austauschen sollte, war als „Haushelfer“ und „Programm-Mitarbeiter“ Teil des Betreuerteams, er war Student, stammte aus London und war erst vor wenigen Tagen in Oberammergau eingetroffen. Er sollte bis Ende August bleiben und wir waren seine erste Gruppe. Die Neuankömmlinge wurden auf die verschiedenen Schlafräume des Jugendhotels verteilt, Irmi und ich landeten in einem Vierbettzimmer, wieder in Etagenbetten, und Irmi, der es offenbar nichts ausmachte, unten zu schlafen, überließ mir auch diesmal großzügig den oberen Schlafplatz.

Wir verbrachten den Großteil des Tages mit den ausgelassenen Pfälzern und erforschten den hübschen Ort mit den bunt bemalten Häusern. Dass hier so auffallend viele Männer biblische Bärte trugen, lag sicher daran, dass die meisten bei den Oberammergauer Passionsspielen mitmachten. Die gab es schon seit 1633, lasen wir verwundert, damals hatten die Bewohner während der Pest gelobt, alle zehn Jahre „das Leiden und Sterben Christi“ aufzuführen, falls keine weiteren Bewohner mehr von der Seuche dahingerafft würden. Tatsächlich starb fortan wunderbarerweise niemand mehr an der Pest, woraufhin die Oberammergauer ihr Gelübde einhielten. Ganze fünf Stunden dauert eine Aufführung. Die dreistündige Pause mitgerechnet, muss man sogar acht Stunden einplanen. Zu meiner Erleichterung stand keine Aufführung auf unserem Programm. Die letzte war erst 1970 gewesen.

Nach dem anstrengenden Tag voller Stimmen und Eindrücke und der unbequem durchwachten Zugnacht kam ich mir so unwirklich vor, als wäre ich ohne Skript und Regieanweisung rein zufällig mitten in ein malerisches Filmset geraten. Ich wollte nur noch schlafen, wenn doch bloß meine innere Anspannung nicht gewesen wäre. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ich plötzlich wieder dem jungen Engländer mit den graublauen Augen gegenüberstand und endlich begriff, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte. Auch diesmal befanden wir uns im Flur. Ich war schlagartig wach und entschied, nicht wie geplant mit den anderen Mädchen nach oben zu gehen, sondern bei ihm zu bleiben. Nach und nach verschwanden sämtliche Jugendgäste in ihren Zimmern, bis zum Schluss nur noch wir beide übrig waren.

Gemeinsam gingen wir nach draußen und machten es uns auf den Haustürstufen bequem. Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinandersaßen und in dem später für uns typischen Sprachengemisch aus Deutsch und Englisch über unsere Länder, über Gott und die Welt, Bücher, Gedichte, Filme und Musik redeten, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. In der Erinnerung waren es etliche Stunden, in Wirklichkeit trennten wir uns wohl schon nach zweieinhalb Stunden gegen Mitternacht, und ich musste mich im Dunkeln in mein Bett tasten. Ich war glücklich, aufgeregt, gespannt, verwirrt und besorgt. Etwas überaus Wichtiges war geschehen, in der Rückschau erscheint es mir heute eindeutig und überklar. Wir hatten eine geheimnisvolle Schwelle gefunden, die vor allem den Lauf meines Lebens auf Dauer in andere Bahnen lenken würde, und wir hatten diese Schwelle gleich am ersten Abend gemeinsam und ohne zu zögern überschritten.

Danach ergab sich alles von selbst. Eine Weile noch gingen wir vertraut Hand in Hand weiter, dann trennten sich unsere Pfade. Doch ein feiner spinnwebzarter Faden ist bis heute geblieben, denn wir haben einander in all der Zeit nie ganz aus den Augen verloren.

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